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Geschlecht und Geschlechterrolle: Soziobiologische Aspekte | Geschlechtsidentität | bpb.de

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Geschlecht und Geschlechterrolle: Soziobiologische Aspekte

Eckart Voland Johannes Johow Eckart Voland Johannes Johow /

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Die Unterteilung in "männlich" und "weiblich" hat ihre Berechtigung, wie die Evolutionsgeschichte zeigt. Die Faktoren für die individuelle Entwicklung – "Anlagen" und "Umwelt" – lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten.

Einleitung

Die Natur in ihre gewachsenen Teile zerlegen!", fordert Sokrates mit seiner berühmten Metzger-Metapher in Platons Phaidros. Gemeint ist damit die begriffliche Zerlegung der Natur in verschiedene Komponenten, um auf diese Weise systemische Bestandteile herauszuarbeiten, welche dabei helfen, letztlich "das große Ganze" besser zu verstehen. Aus soziobiologischer Sicht sind die "gewachsenen Teile der Natur" evolutionäre Angepasstheiten, also physische und psychische Merkmale, die durch die Wirkweise der Darwinschen Prinzipien in langen Zeiträumen geformt wurden und den unbestechlichen Test der natürlichen Selektion bestanden haben. Bezogen auf unser Thema hieße das, eine Unterscheidung der Geschlechter zu versuchen, um trotz aller Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen vielleicht doch einige Unterschiede zu entdecken, die als Resultat biologischer Anpassungsprozesse bedeutsam sind. Aber ist eine mehr oder weniger strikte Unterscheidung der Geschlechter im Sinne "gewachsener Teile" der Natur wirklich gerechtfertigt? Angesichts sich rasch ändernder Auffassungen von Geschlechterrollen und einer beachtlichen kulturellen Vielfalt in der Interpretation des Geschlechtsunterschieds sind immer wieder Zweifel geäußert worden, ob Hinweise auf Biologie und Evolution überhaupt lehrreich und nützlich sein können, wenn es darum geht, gesellschaftliche Praxis in Bezug auf Geschlechterdifferenzen und Rollenzuweisungen zu diskutieren. Um zu zeigen, dass die Unterteilung in "weiblich" und "männlich" - fernab von der teilweise haarsträubenden populär-wissenschaftlichen "Aufbereitung" wissenschaftlicher Erkenntnisse - tatsächlich ihre Berechtigung hat, lohnt ein kurzer Exkurs in die Naturgeschichte der Sexualität.

Evolution von Frauen und Männern

Seit Darwin erstmals den Mechanismus der natürlichen Selektion zur Erklärung der biologischen Vielfalt vorschlug, lässt sich auch die menschliche Natur nicht mehr aus der gemeinsamen Geschichte aller Lebewesen ausklammern: Wir alle sind heute nur deshalb am Leben, weil unsere Vorfahren ausnahmslos, von den ersten Anfängen des Lebens bis heute, dazu in der Lage waren, lebensfähige Nachkommen zu hinterlassen oder - in darwinscher Terminologie ausgedrückt - weil sie reproduktiv erfolgreich waren. Wer diesbezüglich an den Unsicherheiten des Lebens gescheitert ist, konnte sein Erbmaterial nicht weitergeben und gehört deshalb auch nicht zu unseren Vorfahren. So erklärt es sich, dass alle Organismen, von einfachen Bakterien bis zu den sozial hochkomplexen Primaten (Menschen eingeschlossen), auf bestmögliche Reproduktion eingestellt sind. Freilich ist das, was im technischen Laborjargon der Biologen "Fitnessmaximierung" heißt, nicht Ergebnis eines irgendwie im Verborgenen wirkenden Triebs, sondern Fitnessmaximierung wird in der Regel erreicht, indem Menschen ihren psychischen Präferenzen nachgehen, Glück und Zufriedenheit zu mehren suchen und Unglück und Stress vermeiden. Die verhaltenssteuernde Maschinerie unseres Gehirns produziert biologisch nützliche Repräsentationen der Welt und Emotionen, die uns - Risiken meidend, Chancen nutzend - gleichsam einem Navigationssystem vergleichbar durchs Leben führen. Der Vollzug dessen führt im Mittel letztlich zu erfolgreicher Reproduktion. Wäre dem nicht so, hätten die einschlägigen Hirnfunktionen keinen Bestand.

Die Rolle der Sexualität in diesem struggle for life hat allerdings bereits Darwin vor ein großes Rätsel gestellt. Es handelt sich bei Fortpflanzung und Sexualität nämlich zunächst einmal um zwei völlig unterschiedliche Prozesse: Fortpflanzung meint die Vermehrung eines Organismus (die bei einigen Arten durchaus ohne Sex vonstatten gehen kann), während Sexualität dagegen den Austausch von genetischer Information zwischen verschiedenen Organismen bezeichnet (was wiederum, wie uns Bakterien lehren, nicht zu Vermehrung führen muss). Die für Soziobiologen und Soziobiologinnen spannende Frage ist nun, aus welchen Gründen sich diese beiden ursprünglich unabhängigen Prozesse evolutionär verkoppelt haben, so dass wir mit einigen interessanten Ausnahmen bei nahezu allen Wirbeltieren Vermehrung durch Sex vorfinden. Auf den ersten Blick scheint zweigeschlechtliche Fortpflanzung dem biologischen Imperativ der Fitnessmaximierung geradezu entgegenzulaufen, denn sexuelle Fortpflanzung ist teuer. Rein rechnerisch würde sich eine Vermehrung mittels Klonen oder Selbstbefruchtung gegenüber dem üblichen Modus der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung evolutionär durchsetzen: Bei einem Verzicht auf Sex würde nicht nur der teilweise beträchtliche Aufwand für Partnerwerbung und Paarung entfallen, sondern die Eltern wären auch genetisch jeweils nicht bloß zur Hälfte in ihrem Nachwuchs repräsentiert, sondern zu 100 Prozent. Es entfiele der Aufwand zur Herstellung des zweiten, nämlich des nicht-generativen männlichen Geschlechts. Die Hälfte des gesamten Reproduktionsaufwandes könnte eingespart werden. Wozu also sind Männchen und Männer gut, wozu die augenscheinliche Verschwendung?

Auf diese alles andere als triviale Frage gibt es eine Reihe von Antworten, die zu referieren hier der Platz fehlt. Alles deutet darauf hin, dass Organismen einen evolutionären Vorteil davontragen, wenn sie genetisch heterogenen Nachwuchs zeugen. Die evolutionäre Nützlichkeit des zweiten Geschlechts liegt demnach in seinem Beitrag zu genetischer Rekombination, die vor allem bei hoher pathogener Belastung und ökologischer Heterogenität von Vorteil ist. Festzuhalten bleibt, dass Sexualität trotz aller ihr inhärenten Kosten und Nachteile sich evolutionär bei der Weitergabe genetischer Information strategisch bewährt hat. Allerdings beantwortet dieser Hinweis noch nicht die Frage, warum wir es offensichtlich mit zwei Geschlechtern zu tun haben. Warum nicht mit einem, dreien oder gar 37?

Die Antwort hierauf liefert die Funktionslogik der disruptiven Selektion. Favorisiert werden zum einen Elternindividuen, die möglichst viele Keimzellen in die Befruchtungslotterie geben können. Allerdings hat Quantität ihren Preis: Die Qualität, also die Größe, Vitalität und energetische Aufladung der Keimzellen, bleibt eher bescheiden. Auf der anderen Seite sind Elternindividuen im Vorteil, die auf Qualität setzen, also ihre Keimzellen mit viel Baustoffen und Energie anreichern, sodass diese relativ lange überleben und im Fall der Befruchtung auch die Entwicklung des Keimes gut anstoßen können. Der Preis dieser Strategie wird in Form reduzierter Mengen bezahlt. Eine theoretisch dritte Möglichkeit, nämlich Keimzellen herzustellen, die ein bisschen besser ausgestattet sind, aber dafür nicht in der Menge wie Spermien produziert werden können, hat auf Dauer keine Chance. Sie verliert sowohl gegen die quantitative Strategie, die man konventionell "männlich nennt, und die qualitative, die man konventionell "weiblich" nennt. Ein drittes Geschlecht kann es deshalb nicht geben und 37 schon gar nicht.

Damit haben wir den Kern der Geschlechterdifferenz beschrieben. Den Anfang des "kleinen Unterschieds" macht also aus soziobiologischer Sicht nicht das aus, was man populär darunter zu verstehen glaubt, sondern der strategische Unterschied von Elternindividuen in ihrem reproduktiven Investment liegt in der evolutionären Initialzündung für eine Kaskade von ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungen, denen die Geschlechter ausgesetzt waren und immer noch sind und an deren Ende Geschlechterdifferenz auch anders in Erscheinung tritt als in bloß harmlosen Keimzellenunterschieden. Denn das Aufeinandertreffen der beiden Strategien "männlich" und "weiblich" generiert automatisch einen Markt mit einer Angebots- und Nachfragedynamik. Im Zuge der sexuellen Selektion werden jene Marktteilnehmer/Marktteilnehmerinnen belohnt, die sich unter Konkurrenzbedingungen auf diesem Markt - als Anbieter und/oder Nachfrager - gut behaupten können, und folglich werden jene Elternindividuen reproduktiv, und das heißt letztlich genetisch belohnt, die ihre Nachkommen gut für diesen Markt ausstatten. Reproduktives Investment beinhaltet deshalb mehr als die bloße Herstellung von Keimzellen.

Der Soziobiologe Robert Trivers argumentiert plausibel, dass das differenzielle reproduktive Investment der Geschlechter die Schlüsselvariable darstellt, um den evolutionären Mechanismus der sexuellen Selektion, das heißt der geschlechtsspezifischen Ausprägung bestimmter funktionaler Merkmale und Strategien, zu verstehen. Dabei ist wesentlich zu bedenken, dass der sexuelle Markt asymmetrisch ist. Die Strategie "männlich" ist im Überangebot (schließlich könnten Männer im Unterschied zu Frauen theoretisch vielstellige Nachkommenzahlen hinterlassen), die Strategie "weiblich" ist deshalb das knappe Gut, um das herum Konkurrenz entsteht. Dieser an sich sehr simple Sachverhalt sorgt für ein evolutionäres Wettrüsten, in dessen Verlauf es zur Ausdifferenzierung von männlichen versus weiblichen Lebensstrategien kommt. Während die weibliche Seite eher durch Risikoaversion, höheren Standards bezüglich der Partnerwahl und weniger variablen Entwicklungsverläufen gekennzeichnet ist, kann die männliche Seite eher mit Attributen wie sexueller Opportunismus, sexuelle und soziale Risikobereitschaft, breitere phänotypische Diversifikation auch in mentalen Aspekten des Lebensvollzugs beschrieben werden. Diese höhere Variabilität auf Seiten der Männer hängt wiederum auch damit zusammen, dass deren X-Chromosom lediglich in einer einzigen Ausführung vorliegt und die darauf liegenden Gene deshalb sozusagen "ohne Copilot fliegen".

Aber für Geschlechterunterschiede bei Menschen ist auch noch eine andere Besonderheit der Geschlechtschromosomen relevant: Das Y-Chromosom befindet sich die ganze Zeit über in männlichen Individuen, während das X-Chromosom rein statistisch die meiste Zeit in einem weiblichen Körper verbringt. Gäbe es für die Gene auf den Geschlechtschromosomen eine Möglichkeit, das Geschlechterverhältnis unter den Nachkommen zu manipulieren, sodass ausschließlich eines der Geschlechter produziert würde, könnten sie ihre eigene Reproduktion zulasten des jeweils anderen Geschlechtschromosoms enorm steigern. Dieser Umstand führt zu der paradox erscheinenden Situation, dass Gene auf den Geschlechtschromosomen davon profitieren, wenn sie die Reproduktion des jeweils anderen Geschlechtschromosoms unterdrücken. Laut einiger Fachleute ist das Y-Chromosom sogar nur deshalb das mit Abstand kleinste aller Chromosomen, weil es im übertragenen Sinne vor diesem evolutionären Konflikt mit dem sehr viel größeren X-Chromosom "weggelaufen" ist und sich seitdem in anderen Teilen des Genoms "versteckt". Es ist in der Tat gewöhnungsbedürftig, sich das Genom als ein Schlachtfeld für genetische Konflikte zwischen männlichen und weiblichen Genen (wie auch zwischen elterlichen und kindlichen Genen) vorzustellen, allerdings kann diese Sichtweise gerade für das Verständnis von Geschlechterbeziehungen sehr erhellend sein. Die evolutionären Konsequenzen des Konflikts zwischen den Geschlechtern, welche reproduktive Vorteile des einen Geschlechts zulasten des anderen produzieren, werden in der Fachsprache als "sexuell-antagonistische" Angepasstheiten bezeichnet. Solche Merkmale sind mittlerweile auch für den Menschen durch viele Studien belegt. All diese Befunde münden in die Schlussfolgerung, dass das Verhältnis der Geschlechter von Natur aus konfligiert und wegen der Wirkweise der sexuellen Selektion naturnotwendig auch konfligieren muss. Ein evolutionärer Friedensschluss im ewigen "Krieg der Geschlechter" ist aus soziobiologischer Sicht nicht denkbar. Was wir in den Lebensvollzügen der Organismen, einschließlich der Menschen, vorfinden, sind momentane und immer auch sehr brüchige Kompromisse eines profunden Interessenskonflikts, den keine Seite endgültig gewinnen kann. Welches der Geschlechter sich in diesem Konflikt jeweils durchsetzt, hängt von sehr vielen Rahmenbedingungen ab, von intrazellulären Prozessen bis hin zur Dynamik der Kulturgeschichte.

Die bis hier beschriebenen Zusammenhänge sollen erklären, weshalb zwei verschiedene Geschlechter existieren und zugleich andeuten, mit welchen weitreichenden sozialen Konsequenzen dies verbunden ist. Geschlechtsdifferenz ist so gesehen ein fester Bestandteil der menschlichen Natur. Kulturelle Kontexte spielen mit dieser Differenz und legen sie unterschiedlich aus, aber entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses konstruieren Kulturen nicht diese Differenz. Bevor wir auf die Bedeutung und Funktion von Kultur und Gesellschaft für die Ausgestaltung der Geschlechterdifferenz zurückkommen, wollen wir zunächst den Blick auf das einzelne Individuum richten. Wie werden Geschlecht und Geschlechtsidentität im Zuge der Individualentwicklung festgelegt, und wie kann es zu Abweichungen kommen?

Individualentwicklung von Geschlecht und Geschlechtsidentität

Wie allgemein bekannt, zeichnen sich Männer dadurch aus, dass sie zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen tragen und zwar sowohl ein X- als auch ein Y-Chromosom. Im Zuge der Keimzellenproduktion müssen diese Geschlechtschromosomen allerdings auf heranreifende Spermien aufgeteilt werden: Männer produzieren daher im Gegensatz zu Frauen Keimzellen, welche unterschiedliche Chromosomen enthalten, nämlich einerseits Spermien, die neben den sogenannten Autosomen lediglich das X-Chromosom enthalten und andererseits Spermien, welche lediglich das Y-Chromosom tragen. Welches Spermium die Chance erhält, sein jeweiliges Geschlechtschromosom an den Nachwuchs weiterzugeben, entscheidet sich bei der Befruchtung: Wird eine Eizelle durch ein X-Spermium befruchtet, trägt die Zygote anschließend den XX-Chromosomensatz, wohingegen ein Y-Spermium zu einem XY-Chromosomensatz führt.

Die chromosomale Ausstattung infolge der Befruchtung hat - in der Regel - weitreichende Folgen für die individuelle Geschlechtsentwicklung. Ein Y-chromosomales Gen namens "SRY" (sex-determining region Y) bildet nämlich den Beginn einer Kaskade von Entwicklungsprozessen, welche ab der siebten Schwangerschaftswoche zur Ausprägung von männlichen Merkmalen führt. Diese Kaskade führt über die Entwicklung von Hoden im Embryo zur Ausschüttung von Testosteron und der induzierten Ausbildung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmalen in der Pubertät bis hin zu geschlechtsspezifischen Verhaltenstendenzen, beispielsweise bezüglich Sexualität und Aggression. Dass das SRY-Gen eine derartige Schlüsselrolle spielt, haben beispielsweise Experimente an Mäusen gezeigt, bei denen XX-Weibchen durch Einbringen dieses Gens zu einem männlichen Erscheinungsbild umgewandelt werden konnten.

Allerdings gilt genauso der umgekehrte Fall: Fehlt aufgrund einer Mutation oder Beschädigung ein funktionales SRY-Gen auf dem Y-Chromosom, kommt es trotz eines vorhandenen Y-Chromosoms nicht zur Entwicklung von Hoden und der nachgeschalteten Ausdifferenzierung von Geschlechtsmerkmalen. So entwickeln sich die Betroffenen des sogenannten Swyer-Syndroms zunächst trotz eines "männlichen" Chromosomensatzes weiblich, so dass sie nach der Geburt äußerlich nicht von Mädchen zu unterscheiden sind. Erst mit Eintreten der Pubertät werden diese Personen auffällig, da eine Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale unterbleibt und es auch nicht zum Einsetzen der Regelblutung kommt.

Solche und andere Fälle einer abweichenden Geschlechtsentwicklung finden sich innerhalb der menschlichen Bevölkerung mit zwei Prozent aller Geburten nur relativ selten. Noch seltener werden Kinder geboren, welche auch im engeren Sinne als intersexuell angesehen werden müssen, weil sie sich rein äußerlich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Sie machen unter 0,02 Prozent aller Geburten aus. Aber auch abgesehen von diesen relativ seltenen "Besonderheiten der sexuellen Entwicklung" wird die Ausprägung von physiologischen und psychischen Geschlechtsmerkmalen auch bei einer "nicht-besonderen" sexuellen Entwicklung unterschiedlich gesteuert. Dies liegt daran, dass hormonelle Einflüsse während Embryonalentwicklung, Kindheit und Pubertät unterschiedliche Genvarianten von Frauen oder Männern langfristig prägen und beeinflussen. So kann beispielsweise der pränatale Testosteronspiegel Auswirkungen auf die spätere Entwicklung der Geschlechtsidentität haben - also darauf, wie sich Mädchen und Jungen in bestimmte soziale Geschlechterrollen einnischen bis hin zur späteren sexuellen Orientierung. In diesem Zusammenhang stehen auch bestimmte Weichmacher der Plastikindustrie in der Diskussion, welche physiologisch als Antagonisten zu Androgenen wirken. So haben mehrere Studien festgestellt, dass solche Substanzen (endocrine disruptors) männliche Amphibien und Nager im Tierversuch "verweiblichen". Inwieweit diese in Haushaltsartikeln (und mittlerweile auch in der Umwelt) recht verbreiteten Stoffe auch für ähnliche Effekte bei Menschen relevant sein könnten, wird zurzeit kontrovers diskutiert.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein äußerst komplexer Entwicklungspfad vom Geschlechtschromosom zur Geschlechtsidentität verläuft. Geschlecht ist deshalb gar nicht so eine eindeutige Kategorie, wie man landläufig annimmt. Man kann und muss deshalb unterscheiden, ob mit dem "biologischen Geschlecht" eigentlich das "chromosomale Geschlecht", das "hormonelle Geschlecht" oder das "Hebammen-Geschlecht", welches sich an den sichtbaren Geschlechtsmerkmalen orientiert, gemeint ist.

Biologische Varianz und Rolle der Umwelt

Die Vielfalt der Verhaltensstrategien der beiden Geschlechter hat zwei, in ihrer Bedeutung allerdings sehr unterschiedliche Quellen. Einerseits können individuelle Unterschiede auf genetische Polymorphismen, das heißt auf Unterschiede in den genetischen Anlagen von Männern und Frauen zurückgehen, die beispielsweise hormonelle Mechanismen beeinflussen und relativ unsensibel auf Umgebungsvariation reagieren. Andererseits hat die Umwelt einen bedeutenden Einfluss auf die individuelle Entwicklung dieser Anlagen. Bei kaum einem anderen Thema wird die Anlage-Umwelt-Debatte in der breiteren Öffentlichkeit so leidenschaftlich wie ergebnislos geführt wie im Bereich von sex und gender, und dies, obwohl die Debatte im Kern theoretisch weitgehend gelöst ist. Wenn dennoch "Kulturisten" und "Biologisten" unversöhnlich aufeinandertreffen, dann deshalb, weil nicht gut verstanden wird, dass Anlage und Umwelt nicht additiv den Phänotyp hervorbringen, sondern synergetisch. Damit ist gemeint, dass sich die in den Genen festgeschriebenen Baupläne für die Entwicklung der Phänotypen mehr oder weniger konditional nach Maßgabe der Umwelt realisieren und im Bereich von Psyche und Verhalten Strategien hervorbringen, die ihrerseits konditional auf Umgebungsvariation reagieren. In seinen Folgen für das menschliche Miteinander nicht zu überschätzen ist allerdings der häufig übersehene Umstand, dass in den biologischen Informationsträgern die "Reaktionsnorm" des Organismus auf je verschiedene Umweltfaktoren festgeschrieben ist. Deshalb kann die Umwelt den sich entwickelnden Organismus auch nicht gleichsam "nach eigenen Regeln" konstruieren. "Das letzte Wort" in dieser Angelegenheit hat die Erbinformation, weshalb Verhaltensgenetiker folgerichtig von den "Genen der Umwelt" sprechen.

Soziobiologie ist eine Milieutheorie menschlichen Verhaltens, allerdings eine auf genetischer Basis, denn die für die Entwicklung eines Organismus wichtige Umwelt ist notwendigerweise Bestandteil des evolutionären Erbes. Im Verlauf der Stammesgeschichte wurde gleichsam getestet, welche Eigenschaften der Umwelt nützliche Information für eine erfolgreiche Ontogenese beinhalten und welche nicht. Die spezifischen Umweltbeziehungen eines Organismus, also die Frage, von welchen Eigenschaften der Umwelt er sich in seiner ontogenetischen Entwicklung in welcher spezifischen Weise beeinflussen lässt, ist so gesehen genauso Produkt des evolutionären Erbes wie die Gene selbst. Fazit: Die Faktoren "Anlagen" und "Umwelt" lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten. Letztlich sind sie funktional identisch, auch wenn dies zu denken ein wenig der Intuition entgegenlaufen dürfte.

Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Beide Geschlechter reagieren eifersüchtig, wenn sie den Verlust reproduktiver Ressourcen befürchten müssen. Beließe man es bei dieser Feststellung, bliebe Geschlecht als erklärende Variable in diesem Zusammenhang überflüssig. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass - soziobiologisch gut nachvollziehbar - die psychische Tiefenstruktur von Eifersucht sich zwischen Männern und Frauen im Mittel unterscheidet. Männer reagieren besonders eifersüchtig, wenn ihre Partnerinnen leidenschaftlichen Sex außerhalb der Beziehung pflegen. Für Frauen hingegen ist die Angst vor der emotionalen Abwendung des Partners im Mittel der bedeutendere Anlass, eifersüchtig zu reagieren. Der evolutionäre Grund für diese Differenz liegt in der strategischen Rolle des Partners/der Partnerin für die eigene Reproduktion. Eifersucht der Männer ist evolutionär gewachsener Reflex auf das Problem der Vaterschaftsunsicherheit, während Eifersucht der Frauen evolutionär gewachsener Reflex auf Unterstützungsunsicherheit und Versorgungsfluktuation ist, nicht nur in historischen Milieus wesentlichen Hindernissen für Fitnessmaximierung. An diesem Beispiel wird auch deutlich, was Robert Wright gemeint hat, wenn er formuliert: "Die männliche Psyche ist das den Frauen von der Evolution ausgestellte Führungszeugnis über ihr Verhalten in der stammesgeschichtlichen Vergangenheit. Und umgekehrt."

Fazit

Wenn man entgegen der sokratischen Empfehlung versäumt, die "Natur in ihre gewachsenen Teile" zu zerlegen, kann nicht überraschen, dass auch groß angelegte Metastudien insgesamt nur wenige Belege für Geschlechtsunterschiede im Verhalten liefern. Dann scheint auch die Interpretation gerechtfertigt, dass Biologie und Evolution nicht oder nur kaum in die soziale Praxis einer aufgeklärten Moderne hineinstrahlen. Wenn man jedoch die durch sexuelle Selektion geformten Angepasstheiten in Psyche und Verhalten studiert, also die "gewachsenen Teile" identifiziert, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Dann lassen sich sehr wohl Unterschiede - zumindest in den zentralen Tendenzen der Geschlechter - statistisch robust beschreiben. Die Herausforderung der Wissenschaft besteht nun darin, die "gewachsenen Teile", also die aus der sexuellen Selektion hervorgegangenen funktionalen Angepasstheiten zu identifizieren, was im Wesentlichen bedeutet, die funktionalen Gründe und Konsequenzen von Sexualität noch besser als bisher zu verstehen, um letztlich den Schatten unserer evolutionären Vergangenheit gerade auch in einer um Emanzipation bemühten Moderne auszuleuchten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Harald Euler, The Psychology of Families, in: Ulrich J. Frey/Charlotte Störmer/Kai P. Willführ (eds.), Homo novus. A human without illusions, Berlin-Heidelberg 2010.

  2. Vgl. auch Lise Eliot, The Trouble with Sex Differences, in: Neuron, 72 (2011), S. 895-898.

  3. Vgl. Charles R. Darwin, On the two forms, or dimorphic condition, in the species of Primula, and on their remarkable sexual relations, in: Journal of the Proceedings of the Linnean Society of London (Botany), 6 (1862), S. 77-96.

  4. Vgl. ausführlich Johannes Johow/Eckart Voland, Das geteilte Leben. Evolutionäre Gründe der Geschlechterdifferenz, in: Helmut Fink/Rainer Rosenzweig (Hrsg.), Mann, Frau, Gehirn. Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft, Paderborn 2011.

  5. Vgl. Robert Trivers, Parental investment and sexual selection, in: Bernard Campell (ed.), Sexual selection and the descent of man (1871-1971), Chicago 1972.

  6. Vgl. S. Matt Ridley, Alphabet des Lebens. Die Geschichte des menschlichen Genoms, München 1999.

  7. Vgl. ebd., Kapitel "X und Y Konflikt".

  8. Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Berlin-Heidelberg 2006.

  9. Vgl. u.a. Gregory Gorelik/Todd K. Shackelford, Human sexual conflict from molecules to culture, in: Evolutionary Psychology, 9 (2011) 4, S. 564-587.

  10. Vgl. Peter Koopman et al., Male development of chromosomally female mice transgenic for Sry, in: Nature, 351 (1991), S. 117-121.

  11. Vgl. Ralf J. Jäger et al., A human XY female with a frame shift mutation in the candidate testis-determining gene SRY, in: Nature, 348 (1990), S. 452-454.

  12. Vgl. Melanie Blackless et al., How Sexually Dimorphic Are We? Review and Synthesis, in: American Journal ofHuman Biology, 12 (2000), S. 151-166.

  13. Vgl. Leonart Sax, How common is intersex? A reply to Fausto-Sterling, in: The Journal of Sex Research, 39 (2002) 3, S. 174-178.

  14. Vgl. Melissa Hines, Gender Development and the Human Brain, in: Annual Review of Neuroscience, 34 (2011), S. 69-88.

  15. Vgl. Eldin Jaarevic et al., Disruption of adult expression of sexually selected traits by developmental exposure to bisphenol A, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 108 (2011) 28, S. 11715-11720.

  16. Vgl. u.a. Shanna H. Swan et al., Prenatal phthalate exposure and reduced masculine play in boys, in: International Journal of Andrology, 33 (2010), S. 259-269.

  17. Vgl. u.a. Adolf Heschl, Das intelligente Genom, Berlin 1998.

  18. Vgl. Hermann Faller, Verhaltensgenetik. Was bringt die Genetik für das Verständnis der Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften und psychischen Störungen?, in: Psychotherapeut, 48 (2003), S. 80-92.

  19. Vgl. Harald Euler/Sabine Hoier, Die evolutionäre Psychologie von Anlage und Umwelt, in: Franz J. Neyer/Frank M. Spinath (Hrsg.), Anlage und Umwelt, Stuttgart 2008.

  20. Vgl. David M. Buss/Martie Haselton, The evolution of jealousy, in: Trends in Cognitive Science, 9 (2005), S. 506 -507.

  21. Robert Wright, Diesseits von Gut und Böse. Die biologischen Grundlagen unserer Ethik, München 1996, S. 118.

  22. Vgl. Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Natur der Geschlechtsunterschiede, Stuttgart 20114; Sarah B. Hrdy, Mutter Natur, Berlin 2000.

Dr. rer. nat., geb. 1949; Professor für Philosophie der Biowissenschaften, Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft (s.o.). E-Mail Link: eckart.voland@phil.uni-giessen.de

Dipl.-Biol., geb. 1981; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft, Universität Gießen, Rathenaustraße 8, 35394 Gießen. E-Mail Link: johannes.johow@phil.uni-giessen.de