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Stabil fragil? | Italien | bpb.de

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Stabil fragil? Zur politökonomischen Situation Italiens nach der Europawahl

Alexander Grasse

/ 19 Minuten zu lesen

Italiens rechtsnationale Regierung ist gestärkt aus der Europawahl 2024 hervorgegangen. Die sozioökonomische Situation ist jedoch weiterhin fragil. Welche Rolle spielen wirtschaftliche und soziale Fragen mit Blick auf die Wahlentscheidung und auf machtpolitische Perspektiven?

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre rechtsnationale Regierung sind gestärkt aus den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 hervorgegangen. Während die Regierungsparteien in Frankreich und Deutschland herbe Verluste hinnehmen mussten, konnte die Partei Melonis, Fratelli d’Italia (FdI), an Stimmen zulegen, wobei sie ihre Koalitionspartner, Forza Italia (FI) und Lega, weiter distanzierte. Obschon auch der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) als größte Oppositionspartei einen Erfolg verbuchen konnte, sitzt die Regierungschefin scheinbar fester denn je im Sattel, was nicht nur ihre innen-, sondern auch ihre außen- und europapolitischen Gestaltungsansprüche vergrößert.

Gleichwohl stellt sich die Frage, in welchem sozioökonomischen Umfeld die Regierung Meloni agiert beziehungsweise welche Handlungsspielräume perspektivisch bestehen. Denn die lahmende wirtschaftliche Entwicklung und ihre sozialen Folgen gehören seit Jahren zu den zentralen, ungelösten Problemen des Landes. Um dieses Umfeld zu skizzieren und die Perspektiven auszuloten, folgt zunächst ein Überblick über die wirtschaftliche und soziale Lage Italiens. Anschließend werden die Ergebnisse der Europawahl und ihre Folgen in den Blick genommen.

Ökonomischer Aufwärtstrend

Wirtschaftlich befindet Italien sich seit Überwindung der Corona-Pandemie auf einem moderat positiven Entwicklungspfad, trotz aller Schwierigkeiten, die sich infolge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine auch in Italien zeigen. Die Inflation ist deutlich rückläufig, nach 5,2 Prozent 2023 werden für 2024 sehr gute 1,6 Prozent erwartet. Allerdings ist die Sparneigung der privaten Haushalte weiterhin relativ hoch, was den Konsum bremst. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte 2023 gegenüber 2022 um 0,9 Prozent zu, womit Italien die Wachstumsrate des Euroraums von 0,4 Prozent deutlich übertraf. Im Ergebnis befand sich das reale BIP 2023 erstmals wieder auf dem Vorkrisenniveau von 2007.

Für 2024 und 2025 erwartet das nationale Statistikamt Istat Wachstumsraten von etwa einem Prozent des BIP, da die Binnennachfrage leicht anziehen dürfte, ausgehend von den seit 2022 positiven Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Nachdem die Arbeitslosenquote 2021 noch bei hohen 9,7 Prozent gelegen hatte, sank sie bis 2023 auf 7,8 Prozent. Die Beschäftigungsquote unter den 20- bis 64-Jährigen lag mit 66,3 Prozent knapp drei Prozentpunkte über dem Vorpandemieniveau von 2019. Dabei nahm die Zahl unbefristeter Arbeitsverträge zuletzt zu, was die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt unterstreicht. Der Beschäftigungsaufwuchs war im Süden prozentual sogar leicht höher als im Norden. Auch die Aussichten für 2024/25 sind positiv: Es wird erwartet, dass die Beschäftigungsquote weiter steigt und die Arbeitslosenquote auf etwa 7 Prozent sinkt.

Zugleich ist die illegale Beschäftigung, die während der Pandemie drastisch gestiegen war, deutlich rückläufig. Die Jugendarbeitslosigkeit, also unter den 15- bis 24-Jährigen, ist ebenfalls gesunken. Mit 36,7 Prozent war sie 2023 im Süden Italiens, dem Mezzogiorno, allerdings nach wie vor erheblich höher als im nationalen Durchschnitt (22,7 Prozent), womit dieser Landesteil zu den Schlusslichtern in der EU zählt. Ebenso ist die Beschäftigungsquote von Frauen weiterhin eine der geringsten in Europa, unterboten nur von Griechenland. Besorgniserregend sind zudem die noch immer hohe Langzeitarbeitslosigkeit und der Anstieg der Armut. 2023 betrug die Quote der in absoluter Armut lebenden Personen in Italien 9,8 Prozent, das sind 5,7 Millionen Menschen. 2014 hatte die Armutsquote noch bei 6,9 Prozent gelegen. Auch die Quote derjenigen, die trotz eines Beschäftigungsverhältnisses von Armut bedroht sind, war 2022 mit 11,5 Prozent um zwei Prozentpunkte höher als nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09.

Staatsfinanzen und öffentliche Investitionen

Dessen ungeachtet wirkt sich die wirtschaftliche Entwicklung positiv auf die öffentlichen Finanzen aus. Das Haushaltsdefizit beziehungsweise die Nettoneuverschuldung ist auch unter der rechten Regierung rückläufig, wiewohl immer noch sehr hoch. Nach der Rekordneuverschuldung von 9,4 Prozent des BIP im Corona-Jahr 2020 sank dieser Wert bis 2023 schrittweise auf 7,4 Prozent. Im gleichen Zeitraum fiel die Staatsverschuldung insgesamt von 155 auf 137,3 Prozent des BIP, was aber immer noch eine immense Bruttoschuld in Höhe von 2,86 Billionen Euro bedeutet.

Zu der vorsichtig positiven Entwicklung trägt insbesondere der nationale Aufbau- und Resilienzplan (PNRR) bei, der 2021 im Rahmen des EU-Programms „NextGenerationEU“ aufgelegt wurde und Italien weiterhin umfängliche öffentliche Investitionen ermöglicht. Obgleich zahlreiche Maßnahmen hinter den zeitlich gesteckten Zielen zurückbleiben und die Preise für Energie, Rohstoffe und Baumaterialien stark gestiegen sind, hat der PNRR laut Istat nicht nur bereits zu Aufholeffekten gegenüber anderen europäischen Volkswirtschaften geführt, sondern auch zu einer leichten Verringerung der strukturellen Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien beigetragen.

Durch neue Akzente bei der Umsetzung des Plans versucht Meloni, sich von der Vorgängerregierung unter Mario Draghi abzusetzen. So sollen großzügige Anreize beziehungsweise Steuererleichterungen für das produzierende Gewerbe und den Dienstleistungssektor die Finanzierung größerer staatlicher Projekte in den Bereichen Energieeffizienz und erneuerbare Energien sichern. Dies geschieht jedoch zulasten der Kommunen, denen dadurch weniger Mittel etwa für die Stadtentwicklung, die Bekämpfung hydrologischer Risiken oder die Sanierung von Schulgebäuden zur Verfügung stehen. Die Hoffnung ist offenbar, dass sich die Maßnahmen zugunsten der Unternehmen politisch für die Ministerpräsidentin auszahlen. Zuletzt fiel die Regierung bereits mit leicht expansiver Finanzpolitik auf: Für 2024 wurden Steuererleichterungen in Höhe von rund zehn Milliarden Euro zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen unter 35000 Euro Jahresverdienst vorgenommen, um die Binnennachfrage zu stärken. Weitere fünf Milliarden fließen in zusätzliche Personalausgaben im Gesundheitswesen und familienpolitische Maßnahmen.

Insgesamt ist in der aktuellen Wirtschaftspolitik Italiens, obwohl Meloni auch in diesem Politikfeld wichtige Entscheidungen in den Palazzo Chigi zieht, indes keine klare Linie zu erkennen. Es finden sich sowohl neoliberale als auch staatsinterventionistische Ansätze, angebots- und nachfragepolitische Maßnahmen gibt es gleichermaßen. Die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung Italiens gibt der Regierung freilich etwas Rückenwind, allerdings ist die Situation risikobehaftet und mithin fragil, zumal sich zahlreiche Faktoren der nationalen politischen Steuerung entziehen. Der Investitionszuwachs 2023 um 4,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr kann sich zwar sehen lassen, er soll sich jedoch in den kommenden Jahren deutlich abschwächen. Insofern wären fallende Leitzinsen der Europäischen Zentralbank in Italien sehr willkommen, um die privaten Investitionen anzukurbeln und zugleich die staatliche Refinanzierung zu erleichtern, zumal die haushaltspolitischen Spielräume mit dem Ende der Aussetzung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) nicht größer werden.

Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes

Italien sieht sich, wie unter anderem auch Frankreich, seit Juni 2024 wieder mit einem Defizitverfahren der EU konfrontiert, dasselbe ist für 2025 zu erwarten. Voraussichtlich frühestens 2026 wird das Land ein Haushaltsdefizit von weniger als drei Prozent des BIP vorweisen können. Meloni hatte sich zunächst geweigert, der Reform des SWP zuzustimmen und dabei die Ratifizierung der Novelle des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als Druckmittel verwendet. Die Regierungschefin und ihr Finanzminister Giancarlo Giorgetti (Lega) kritisierten die Neuregelung des SWP als investitionsfeindlich und forderten unter anderem, Investitionen im Bereich der grünen und digitalen Transformation aus der jährlichen Neuverschuldung herausrechnen zu dürfen. Letztendlich stimmte Italien jedoch im Rat der Europäischen Union zu, während sich die Regierungsparteien FdI, Lega und FI zuvor im Europäischen Parlament enthalten hatten.

Der SWP vom 30. April 2024 umfasst die Pflicht, sich künftig an einen von der Europäischen Kommission vorgegebenen „Referenzpfad“ für die mittelfristige strukturelle Entwicklung der Staatsausgaben (Netto-Primärausgaben) zu halten, der allerdings die spezifischen Umstände der Schuldentragfähigkeit eines Landes berücksichtigen soll. Konkret heißt dies gleichwohl, dass ein Schuldenstand von über 60 Prozent des BIP auf einen rückläufigen Pfad gebracht werden muss und das öffentliche Defizit innerhalb von vier bis sieben Jahren unter drei Prozent des BIP gesenkt wird. Zur Absicherung der Schuldentragfähigkeit (Debt Sustainability Safeguard) muss die projizierte öffentliche Schuldenstandquote um jährlich einen Prozentpunkt des BIP sinken, wenn sie – wie im Falle Italiens – 90 Prozent übersteigt. Bei einer Schuldenstandquote zwischen 60 und 90 Prozent des BIP ist eine durchschnittlliche jährliche Reduktion um 0,5 Prozentpunkte notwendig. Der Schwellenwert von 60 Prozent des BIP gemäß SWP wird indes von zahlreichen EU-Mitgliedstaaten nicht eingehalten, 2023 von fast der Hälfte aller Länder (Abbildung).

Hinzu kommt die Vorgabe der Defizitresilienz (Deficit Resilience Safeguard). Ziel ist es, einen Puffer für wirtschaftliche Schwächephasen zu schaffen. Hierfür soll das strukturelle, also das um konjunkturelle Effekte bereinigte Defizit den Wert von 1,5 Prozent des BIP nicht überschreiten. Haushaltsanpassungen sind dementsprechend so lange fortzusetzen, bis dieser Wert erreicht ist. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat errechnet, dass die neuen Regelungen für Italien über vier Jahre Haushaltseinsparungen von jährlich 25,4 Milliarden beziehungsweise über sieben Jahre 13,5 Milliarden Euro bedeuten könnten.

Der Kampf um die öffentliche Interpretation des reformierten SWP entbrannte unmittelbar nach seiner Verabschiedung. Meloni verkaufte die Neuregelung als Erfolg ihrer Regierung, obgleich Maßnahmen für den grünen und digitalen Wandel, die Energieversorgungssicherheit, die Stärkung der sozialen und wirtschaftlichen Resilienz und die Verteidigungsfähigkeit lediglich eine Verlängerung der nationalen strukturellen Finanzpläne auf bis zu sieben Jahre bewirken, nicht aber komplett ausgeklammert werden können, wie ursprünglich gefordert. Auch werden gestiegene Lasten infolge der Anhebung der Leitzinsen durch die EZB nur in der ersten Anpassungsperiode berücksichtigt.

Während Meloni vollmundig von neuen Spielräumen in Höhe von 35 Milliarden Euro für Italien sprach, gehen Kritiker von sehr viel geringeren Summen beziehungsweise sogar von der Notwendigkeit harter Sparmaßnahmen für die nächsten Jahre aus. Tatsächlich dürften Italiens Anpassungserfordernisse mit dem neuen SWP gegenüber der alten Regelung nach Berechnungen des Instituts Bruegel zunächst sinken. Entlastend wirkt unter anderem, dass die Klausel zum Abbau des Schuldenstandes erst greift, sobald hoch defizitäre Staaten wie Italien ihr Defizit unter drei Prozent des BIP gebracht haben, also kein Defizitverfahren mehr läuft. Mittelfristig jedoch birgt die neue Defizitresilienzklausel gerade im Falle Italiens erhebliche Risiken prozyklischer Wirkung, da ein jährlicher Primärüberschuss von über 4 Prozent des BIP notwendig werden könnte, um deren Vorgaben zu erreichen. Enorme Einsparungen in den öffentlichen Haushalten wären wohl unvermeidlich, mit der Folge unzureichender öffentlicher Investitionen für die entscheidenden Zukunftsfragen.

Damit scheinen neue finanzpolitische Auseinandersetzungen in Italien, vor allem aber auch zwischen Rom und Brüssel, programmiert zu sein. Einen Vorgeschmack lieferte Italiens Verteidigungsminister Guido Crosetto (FdI) im Juni 2024, als er erklärte, dass sein Land angesichts der finanzpolitischen Restriktionen durch die EU das Ziel der NATO-Staaten, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, nicht einmal bis 2028 erreichen werde. Er hatte wiederholt vorgeschlagen, die Militärausgaben aus dem SWP auszuklammern.

Europawahl 2024

Neben der wirtschaftlichen Lage, welche die Politik Italiens ohnehin seit Jahren prägt, steht das Jahr 2024 unter anderem im Zeichen der Europawahl, aus der sich weitere Rückschlüsse auf das politische Stimmungsbild des Landes ziehen lassen.

Italiens Kampagne zur Europawahl war kaum von europäischen Themen geprägt. Wenn überhaupt, dann ging es um die generelle Ablehnung oder Befürwortung des Integrationsprozesses. Vielmehr dominierten innenpolitische Aspekte, wobei wirtschaftliche und soziale Fragen durchaus eine Rolle spielten, jedoch keine herausragende. Das Problem prekärer Lebensumstände und zu niedriger Löhne hatte noch die größte Relevanz. Insbesondere der PD macht sich seit Längerem für einen gesetzlichen Mindestlohn stark und rückte das Thema im Wahlkampf in den Vordergrund, unterstützt von der Vereinigung aus Grünen und Linken (Alleanza Verdi e Sinistra/AVS) und der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle/M5S).

Dahinter rangierte eine Vielzahl von Themen mehr oder weniger gleichrangig nebeneinander, darunter Inflation, Wachstum und Produktivität, der schlechte Zustand des italienischen Gesundheitswesens, aber auch Migration und der Krieg in der Ukraine sowie Klima- und Umweltpolitik. Ein Schlüsselthema beziehungsweise eine harte, bestimmende Trennlinie war im Wahlkampf indes nicht zu erkennen. Die Wahl am 8./9. Juni hatte somit eher den Charakter eines allgemeinen nationalen Stimmungstests für die Parteien und deren Führungspersonal. Mehrere Spitzenpolitiker, darunter Meloni und die Vorsitzende des PD, Elly Schlein, kandidierten für das Europäische Parlament, teilweise in mehreren Wahlkreisen, ohne jede Absicht, Mandate zu bekleiden. Meloni forderte dazu auf, einfach ihren Vornamen auf den Wahlzettel zu schreiben: „Giorgia“. Angesichts der vielfältigen ökonomischen und sozialen Probleme des Landes waren die mangelnde Problemorientierung und das Ausmaß an Personalisierung bemerkenswert.

Der Wahlausgang (Tabelle) war eine klare Bestätigung der Regierungspartei FdI: Mit 28,8 Prozent der Stimmen übertraf sie ihr bereits starkes Ergebnis bei den Parlamentswahlen 2022 nochmals um 2,8 Prozentpunkte – ganz zu schweigen vom Ergebnis bei der Europawahl 2019, als sie noch bei knapp 6,5 Prozent gelegen hatte. Abgesehen von Sizilien wurde FdI in nahezu allen Provinzen des Landes stärkste Kraft. Auch ihre Koalitionspartner, FI und Lega, hielten in etwa das Niveau von 2022, sodass das Regierungslager insgesamt gestärkt aus der Europawahl hervorging. Dass FI, die erstmals ohne ihren 2023 verstorbenen Gründer Silvio Berlusconi antrat, besser als die Lega abschnitt, war dabei vor allem ein Erfolg für Außenminister Antonio Tajani. Unter den Regierungsparteien gehörte Lega-Chef Matteo Salvini mit dem einstelligen Ergebnis von 9 Prozent indes zu den Wahlverlierern und geriet in seiner Partei massiv in die Kritik. Noch bei der Europawahl 2019 hatte er für die Lega das Rekordergebnis von 34,3 Prozent eingefahren.

Zu den Wahlgewinnern im Oppositionslager gehörte zuvorderst der PD mit seiner Vorsitzenden Schlein, die ihre Partei mit 24 Prozent zur zweitstärksten Kraft machte, bei einem Zuwachs von fünf Prozentpunkten gegenüber 2022. Einen Überraschungserfolg feierte die AVS, die ihr Ergebnis im Vergleich zu 2022 mit 6,7 Prozent nahezu verdoppeln konnte. Zu den Geschlagenen im Mitte-links-Spektrum gehörte der M5S, der mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte an der Spitze über fünf Prozentpunkte verlor. Das magere Ergebnis von knapp unter 10 Prozent war weniger als ein Drittel der Stimmen, die M5S noch bei der Parlamentswahl 2018 erreicht hatte. Die sich selbst als „dritten Pol“ (terzo polo) bezeichnenden, besonders europafreundlichen Parteien des politischen Zentrums, Stati Uniti d’Europa und Azione-Siamo Europei, scheiterten an der Vierprozenthürde. Hier gab es einen Wählerfluss nach rechts, hin zu FdI. Die Mitte wurde also weiter aufgerieben.

In der Zusammenschau all dessen ergibt sich zum einen eine geringere Fragmentierung des Parteiensystems als bei den Wahlen zuvor, mit einer Konzentration auf sechs relevante Kräfte. Zum anderen tendiert das System wieder zu einer Bipolarität zwischen rechts und links, nachdem sich ab dem fulminanten Wahlerfolg des M5S 2013 zwischenzeitlich eine tripolare Struktur herausgebildet und die Bewegung sich angeschickt hatte, die Sozialdemokraten als dominante Kraft des Mitte-links-Spektrums zu verdrängen. FdI und PD sind nun zu den bestimmenden antagonistischen Kräften rechts und links geworden, die mit kleineren Parteien mehr oder weniger stabile Allianzen bilden. Mit Meloni und Schlein werden sie von zwei Frauen angeführt, die gegensätzlicher kaum sein könnten – sowohl politisch als auch persönlich.

Wahlgeografie und -soziologie

Betrachtet man die Veränderungen bei der Europawahl 2024 im Vergleich zur Parlamentswahl 2022 in der Fläche, so stechen die Ergebnisse im Süden heraus. Obgleich der M5S dort nach wie vor seine Hochburgen hat, hat die Partei im Mezzogiorno überdurchschnittlich stark verloren, vor allem an das Lager der Nichtwähler. In Süditalien, Sardinien und Sizilien ist die Partei regelrecht eingebrochen. FdI, PD und AVS hingegen konnten ihre Stellung nahezu überall verbessern. Im Nordosten, eigentlich das Stammland der Lega, setzte sich FdI mit fast 32 Prozent als dominante Kraft fest. Die Lega verlor hier nahezu die Hälfte ihrer Wählerschaft, selbst im Süden kam sie auf bessere Werte.

Auffällig war die niedrige Wahlbeteiligung von knapp unter 50 Prozent, was auf eine gewachsene Politikverdrossenheit schließen lässt. Der Negativtrend setzt sich seit 2004 ungebremst fort: Damals lag die Beteiligung an der Europawahl noch über 72 Prozent. Es offenbarte sich zudem ein deutliches regionales Gefälle, mit geringerer Beteiligung im Süden. In einigen Provinzen Süditaliens lag die Beteiligung bei lediglich 29 bis 38 Prozent.

Die Ergebnisse im Süden sind insofern aufschlussreich, als die wirtschaftlichen und sozialen Probleme dort weiterhin besonders groß sind. Insbesondere die von der Regierung Meloni vorgenommene massive Einschränkung der sozialen Grundsicherung (Reddito di cittadinanza), die 2019 auf Betreiben des M5S von der Regierung Conte I eingeführt worden war, erweist sich als folgenreich. Viele Menschen sind aus dem Bezug herausgefallen, was vor allem im Mezzogiorno Proteste auslöste. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob diese Politik der Regierung geschadet hat beziehungsweise welche Rolle sozioökonomische Aspekte bei der Europawahl generell gespielt haben, von besonderem Interesse.

Nachwahlanalysen haben gezeigt, dass Melonis Partei bei Selbstständigen, in nahezu gleichem Umfang aber auch bei abhängig Beschäftigten, sowie bei Hausfrauen besonders gut abgeschnitten hat. Arbeitslose waren in der Wählerschaft des FdI dagegen deutlich geringer vertreten. Ähnlich FI, die ebenfalls bei Selbstständigen und Hausfrauen erfolgreich war und unter sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen weniger punkten konnte. Die Lega wiederum war besonders bei abhängig Beschäftigten, Hausfrauen und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen beliebt, nicht mehr jedoch bei ihrer Kernklientel der ersten Tage, den kleinen und mittleren Selbstständigen.

Der PD glänzte bei den Wohlhabenderen, den Gebildeteren, bei Rentnern und Studierenden, war im Verhältnis aber ebenfalls deutlich weniger attraktiv für Arbeitslose und sozial Schwächere. Genauso erzielte auch die AVS gute Ergebnisse bei Menschen mit Hochschulabschluss, Studierenden und abhängig Beschäftigten, fand jedoch wenig Anklang bei Hausfrauen und Selbstständigen. Sozial Schwächere erreichte die AVS ebensowenig. Die Parteien der Mitte, Azione und Stati Uniti d’Europa, kamen besonders bei Studierenden, höher Gebildeten und Wohlhabenderen an, bei sozial Benachteiligten dagegen kaum.

Bei den Arbeitslosen war tatsächlich M5S unverändert die erfolgreichste Partei, wobei sie auch in dieser Gruppe, ihrer Stammwählerschaft, Verluste hinnehmen musste, was sich in der angesprochenen Wahlenthaltung widerspiegelt. Bei Personen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen sowie bei den Hausfrauen schnitt der M5S ebenfalls gut ab.

Ergänzt man diese Beobachtungen nun durch Selbstzuschreibungen nach Schichtzugehörigkeit und Parteienpräferenz, ergibt sich folgendes Bild: Links der Mitte entschieden sich die Wähler, die sich selbst unteren Schichten zugehörig sehen, relativ deutlich für den M5S und weniger für den PD. Zwar sind in der Wählerschaft des PD alle Schichten vertreten, doch Mittel- und Oberschicht sind es erheblich stärker.

Rechts der Mitte verläuft eine Trennlinie zwischen Lega und FdI, erhielt die Lega bei Menschen aus den unteren Schichten doch doppelt so viele Stimmen wie die FdI. Der Zusammenhang ist so eindeutig, dass dem Politikwissenschaftler Lorenzo De Sio und seinen Koautoren zufolge „die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht eine Vorhersage darüber erlaubt, ob man Fratelli d’Italia wählt oder Lega“. In der Partei der Ministerpräsidentin zeigt sich eine klare Schere: Auch wenn viele Arbeiter FdI gewählt haben, sind nur 10 Prozent der FdI-Wähler aus den unteren Schichten, im Vergleich zu 36 Prozent aus den mittleren und oberen Schichten.

Nicht nur die wahlsoziologischen Befunde und die sozialen Selbstzuschreibungen weisen in eine bestimmte Richtung. Auch auf Basis der Einkommensverteilung ergibt sich ein recht klares Bild, was den Zusammenhang mit der Wahlentscheidung angeht. Die größte Korrelation ergibt sich für den PD: Je höher das Durchschnittseinkommen, desto eher fiel die Wahlentscheidung zugunsten dieser Partei. Der Zusammenhang zwischen steigendem Einkommen und politischer Zustimmung gilt in abgeschwächtem Maße auch für FdI und AVS. Mit sinkendem (Arbeits-)Einkommen hingegen steigt die Präferenz für FI, Lega oder M5S.

Vereinfacht ausgedrückt sind M5S und Lega in wirtschaftlich benachteiligten Gegenden überrepräsentiert, PD und FdI dagegen erfahren stärkere Unterstützung in wohlhabenden Gebieten. Während der PD seine überdurchschnittliche Zustimmung dabei vor allem von Wählern erhält, deren Wohlstand auf Arbeitseinkommen basiert, erhöht sich die Zustimmung zu FdI bei Wählern mit Kapitaleinkünften beziehungsweise Immobilienbesitz, insbesondere dort, wo deren Konzentration hoch ist. Auf den Punkt gebracht heißt das: „Arbeit tendiert zur Partei von Schlein, Rendite zur Partei von Meloni.“

Fazit und Ausblick

Was bedeuten die Erkenntnisse aus der Europawahl im Zusammenspiel mit dem geschilderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmen nun für die Stabilität und zukünftige Handlungsfähigkeit der italienischen Regierung einerseits und die Machtoptionen der Opposition andererseits?

Sozioökonomische Themen, sozialer Status beziehungsweise Einkommenssituation spielten bei der Europawahl 2024 zwar eine Rolle, waren aber nicht entscheidend. Dies ist umso bemerkenswerter, als der sozialen Frage bei den Parlamentswahlen 2018 noch eine zentrale Rolle zukam und diese ursächlich war für den historischen Sieg des M5S, mit Rekordergebnissen von über 50 Prozent der Stimmen in einigen Regionen Süditaliens. Jener Urnengang galt geradezu als neue Form der Klassenwahl. Inzwischen verlaufen die sozioökonomischen Trennlinien in Italien jedoch offenkundig nicht mehr entlang des traditionellen Rechts-links-Schemas, obgleich insgesamt eine Rückkehr zur politischen Bipolarität zu beobachten ist. Hinsichtlich des Wahlverhaltens nach sozialer Schichtung zeigt sich vielmehr eine auffällige Zweiteilung, mit ungefähr gleicher Verteilung in beiden politischen Lagern: Einkommensschwächere, sozial Benachteiligte und Arbeiter votierten einerseits für die Lega auf der politischen Rechten, andererseits für den M5S auf der Linken.

Arbeiter und untere Mittelschicht machen dabei zwar immer noch das Gros der Wählerschaft des M5S aus, doch die Zustimmung dieser Gruppen zur Fünf-Sterne-Bewegung schwindet. Die anderen Parteien des Mitte-links-Lagers können hiervon allerdings kaum profitieren, denn augenscheinlich sind weder der PD noch der AVS für sozial schwächere Bevölkerungskreise besonders attraktiv. Viele dieser Wähler haben schlichtweg resigniert und gehen gar nicht mehr zur Wahl.

Für das Mitte-links-Spektrum bedeutet dies zweierlei: Zum einen wird man sich darum bemühen müssen, diese Bevölkerungsgruppen zurückzugewinnen. Angesichts der Stimmungslage und der weiterhin hohen Volatilität der italienischen Wählerschaft ist dies ein schwieriges, aber keineswegs aussichtsloses Unterfangen, zumindest bei entsprechend überzeugenden politischen Angeboten. Zum anderen spricht die mittelfristig zu erwartende Rückkehr der sozialen Frage (hohe Armutsquote, wachsende Ungleichheit) auch strategisch für eine dauerhafte Mitte-links-Allianz. Angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse ist klar, dass eine Option auf einen Machtwechsel nur dann besteht, wenn sich PD, AVS und M5S – trotz aller politischen Differenzen – zu einem Wahlbündnis zusammenschließen. Dies gilt umso mehr, als bei den italienischen Parlamentswahlen aufgrund des geltenden Wahlrechts (Rosatellum) die Sitze nicht rein nach Proporz auf die Parteien verteilt werden, sondern mehr als ein Drittel (37 Prozent) der Mandate nach dem Mehrheitsprinzip in den Wahlkreisen vergeben wird (the winner takes it all). Das bedeutet, dass die Erfolgsaussichten umso größer sind, je breiter ein Wahlbündnis aufgestellt ist. Szenarien zeigen, dass sogar eine noch breitere Allianz als die zwischen PD, AVS und M5S nötig wäre, um die amtierende Rechts-mitte-Koalition numerisch zu überflügeln, nämlich eine, die auch die Kleinparteien des terzo polo integriert, was zurzeit jedoch politisch jeder Grundlage entbehrt.

Zugleich lässt sich anhand der Ergebnisse der Europawahl 2024 sagen, dass ein großer Teil des italienischen „Rechtsrucks“ mit der FdI als stärkster Kraft von der sozialen Mitte und der Oberschicht getragen wird. Maßnahmen wie die weitgehende Streichung der Grundsicherung haben der Partei der Ministerpräsidentin insofern nicht geschadet, als ein Teil der Stimmen der sogenannten Abgehängten im Regierungslager blieb, nämlich bei der strategisch weit rechtsaußen positionierten Lega. Was die FdI also bei den sozial Schwächeren verliert, sammelt die Lega teilweise wieder ein, sodass sich die Mehrheitsverhältnisse zwischen rechts und Mitte-links nicht entscheidend verändern. Zugleich ist der Abstand in der Wählergunst zwischen den einzelnen Parteien des Regierungslagers so groß, dass Melonis innerkoalitionärem Widersacher Salvini weiterhin nur die Rolle des Juniorpartners bleibt.

Im Vergleich zur Vorgängerregierung Draghi fällt die Zustimmung der Bevölkerung zur aktuellen Regierung zwar deutlich geringer aus, als Ministerpräsidentin erzielt Meloni jedoch hohe persönliche Zustimmungswerte. Derzeit ist sie die beliebteste Spitzenpolitikerin des Landes. Die „Marke Meloni“ erklärt somit zum großen Teil den Erfolg ihrer Partei.

Aufgrund der fragilen Gesamtentwicklung und der mittelfristig schrumpfenden haushaltspolitischen Möglichkeiten für öffentliche Investitionen werden sozioökonomische Faktoren jedoch relevant bleiben und voraussichtlich alsbald wieder an Bedeutung gewinnen. Hierbei spielt nicht nur der reformierte europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt eine Rolle, sondern auch das Auslaufen des Aufbau- und Resilienzplans PNRR im Jahr 2026. Die sehr optimistischen Ankündigungen Melonis zum SWP könnten ihr politisch auf die Füße fallen, wenn letztlich doch noch Sparmaßnahmen notwendig werden. Es bleibt abzuwarten, ob die „Marke Meloni“ auch dann noch zieht.

Gleichwohl dürften sich die sozioökonomischen Konfliktlinien beziehungsweise deren Niederschlag in den Wahlpräferenzen zugunsten der beiden großen politischen Lager kurzfristig als relativ stabil erweisen. Es ist derzeit nicht davon auszugehen, exogene Schocks einmal ausgenommen, dass die Politikfelder Wirtschaft und Soziales rasch zu einer deutlichen Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse beitragen werden, zumal andere Fragen, wie die von Migration und Identität, weiter virulent und dominant sind. Anders formuliert: Kurzfristig hat Meloni aus dieser Richtung wohl wenig zu befürchten, zumal sie koalitionsintern die unangefochtene Führungsfigur ist. Auf mittlere und längere Sicht allerdings wird auch ihre Regierung mehr Wachstum generieren und Arbeitsplätze schaffen, kurzum: wirtschaftliche Erfolge vorweisen müssen, um nicht wie so viele vor ihr zu scheitern.

ist Professor für Politik und Wirtschaft im Mehrebenensystem am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.