Einleitung
Am 22. Oktober 2022 legte Interner Link: Giorgia Meloni, die Vorsitzende der nationalistischen und konservativen „postfaschistischen“ Partei Fratelli d’Italia, ihren Amtseid als Ministerpräsidentin ab. Sie bildete daraufhin eine Regierungskoalition, zu der neben ihrer Partei (26 Prozent) auch die fremdenfeindliche Lega (8,8 Prozent) und die liberalkonservative Forza Italia (8,1 Prozent) gehören. Obwohl erstmals eine Partei der extremen Rechten die italienische Regierung anführt, kann der Wahlsieg von Meloni im Jahr 2022 nur bedingt als eine Zäsur in Italien bewertet werden.
Die in Italien seit der globalen Interner Link: Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 anhaltenden Interner Link: wirtschaftlichen Probleme, das Gefühl von den europäischen Partnern in Bezug auf unkontrollierte Einwanderung und andere Krisen (Staatsschulden, Corona) allein gelassen zu werden, haben spätestens seit 2010 den politischen Diskurs (nicht nur in Italien) dominiert und die Wählerschaft zunehmend nach rechts orientiert (Mudde 2021). Diese Dynamik spiegelt sich in der ständigen Verschiebung innerhalb des seit 1994 bestehenden und meist erfolgreichen Mitte-Rechts-Lagers wider. Zwischen 1994 und 2011 prägte Silvio Berlusconi in vier Amtszeiten bzw. fast zehn Jahren als Ministerpräsident mit seinem populistischen Führungsstil das Land maßgeblich. Ab 2013 wurde diese Rolle – nun stärker rechtspopulistisch gefärbt – zunehmend von Matteo Salvini (Lega) beansprucht, bis 2022 Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d’Italia mit deutlichem Abstand die Wahl gewannen.
Melonis Erfolg kann einerseits als erneute Quittung der Wähler für die Unfähigkeit der übrigen Parteien (auch der Mitte-Rechts-Koalition) interpretiert werden, zentrale Fragen der Alltagspolitik zu lösen oder gar zu adressieren. Diese Haltung zeigte sich bereits Interner Link: 2013, als die Proteststimmen die technokratische und populistische Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) mit 25,6 Prozent belohnten, und Interner Link: 2018, als die Lega mit ihren konservativen, identitären und xenophoben Positionen über 17 Prozent erringen konnte und auf die Regierung von Giuseppe Conte (M5S) gewichtig einwirken konnte. Der Erfolg von Fratelli d’Italia 2022 ist jedoch auch ein Ausdruck der zunehmenden Identifikation der Wählerschaft seit den frühen 2000er-Jahren mit konservativen und traditionalistischen Werten, sowie mit Formen von Ethnonationalismus, antiliberalem Katholizismus, Antiglobalisierung und einem gewissen Antikapitalismus. Diese Tendenzen haben spätestens seit 2018 die Entscheidungen vieler Wähler beeinflusst. Jedoch konnte Meloni nicht nur die traditionelle Parteibasis ansprechen, sondern auch jene konservative Wechselwähler:innen, die sich von Melonis Bekenntnissen zur Verfassung, zur Interner Link: NATO und ihrer (wenn auch teilweise zurückhaltenden) Unterstützung der Ukraine beruhigen und gewinnen ließen. Somit wurde es für rund zwölf Millionen Italiener:innen kein Tabu mehr, die extreme Rechte nicht nur als regierungsfähig zu betrachten, sondern sie an die Spitze der Exekutive zu wählen. Zudem trugen Melonis Wahlkampfstrategie sowie ihr darauffolgender maßvoller Regierungsstil dazu bei, bis zur Interner Link: Europawahl 2024 weiterhin Konsens und eine breite Wählerschaft zu mobilisieren, die ihr mit Externer Link: 28,8 Prozent ein höheres Ergebnis als zwei Jahre zuvor bescherte. (Livi/Jansen 2023)
Historische Entwicklung
Um die Relativität des jüngsten Erfolgs der extremen Rechten in Italien als Zäsur für die nationale und europäische Politik besser zu verstehen, ist es wichtig die historische Perspektive miteinzubeziehen. Denn dadurch wird deutlich, dass die Präsenz der extremen Rechten im italienischen politischen System ein vielschichtiges Phänomen darstellt, das nicht nur von sozioökonomischen und kulturellen Faktoren der letzten 30 Jahre geprägt wurde, sondern tief in der turbulenten Geschichte des Landes verwurzelt ist.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Zusammenbruch des Faschismus in Italien 1945 und der Gründung der Italienischen Republik im Jahr 1946, war die politische Landschaft Italiens von einer ständigen Präsenz der extremen Rechten geprägt, vor allem durch die neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano (MSI), die gegründet wurde, um die „Ideale“ des Faschismus zu bewahren und weiterzuführen. Der MSI positionierte sich sofort nach Gründung der Republik als eine Form des widerständigen Zusammenschlusses gegen die offizielle antifaschistische Legitimation der neuen republikanischen Demokratie.
Schlüsselfigur dabei war Giorgio Almirante, der in unterschiedlichen Phasen und bis zu seinem Tod 1988 das MSI mit einer klaren neofaschistischen Linie führte. Unter seiner Führung etablierte sich das MSI rechts der konservativen Mitte und war während der gesamten „Ersten Republik“ (1946-1994) kontinuierlich bei rund 5 Prozent im Parlament vertreten – wobei das MSI in seinen Hochburgen in Süd- und Mittelitalien sogar deutlich höhere Ergebnisse erzielen konnte. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr Externer Link: 1979 wurde das MSI gar stärkste rechtsextreme Kraft (Orsina 2008).
Als antikommunistische Kraft (zusammen und in Konkurrenz mit der über Jahrzehnte stärksten Partei der Christdemokraten DC, Democrazia Cristiana) spielte der MSI zudem eine bedeutende Rolle als Katalysator für die Stimmung und das politische Bewusstsein eines großen Teils der italienischen Wähler (Breschi 2018).
Dabei spielte die komplexe und nostalgische Beziehung eines Teils der Italiener:innen zum historischen Faschismus eine zentrale Rolle (Sorgonà 2024). Der sogenannte Nostalgismo der italienischen Rechten wurde bis in die 1980er-Jahre im Gründungsmotto der MSI "Weder verleugnen noch wiederherstellen" zusammengefasst und interpretiert. Wenn dabei eine "Wiederherstellung" des Regimes selbstverständlich unmöglich war, wurde aber das "Nicht verleugnen" (der faschistischen Vergangenheit) zu einem zentralen Element der Identitätsbildung deklariert. Viel mehr als durch die Erfahrungen der 20-jährigen Interner Link: Mussolini-Herrschaft fand der Nostalgismo des italienischen Neofaschismus seine Wurzel in der Erinnerung an die faschistischen Ursprünge der frühen 1920er-Jahren und insbesondere in den Ereignissen der kurzlebigen Repubblica Sociale Italiana zwischen 1943 und 1945 (Parlato 2008) – eine nach der militärischen Niederlage Italiens gegen die Alliierten in Norditalien installierte Marionettenregierung unter der militärischen Protektion des Deutschen Reichs.
Somit trug das MSI, auch wenn es selbst nie in Regierungsverantwortung war, über die Jahrzehnte zur Herausbildung einer gleichsam konservativen, antikommunistischen, unzufriedenen und zum Teil nostalgischen „schweigenden Mehrheit“ bei (Campi 1996, Ambrosi 2024). Während die einen mit der jahrzehntelang stärksten Partei Democrazia Cristiana ihre (vorläufige) politische Heimat fanden, hegten Anhänger des MSI und Faschismus-Nostalgiker das Gefühl, die von der Demokratie verratenen Ideale der Nation zu bewahren sowie die Notwendigkeit eines „Riscatto“ – einer Wiedergutmachung – am Leben zu erhalten, um das Land vor der drohenden Demokratie und dem sowjetischen Sozialismus zu retten.
Nach Almirantes Tod übernahm 1991 Gianfranco Fini die Führung des MSI. Er leitete eine umfassende Modernisierung der Partei ein. Mit der Umbenennung des MSI in Alleanza Nazionale (AN) 1994 versuchte Fini, die Partei von ihrer neofaschistischen Vergangenheit zu lösen und sie als konservative Kraft aus der politischen Isolation zu führen. Zudem legte er großen Wert auf die Definition einer demokratienahen und modernen Rechten, die sich vom Interner Link: Korporatismus distanziert und nicht mehr dem liberalen Kapitalismus entgegensteht. Zugleich setzte er sich kontinuierlich für den Erhalt der italienischen Identität sowie ihrer kulturellen und religiösen Traditionen ein. Diese Wende beinhaltete aber, vor allem für die Parteibasis, noch keine Überwindung des Mythos des Faschismus, sondern lediglich den Versuch, eine Verbindung mit einem national-konservativen Wertesystem herzustellen (Ignazi, 1994, 2003). Durch seine neue politische Strategie und dem Interner Link: Ende des jahrzehntelang etablierten Parteisystems der Nachkriegszeit (Almagisti/Lanzalaco/Verzichelli 2014) – welches sich im Übergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren von einem blockierten Parteiensystem hin zu einem zweipoligen hoch fragmentierten Parteiensystem entwickelte (Livi 2018) –, gelang es Gianfranco Fini einen beeindruckenden Erfolg zu erzielen. Bei der Parlamentswahl im März 1994 mobilisierte er sowohl die alte Parteibasis als auch Wähler der inzwischen aufgelösten Democrazia Cristiana, wodurch AN mit 13,5 Prozent der Stimmen und 109 Sitzen in der Abgeordnetenkammer einen bedeutenden Durchbruch erzielen konnte. Dadurch gelang es der extremen Rechten erstmals seit 1945, mit fünf Ministern in die erste Regierung von Silvio Berlusconi einzuziehen. Dieser Erfolg markierte sicherlich einen Wendepunkt in der politischen Landschaft und ermöglichte der Rechten eine starke Präsenz in den politischen Entscheidungsprozessen des Landes.
Die Entwicklung der extremen Rechten in Italien ist eng mit der sogenannten „Ära Berlusconi“ (1994-2011) verknüpft. In dieser Zeit gelang es Berlusconi, durch einen starken Antikommunismus konservative Strömungen in der italienischen Gesellschaft für sein Koalitionsprojekt zu mobilisieren, die zuvor politisch kaum sichtbar waren (Livi 2016). Auch Gianfranco Finis postfaschistisches Projekt wurde durch diese Allianz von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen, insbesondere aufgrund seiner klaren atlantischen Ausrichtung in der Außenpolitik und seiner neo-gaullistischen Orientierung (deutlich wirtschaftsliberaler als der französische Interner Link: Gaullismus) in der europäischen politischen Landschaft. Nach 15 Jahren politischer Erfolge in der Mitte-Rechts-Koalition fusionierten 2009 die Alleanza Nazionale und Berlusconis Forza Italia (neben weiteren kleineren Parteien) zur Partei Il Popolo della Libertà. Schon ein Jahr später brach Gianfranco Fini jedoch mit Berlusconi und gründete die Partei Futuro e Libertà per l’Italia. Diese wurde dann allerdings zwischen der Übermacht Berlusconis als Anführer seines Regierungsbündnisses und der Neupositionierung der Lega zerrieben. Insbesondere unter Matteo Salvini profitierte die Lega am meisten von der politischen Krise während Berlusconis letzter Amtszeit. Salvini arbeitete seit 2013 daran, die Partei von einer föderalistischen und ursprünglich antifaschistischen regionalen Bewegung zu einer zunehmend rechtspopulistischen und xenophoben nationalen Kraft zu transformieren. Durch eine aggressive Kampagne gegen Einwanderung und für nationale Souveränität sowie eine strategische Allianz mit der radikalen, neofaschistischen außerparlamentarischen Gruppierung Interner Link: „CasaPound“ gewann er die Stimmen einer breiten rechtsgerichtete Wählerschaft und verdrängte 2018 die Forza Italia als stärkste Kraft innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers. Anschließend bildeten Lega und M5S eine Regierungskoalition, die aber nur vom Juni 2018 bis September 2019 Bestand haben sollte.
Die Wählerschaft des Mitte-Rechts-Lagers orientierte sich nach einer turbulenten Regierungserfahrung mit Lega und M5S immer mehr in Richtung Giorgia Melonis Fratelli d'Italia. Diese wurde 2012 aus den Überresten der Alleanza Nazionale gegründet und konnte ab 2018 unter Melonis Führung ihre Position im italienischen politischen Spektrum festigen. Besonders bei der Interner Link: Europawahl 2019 gelang es Meloni eine signifikante Wählerschaft zu mobilisieren (Externer Link: 6,5 Prozent) – ein Erfolg, der ihr den Weg zum historischen Erfolg 2022 ebnen sollte. Im Wahlkampf 2022 bemühte sie sich, ihre Partei als Vertreterin einer neuen Generation von Nationalkonservativen zu präsentieren, die sich von den neofaschistischen Wurzeln des MSI und den postfaschistischen Einflüssen der Alleanza Nazionale weiterentwickeln will. Nach ihrem Wahlsieg betonte sie als Ministerpräsidentin, dass in ihrer Partei keine nostalgischen Anhänger des Faschismus geduldet würden, und beschrieb Fratelli d'Italia als nationalkonservativ und „afaschistisch“ (de Robertis 2023). Kritiker bemängeln jedoch, dass sie sich nicht eindeutig von der faschistischen Ideologie distanziere.
Definitionen und Differenzierungen der extremen Rechten
Von den neofaschistischen Anfängen des MSI, über die Transformation zur Alleanza Nazionale bis hin zu den modernen populistischen Strategien der Fratelli d'Italia und der Lega bleibt die extreme Rechte, zumindest die im Parlament vertretenen Gruppen, ein wesentlicher Bestandteil des politischen Spektrums in Italien. Allerdings hat sich seit den 1970er Jahren innerhalb der italienischen Rechten eine Differenzierung entwickelt, die es erschwert, eine klare und eindeutige Definition der extremen Rechten zu formulieren. Es ist daher notwendig sich zu fragen, welche Definition in der Lage ist, auch die verschiedenen neo- und postfaschistischen, konservativen, nationalistischen oder identitären Facetten dieses Phänomens sowohl zu umfassen als auch zu differenzieren. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit es notwendig ist, zwischen „extrem“ und „radikal“ zu unterscheiden (Thieme 2019).
Bis in die 1990er Jahre hinein wurden in Italien Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus und sogar Rechtsterrorismus in Politik, Medien und Politologie oft nicht klar unterschieden und stattdessen in eine einzige neofaschistische Kategorie zusammengefasst. Dies lag hauptsächlich daran, dass dieses politische Lager fast vollständig vom MSI dominiert wurde, das weitgehend mit dieser Kategorie gleichgesetzt wurde. Erst in den 1990er Jahren entwickelten sich neue analytische Ansätze, die vorschlugen, die extreme Rechte nicht nur anhand faschistischer Merkmale zu definieren. Parteien und Gruppierungen wie die Nuova Destra in den späten 1970er Jahren, die Alleanza Nazionale in den 2000er Jahren und aktuell die Fratelli d'Italia haben beispielsweise Strategien entwickelt, um ihre offene Bezugnahme auf den Faschismus zu minimieren und so einer Stigmatisierung durch die öffentliche Meinung entgegenzuwirken. Bei anderen, wie der Lega unter Matteo Salvini, lässt sich kein direkter Bezug zu Faschismus oder Neofaschismus herstellen. Daher sollte „extreme Rechte“ eher als Sammelbegriff verwendet werden, um zumindest einige Formen der italienischen Rechten zu definieren.
Eine weitere Differenzierung innerhalb der extremen Rechten ist zwischen einer extremen, aber dennoch parlamentarischen Rechten und einer radikalen, außerparlamentarischen Rechten möglich und notwendig. Vor der Umwandlung in Alleanza Nazionale nahm die erste Gruppe (im Großen und Ganzen der MSI) eine antisystemische Position ein, lehnte jedoch (zumindest offiziell) illegale politische Methoden ab und entwickelte im Laufe ihrer Geschichte eine zunehmend antipolitische Haltung, die später von anderen politischen Akteuren wie der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) übernommen wurde. Die außerparlamentarische extreme Rechte der Ersten Republik hingegen akzeptierte und praktizierte Gewalt und illegale Mittel als legitime Instrumente des politischen Kampfes. Gruppen wie Ordine Nuovo, Avanguardia Nazionale und Nuclei Armati Rivoluzionari lehnten das demokratische System so weit ab, dass sie die Grundlagen von Demokratie und Freiheit durch Terrorakte (Bombenanschlag auf der Piazza Fontana, 12.12.1969; Attentat auf den Italicus Express 4.8.1974; Anschlag von Bologna, 2.8.1980) und subversive Aktionen gefährdeten.
Zusammenfassend zeigt auch eine nur oberflächlich skizzierte Definition der extremen Rechten sowie eine einfache Differenzierung zwischen „radikal“ und „extrem“, dass dieser Begriff im italienischen politischen Kontext (vor allem aktuell) weniger normativ und eher als Sammelbezeichnung für verschiedene politische Organisationsformen genutzt werden kann. Diese umfassen sowohl Parteien mit neofaschistischen Wurzeln und klaren Bezügen zum Faschismus (AN und FdI) als auch modernere populistische oder nationalistische Elemente (Lega und zum Teil das M5S um das Wahljahr 2018) sowie Gruppen, die offen Gewalt und Radikalität befürworten, wie etwa Forza Nuova und CasaPound.
Um das Phänomen im italienischen Kontext besser zu verstehen, ist es daher notwendig, zwischen einer „extremen Rechten“ als adjektiviertem Sammelbegriff (neofaschistisch, nationalistisch, radikal, terroristisch, subversiv etc.) und einer „Extremen Rechten“ als situativer Kategorie im politisch-ideologischen Rechts-Links-Kontinuum des italienischen politischen Systems (z.B. MSI, AN, FdI, Lega, CasaPound etc.) zu unterscheiden. Dies lässt sich wie folgt graphisch darstellen (Livi 2023):
Politische Kultur und Wählerschaft
So wie die Langlebigkeit und die wechselnden Erfolge der extremen Rechte in der republikanischen Zeit Italiens, so wird auch die Existenz einer rechten politischen Kultur in der italienischen Gesellschaft sowohl von einer Reihe historischer und sozio-ökonomischen Faktoren als auch von Kontinuitäten und Veränderungen geprägt. In den 1980er Jahren z. B. spielten eher wirtschaftspolitische Fragen wie die hohe Inflation und die steigende Staatsverschuldung eine Rolle in der Verschiebung der öffentlichen Meinung nach rechts. Anfangs der 1990er Jahren waren es die antiparteiischen und antipolitischen Gefühle der Gesellschaft, die die Türe für die Rechte (mit und über Berlusconi hinaus) in die Regierungen der Zweiten Republik (1994 bis heute) öffneten.
Der schleichende Legitimationsverlust der Parteien als politische Organisationsform ist seit den letzten 30 Jahren eine der wichtigsten Konstanten der italienischen Politik. Dieser Verlust hat zunehmend antielitäre, konservative, antisystemische und populistische Züge angenommen und Bewegungen wie Forza Italia, Lega, Movimento 5 Stelle, Alleanza Nazionale und Fratelli d’Italia hervorgebracht und gestärkt. Diese Verschiebung nach rechts zeigt sich auch in der wachsenden Volatilität der Wählerschaft seit 1994: Damals änderten 40 Prozent der Wähler:innen ihre Parteipräferenz zugunsten von Forza Italia und Alleanza Nazionale, 2013 waren es 37 Prozent, die sich für den Movimento 5 Stelle entschieden, und 2018 wechselten 27 Prozent zur Lega. 2022 lag dieser Anteil wieder bei 32 Prozent. Somit war der Erfolg von Fratelli d'Italia in den Jahren 2022 und 2024, wie bereits erwähnt, keine komplette Überraschung.
Gleichzeitig mit dem Ende der traditionellen politischen Parteien der Ersten Republik Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich in der italienischen Gesellschaft eine Welle des politischen Revisionismus. Mit ihm ging ein allmähliches Schwinden der (zuvor auch eher schwachen) Ablehnung des Faschismus vor allem in der urbanen Mittelklasse und eine schrittweise „Normalisierung“ der faschistischen Vergangenheit einher. So wurde es beispielsweise zunehmend salonfähig, Sympathien für den Faschismus zu zeigen oder offen xenophoben Argumentationen zuzustimmen. (Livi 2018, Rovati/Biolcati/Segatti 2020).
Ein weiterer, aber nicht weniger wichtiger Punkt ist der Umstand, dass die italienische Gesellschaft trotz der jahrzehntelangen Präsenz der größten kommunistischen Partei im Westen (die 1976 zum Beispiel 34,4 Prozent der Stimmen erhielt) grundsätzlich immer antikommunistisch, prokapitalistisch und katholisch geprägt war. Sie wurde und wird von konservativen Vorstellungen über Familie, Geschlechterrollen und soziale Ordnung bestimmt. Diese konservativen Wurzeln, verbunden mit einer mangelhaften bis nicht existenten Aufarbeitung ihrer inneren Verbindung zum historischen Faschismus, haben während der republikanischen Zeit dazu beigetragen, dass sich die italienische Gesellschaft zwar zur Demokratie entwickelt hat, aber bis heute nicht vollständig von einer gewissen Nostalgie für die „Vergangenheit“ lösen konnte. Dadurch entstand immer wieder Raum für eine Verbindung zwischen den vermeintlich „guten Aspekten“ der faschistischen Ideologie (Filippi 2019) und der Kritik am modernen Individualismus, der von der Rechten als Bedrohung für das Gemeinschaftsgefühl und die nationale Identität angesehen wird.