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Rasender Stillstand | Italien | bpb.de

Italien Editorial Wo ist die Politik in der Literatur? Dov'è la politica in letteratura? Rasender Stillstand. Italien im Herbst 2024 Autoritär reformiert? Zum geplanten Umbau des Staates in Italien Italien und die Migration. Der Weg der Externalisierung Stabil Fragil? Zur politökonomischen Situation Italiens nach der Europawahl Nachhaltig in die Zukunft? Italien und der Green Deal Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Erinnerung und Aufarbeitung Karte Italien

Rasender Stillstand Italien im Herbst 2024

Sebastian Heinrich

/ 17 Minuten zu lesen

Unter Giorgia Melonis Regierung wirkt Italien trotz umtriebiger Politik im Stillstand gefangen: Die Koalition prescht mit dem Staatsumbau voran, während sich die eigentlichen Probleme des Landes bedrohlich auftürmen. Doch es gibt auch Signale der Hoffnung.

Italien ist geblieben wie immer, man sieht es ja sofort: auf den Fotos, die die Urlauber spätestens seit Ostern wieder in den Whatsapp-Familiengruppen schicken oder auf Instagram posten. Die Pinien am Gardaseeufer in Malcesine, das gelato auf der Piazza del Campo in Siena, der blühende Oleander am Küstenabschnitt zwischen Bari und Brindisi. „Ach, Italien.“ Diesen Halbsatz kann man selig dahinseufzen, wie viele Reisende aus dem Norden, die das Land im Urlaub durch ihren Dolce-Vita-Weichzeichner betrachten. Oder man kann ihn dumpf ausstöhnen, wie viele derjenigen, die auch außerhalb der Ferien dort leben.

Zu diesen Menschen gehört Simone Spetia. Spetia ist Moderator der wochentäglichen Morgensendung „24 mattino“ bei Radio 24, dem größten privaten Nachrichtenradiosender Italiens. Tranquilli, che il paese resta quello che è, ruft er am 15. Juli 2024 seinen Hörerinnen und Hörern mit ironischem Unterton zu: Keine Sorge, in den USA mag gerade der republikanische Präsidentschaftskandidat fast erschossen worden sein, im Nahen Osten mag ein verheerender Regionalkrieg drohen – Italien bleibt wie immer. Und nein, Spetia meint damit nicht die Pinien am Gardasee, das Gelato, den Oleander. Simone Spetia hat in seiner Radio-Morgensendung wieder einmal von zwei dieser Geschichten berichtet, von denen viele Italiener glauben, dass sie nur in ihrem Land passieren können: Ein Finanzamt hat eine Achtjährige per Brief aufgefordert, Steuern auf die Abfindung ihres kürzlich verstorbenen Vaters zu zahlen; Taxifahrer in Rom sollen eine neue Masche gefunden haben, ihren Kunden 50 Euro pro Fahrt aus der Tasche zu ziehen, natürlich am Fiskus vorbei. Italien scheint 2024 das gleiche Land wie eh und je zu sein, wundervoll und zugleich schrecklich kompliziert.

Seit knapp zwei Jahren ist Giorgia Meloni italienische Ministerpräsidentin: die Frau, die sie im deutschsprachigen Raum „Postfaschistin“ oder „Ultrarechte“ nennen – und vor der viele deutschsprachige Medien gewarnt haben und weiterhin warnen. Meloni, Jahrgang 1977, begann ihre lange Reise an die Spitze der Macht in den 1990er Jahren als Teenager in der traditionsreichen rechtsradikalen Szene Roms. Um die Mitte der 2000er wurde sie zur Berufspolitikerin und arbeitete sich bemerkenswert zielstrebig empor: Chefin der Jugendorganisation der rechtsnationalen Partei Alleanza Nazionale (2004), Einzug ins Parlament und sofortige Ernennung zur stellvertretenden Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer (2006), Jugendministerin unter Regierungschef Silvio Berlusconi (2008). Aus Berlusconis großer Mitte-rechts-Partei Popolo della Libertà trat sie Ende 2012 gemeinsam mit einer Handvoll Gesinnungsgenossen aus und gründete die ultrarechte Partei Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens). Der Name ist den Anfangswörtern der Nationalhymne entnommen. Binnen eines Jahrzehnts hat sie aus der Kleinpartei die stärkste politische Kraft des Landes gemacht. Das Rechtsbündnis, das im Herbst 2022 die Parlamentswahlen deutlich gewann, wird von den FdI angeführt.

Umbau des Staates: Pläne und Hürden

Selbst politische Gegner bescheinigen Meloni bemerkenswerten Fleiß. Seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 tut sie viel, um diesen Eindruck zu bestätigen. Etwa, indem sie in ihrer Koalition aus FdI, der rechtsnationalen Lega, der konservativen Forza Italia und weiteren mittig-rechten Kleinparteien Reformpläne zum Umbau des Staates vorantreibt. Sie betreffen zwei wesentliche Bestandteile des italienischen Gemeinweisens: zum einen das Verhältnis zwischen Zentralstaat und Regionen, zum anderen das Regierungssystem. Beide Projekte haben im Frühsommer 2024 bedeutende Hürden im Parlament genommen und werden im Herbst weiterhin ein wichtiger Teil der politischen Debatte sein.

In letzter Lesung bestätigt worden ist die autonomia differenziata, die individualisierbare Autonomie. Sie soll es jeder einzelnen der 15 italienischen Regionen ohne Sonderstatut ermöglichen, vom Zentralstaat mehr politische Eigenständigkeit in Bereichen wie Bildung, Verkehr und Steuerrecht zu erhalten.

Auch das zweite Vorhaben, das sogenannte premierato, hat bereits die erste von vier Parlamentsabstimmungen überstanden: eine Verfassungsreform, die das italienische Regierungssystem umkrempeln soll. Unter anderem soll künftig das Volk den Ministerpräsidenten direkt wählen. Außerdem ist in beiden Parlamentskammern die Einführung eines „Mehrheitsbonus“ vorgesehen, wodurch die Stellung des Wahlsiegers durch zusätzliche Sitze gestärkt würde. Instabile Mehrheitsverhältnisse und häufige Regierungswechsel sollen dadurch der Vergangenheit angehören. Dank dem premierato soll es nie wieder jene „typisch italienischen“ Regierungskrisen geben, über die in Italien wie im Ausland so viele Menschen verständnis- bis fassungslos die Köpfe schütteln. Wie etwa in der vergangenen Wahlperiode, als zwischen Frühjahr 2018 und Sommer 2022 erst eine populistisch-rechtsnationale Koalition regierte, die dann gestürzt und ersetzt wurde von einer populistisch-sozialdemokratischen – bis schließlich eine Expertenregierung der nationalen Einheit unter dem ehemaligen Zentralbanker Mario Draghi übernahm. Nein, Italiens Wählerinnen und Wähler sollen künftig Legislaturperiode um Legislaturperiode bekommen, wofür sie sich mit ihren Stimmzetteln mehrheitlich ausgesprochen haben – so stellen es zumindest Meloni und ihre Koalitionspartner dar. „Italienische Verhältnisse“, das soll kein Spottausdruck mehr sein.

Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob die Meloni-Regierung ihren Fleiß in dauerhafte Veränderungen umwandeln kann. Das Projekt, den italienischen Staat umzubauen, begeistert vor allem ihre Anhängerinnen und Anhänger – und weckt bei vielen anderen tiefe Sorgen um die Zukunft der Demokratie. Zu den Premierato-Gegnern gehören nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der Opposition, sondern auch Menschen, die über Parteigrenzen hinweg geschätzt werden. Liliana Segre etwa, Holocaust-Überlebende und bekannteste italienische Zeitzeugin des Völkermords an den europäischen Juden sowie Senatorin auf Lebenszeit, redete Mitte Mai 2024 vor dem Senat auf aufsehenerregende Weise gegen die Premierato-Reform an. Diese entwerte das Parlament, ohne die versprochene politische Stabilität zu bringen. Einen Monat später veröffentlichte der Verein Articolo 21, der sich dem Schutz der Meinungsfreiheit verschrieben hat, einen von über 180 Verfassungsrechtlern unterzeichneten Appell gegen das premierato und zur Unterstützung der Argumente Segres.

Über das premierato wird sicher noch länger leidenschaftlich gestritten werden. Ob es Realität wird, ist indes noch offen. Weil es sich bei dem Reformprojekt um eine Verfassungsänderung handelt, ist die Verabschiedung aufwendig und entsprechend langwierig: Auf die erste, im Juni abgehaltene Abstimmung im Senat wird zunächst eine in der Abgeordnetenkammer folgen. Dann gibt es eine zweite Abstimmungsrunde, wieder in beiden Kammern. Zwischen den Abstimmungen müssen jeweils mindestens drei Monate liegen. Stimmt am Ende eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten und Senatoren für die Reform, kann sie ohne Weiteres in Kraft treten. Stimmt eine absolute Mehrheit für sie, kann eine vergleichsweise kleine Anzahl an Bürgern oder Parlamentariern eine Volksabstimmung über sie beantragen. Aller Voraussicht nach wird es beim premierato zu einem solchen Referendum kommen. 2006 und 2016 sind bereits zwei Ministerpräsidenten mit Staatsreformplänen in Volksabstimmungen gescheitert: zunächst Silvio Berlusconi, jener Politunternehmer und Medienmagnat, an dem lange Zeit fast niemand im Land vorbeikam, und später Matteo Renzi, für den die Niederlage sogar das Ende seiner Amtszeit bedeutete.

Auch bei der autonomia differenziata wird einige Zeit vergehen, bis sichtbar wird, ob diese Reform Italiens Nord-Süd-Problem weiter verschärft, ob sie ein goldenes Zeitalter der regionalen Eigenständigkeit einläutet – oder ob sie kaum etwas ändern wird an den „italienischen Verhältnissen“. Jede Region, die fortan mehr Autonomie vom Zentralstaat will, muss das beim Ministerratspräsidium beantragen, also bei der Behörde hinter der Regierungschefin oder dem Regierungschef in Rom. Daraufhin sollen Verhandlungen zwischen Zentralstaat und Regionalregierung beginnen. Ob solche Verhandlungen jemals geführt werden, ist ebenfalls offen: Das Verfassungsgericht oder ein referendum abrogativo, eine Volksabstimmung zur Abschaffung des Gesetzes zur autonomia differenziata, könnten auch diese Reform noch kippen.

Parteienlandschaft nach Berlusconismo

Neben der politischen Aufregung rund um die Reformpläne sortiert sich gerade die Parteienlandschaft neu. Lang vorbei ist die Zeit des berlusconismo von Mitte der 1990er bis Anfang der 2010er Jahre, als die bestimmende politische Konfliktlinie jene zwischen den mittig-rechten Anhängern und den mittig-linken Gegnern Silvio Berlusconis war.

Über Italien hinweggezogen ist auch die Hochphase des europaskeptischen bis europafeindlichen Populismus. Die fetten Jahre der Anti-Parteien-Partei Movimento 5 Stelle (M5S, Fünf-Sterne-Bewegung) und der rechtsnationalen Lega – die mit dem Austritt Italiens aus der EU oder mindestens aus dem Euro liebäugelten und denen der russische Präsident teilweise näher schien als der italienische – hatten mit dem sensationellen Erfolg der M5S bei der Parlamentswahl 2013 begonnen. Die Partei des Komikers Beppe Grillo kam damals aus dem Stand auf rund 25 Prozent in beiden Parlamentskammern. Die populistische Welle schwoll weiter an, erreichte ihren Scheitelpunkt mit der Wahl 2018 und der anschließenden Bildung der Regierung aus M5S und Lega. Im August 2019 scheiterte Lega-Chef Matteo Salvini jedoch auf das Peinlichste daran, Regierungschef zu werden; die M5S regierte fortan mit den bislang als Teil der alten Elite verhassten Sozialdemokraten – und wurde ab 2021 Mitglied der Einheits-Krisenregierung Draghis. Bei der Wahl 2022 stürzte die M5S im Vergleich zu 2018 von rund 32 auf etwa 15 Prozent ab, die Lega von knapp 18 auf knapp acht Prozent.

Seit 2022 zeichnet sich in der italienischen Politik nach Meinung vieler Beobachter immer stärker ein nuovo bipolarismo ab, eine Spaltung zwischen einem erneuerten rechten und einem vergrößerten mittig-linken Block. Rechts ist die Lega zum Juniorpartner geschrumpft, aus Melonis FdI, der größten Fraktion dieses Blocks, sind indes kaum mehr europafeindliche Töne zu hören – und dafür Bekenntnisse zur NATO und zur Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Die Mitte-Links-Familie bindet inzwischen die M5S immer stärker ein, und auch den verlorenen Sohn Matteo Renzi, von 2014 bis 2016 sozialdemokratischer Ministerpräsident, zieht es mit seiner liberalen Partei Italia Viva offenbar in die Nähe seiner alten politischen Heimat.

Und als wäre dieser Wandel nicht schon tiefgreifend genug, werden die zwei neuen Blöcke der lange Zeit männerdominierten Politik in Rom von zwei Frauen angeführt, die mit traditionellen Geschlechterrollen brechen. Auf der Linken die 2023 zur sozialdemokratischen Parteichefin gewählte Elly Schlein, die ihre Bisexualität nie versteckt hat, aber auch kaum Aufhebens darum macht. Auf der Rechten Giorgia Meloni, die zwar regelmäßig in Reden ihre Rollen als mamma, Frau und Christin betont – die aber als karrierebewusste Mutter, die sich im Amt öffentlichkeitswirksam von ihrem Partner getrennt hat, mutmaßlich nach wie vor viele katholische Traditionalisten erschaudern lässt.

Entlang des neuen Links-rechts-Grabens fechten die Opposition um Schlein und das Regierungslager um Meloni wortgewaltige Kämpfe um die Zukunft Italiens aus: Bei Melonis Premierato-Reform stehe die italienische Demokratie auf dem Spiel, heißt es von links, die Opposition werde das Vorhaben „sogar mit den eigenen Körpern“ abwehren. Meloni spricht dagegen von der „Mutter aller Reformen“, ohne die sich die für Italien nötigen Veränderungen nicht ernsthaft angehen ließen.

Die autonomia differenziata preist der zum Regierungslager gehörende Regionalpräsident von Venetien, Luca Zaia, als Zeichen der „Wiedergeburt des Landes“ an und als „größte Chance für eine echte Reform“, die Italien habe. Die Opposition läuft ihrerseits Sturm gegen die riforma spacca-Italia, die „Spaltpilz-Reform“, die das Wohlstandsgefälle zwischen Norden und Süden des Landes noch steiler mache. Mitte Juni 2024, bei einer Abstimmung über das Autonomiegesetz im Senat, schwenkten Oppositionsabgeordnete aus Protest erst italienische Flaggen und stimmten den antifaschistischen Klassiker „Bella Ciao“ an, später schlug ein Abgeordneter aus dem Regierungslager einen M5S-Parlamentarier mit der Faust, der dem für die Reform verantwortlichen Minister Roberto Calderoli gerade eine Italien-Flagge überreichen wollte.

In dieser aufgeheizten Lage wird im Herbst 2024 in drei Regionen gewählt: in Ligurien, wo der bislang amtierende konservative Regionalpräsident Giovanni Toti im Frühjahr im Zuge eines Strafverfahrens wegen mutmaßlicher Korruption erst zweieinhalb Monate lang unter Hausarrest gestellt worden und dann zurückgetreten ist; in der Emilia-Romagna, die seit Jahrzehnten durchgehend von linken Präsidenten regiert wird; und in Umbrien, das bis 2019 ebenfalls eine linke Hochburg war, seither aber von Donatella Tesei von der rechtsnationalen Lega regiert wird. Es wirkt, als könnte Italien im Herbst 2024 vor einem weiteren Umbruch stehen.

Umtriebige Migrationspolitik

Stop agli sbarchi, Schluss mit den Migranten, die per Boot die italienischen Küsten erreichen: Das war in den Jahren vor dem Wahlsieg Melonis einer der beliebtesten Slogans ihrer Fratelli d’Italia. Im Wahlkampf 2022 hat sie sogar lauthals einen blocco navale versprochen, eine Seeblockade in Friedenszeiten, mit der die ungewollten Einwanderer ferngehalten werden sollten. Der Kampf gegen die immigrazione clandestina, gegen die „illegale Migration“, ist das Leib- und Magenthema Melonis und ihrer Partei.

Entsprechend umtriebig wirkt sie in der Migrationspolitik als Ministerpräsidentin. Zwar geht Meloni längst nicht so rabiat vor, wie sie im Wahlkampf geklungen hat – die Regeln für private Seenotretter hat die Regierung aber schon wenige Wochen nach ihrer Vereidigung erheblich verschärft. Schiffe, mit denen Menschen aus dem Mittelmeer gerettet wurden, müssen seither in dem Hafen einlaufen, den ihnen die Behörden zuweisen – und dürfen nicht mehr den nächstgelegenen ansteuern. Nach ihrem ersten Einsatz dürfen sie keine weiteren schiffbrüchigen Migranten aufnehmen.

Auch auf internationaler Bühne ist Meloni um den Eindruck rascher migrationspolitischer Fortschritte bemüht: Im März und Juli 2024 reiste die italienische Regierungschefin mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und diversen Regierungschefs anderer EU-Staaten öffentlichkeitswirksam nach Ägypten und Tunesien, um dort Abkommen zur Eindämmung der irregulären Migration nach Europa zu unterzeichnen. Mehrfach ist Meloni in Libyen gewesen, um die Partnerschaft mit den beiden rivalisierenden Regierungen des bürgerkriegsgeplagten Landes auszubauen.

Zugleich soll die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten grundsätzlich neu ausgerichtet werden: Piano Mattei, Mattei-Plan, so heißt die Strategie, in deren Rahmen Meloni die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern südlich des Mittelmeers verstärken und gleichzeitig möglichst viel unerwünschte Zuwanderung fernhalten will. Benannt ist das Vorhaben nach Enrico Mattei, dem 1962 unter ungeklärten Umständen gestorbenen Chef des staatlichen italienischen Energiekonzerns Eni. Der in Afrika bestens vernetzte und bei der Beschaffung von Erdöl gewiefte Mattei gilt bis heute als einer der Architekten des boom economico, des italienischen Wirtschaftswunders, durch das das Land zwischen Ende der 1950er und Mitte der 1960er Jahre zu einer der führenden Industrienationen wurde, was Millionen Italienern ungeahnten Wohlstand bescherte. Melonis Botschaft hinter der Namensgebung: Italien wird wieder wer, gerade auch im sogenannten globalen Süden.

In Albanien hat Meloni gemeinsam mit dem dortigen sozialistischen Ministerpräsidenten Edi Rama beschlossen, ein vom italienischen Staat verwaltetes Aufnahmezentrum für Migranten zu eröffnen. Eingereiste sollen dort registriert werden, bevor sie die EU erreichen.

Was in Ankündigungen und Plänen nach Tempo klingt, erweist sich in der Umsetzung jedoch als deutlich langwieriger. Das Aufnahmezentrum in Albanien, das im Mai 2024 seine Arbeit aufnehmen sollte, war Anfang August noch mehrere Wochen von der Eröffnung entfernt. Medien berichteten über chaotische Zustände bei der Auswahl und Vorbereitung des Personals. Und für den piano Mattei hat die italienische Regierung zunächst keine neuen Haushaltsmittel vorgesehen, sondern lediglich Geld aus anderen Finanztöpfen umgewidmet.

Was den Kampf gegen die irreguläre Migration angeht, scheinen die Migrationsabkommen mit Tunesien und Libyen zwar vorerst Wirkung zu zeigen: Laut italienischem Innenministerium sind 2024 bis Mitte August rund 38000 Flüchtlinge über das Mittelmeer in Italien angekommen, was im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, als 105000 Menschen ankamen, einen erheblichen Rückgang bedeutet. Wie lang dieser Effekt anhält, ist Experten zufolge aber fraglich, zumal er mit schweren Menschenrechtsverletzungen gegen die weitgehend schutzlosen Migranten in Nordafrika erkauft ist.

Die fragwürdige Kunst des Barcamenarsi

Italien scheint im Herbst 2024 politisch zu rasen und gleichzeitig stillzustehen. Dazu passt auch die Außenpolitik der Regierung Meloni, zu der am besten wohl das schwer übersetzbare italienische Wort barcamenarsi passt: das Boot hin- und hersteuern, um nicht abzudriften.

Auch unter der rechtesten Regierung der republikanischen Geschichte bleibt Italien im Kielwasser des EU-Mainstreams. Aber innerhalb des Regierungslagers ist keine Strategie erkennbar für den Platz, den Italien in der Welt einnehmen soll. So unterstützt Italien auch unter Meloni die Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg – weder Außenminister Antonio Tajani noch Verteidigungsminister Guido Crosetto wollen aber, dass Kyjiw gegen die Stellungen auf russischem Gebiet vorgeht, von denen aus das Putin-Regime Marschflugkörper, Drohnen und Jets mit Gleitbomben starten lässt. Und Verkehrsminister, Vize-Regierungschef und Lega-Vorsitzender Salvini bleibt einer der mächtigsten Putinversteher der Europäischen Union.

Hin und her schwankt auch die Haltung zur EU-Führung: Erst stellt Meloni monatelang ihre angebliche Nähe zu Kommissionspräsidentin von der Leyen zur Schau – dann stimmen die Abgeordneten ihrer Partei (erfolglos) gegen von der Leyens Wiederwahl. Die Zweifel, ob dieses barcamenarsi auf internationaler Bühne für Italien funktioniert, sind zuletzt lauter geworden – insbesondere, seit Mitte Juli NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Spanier Javier Colomina zum ersten Sonderbeauftragen für die Mittelmeerregion ernannt hat und nicht, wie von Rom gewünscht, einen Italiener.

Innerhalb Italiens bedeutet der rasende Stillstand der Politik auch quälende Ungewissheit: für die gleichgeschlechtlichen Paare mit Kindern etwa, die seit einem Rundschreiben des Innenministeriums im Januar 2023 in Ungewissheit darüber leben, ob weiterhin beide Partner als Eltern gelten. Überhaupt: Die Frage, was es wirklich bedeutet, dass Meloni eine postfaschistische Regierungschefin ist, ist längst nicht beantwortet. Im Juni 2024 hat das Nachrichtenportal „fanpage.it“ nach einer investigativen Recherche innerhalb der Gioventù Nazionale, der Parteijugend der FdI, zwei Videos veröffentlicht, die dokumentieren, wie sich führende Vertreterinnen und Vertreter des Parteinachwuchses offen rassistisch und antisemitisch äußern. Auch der „römische Gruß“ mit erhobenem Arm zu Ehren des faschistischen Gewaltherrschers Benito Mussolini ist zu sehen. Nach der Veröffentlichung passierte zweierlei: Einerseits mussten führende Vertreterinnen der Gioventù Nazionale ihren Hut nehmen, und Meloni erklärte persönlich, es gebe in ihrer Partei „keinen Platz“ für Rassismus, Antisemitismus oder „Leute, die sich nach den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts zurücksehnen“. Andererseits giftete die Regierungschefin gegen das Nachrichtenportal und behauptete wahrheitswidrig, dass nie zuvor in der italienischen Demokratie Journalisten undercover bei einer Partei recherchiert hätten.

Viel Polemica, wenig Ringen um die wirklichen Dramen

Kann Italien sich diesen rasenden Stillstand leisten? Il paese è sempre lo stesso – das Land ist immer dasselbe: Wie seit Jahrzehnten spielen auch im Herbst 2024 viele der Themen, die den Alltag von Millionen Italienerinnen und Italienern beschweren, kaum eine Rolle in der politischen Debatte. Weite Teile Süditaliens haben im Sommer eine verheerende Dürre erlebt, in den Häusern mancher Gemeinden Siziliens ist wochenlang kein Trinkwasser aus den Leitungen gekommen – aber die polemiche zwischen Regierung und Opposition drehen sich um premierato, autonomia differenziata – oder die Frage, ob es tatsächlich Neofaschisten waren, die im August 1980 das Attentat auf den Bahnhof von Bologna mit 85 Toten verübten.

Der nationale Gesundheitsdienst, der in weiten Teilen der Bevölkerung bis heute als wichtigste Errungenschaft des italienischen Wohlfahrtsstaats gilt, hat mit langen Wartezeiten und akutem Personalmangel zu kämpfen – und ist von so starken regionalen Unterschieden geprägt, dass aus manchen süditalienischen Regionen rund ein Drittel der Menschen für ärztliche Behandlungen Richtung Norden reist. Die Durchschnittslöhne in Italien sind im europäischen Vergleich nicht nur bemerkenswert niedrig – Italien ist sogar das einzige Land der EU, in dem Menschen im Schnitt heute inflationsbereinigt weniger verdienen als 1990.

Der inverno demografico, der demografische Wandel, hat das Land im Griff: Die Geburtenrate in Italien ist seit Jahren so niedrig wie in keinem anderen EU-Mitgliedstaat. Und politische Maßnahmen, die daran etwas ändern könnten – etwa eine Erhöhung der Zahl der Kitaplätze für berufstätige Familien –, sind nicht in Sicht. Die Regierung hat auch keinen Plan, um die gezielte Zuwanderung jener Fachkräfte zu fördern, die in Italien bitter benötigt werden, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Hotels und Speditionen.

Die Staatsverschuldung ist erdrückend hoch, mittlerweile beträgt sie fast 140 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Neuverschuldungsquote lag 2023 bei über 7 Prozent – und ist somit mehr als doppelt so hoch wie die Grenzwerte des EU-Stabilitätspakts. Im Juni 2024 hat die EU-Kommission den Weg für Defizitverfahren gegen Italien und sechs weitere EU-Staaten frei gemacht.

Italien sei ein Land der Schlafwandler, so hat das bekannteste Sozialforschungsinstitut des Landes, das Censis, Ende 2023 seine jährliche Analyse zum Zustand der Gesellschaft beschrieben. Ein Land, so heißt es weiter, dessen Bürgerinnen und Bürger sich einerseits größtenteils kaum für die drängendsten Probleme interessierten, allen voran die Alterung der Gesellschaft, die aber andererseits überzeugt seien, dass es mit Italien bergab gehe. Die Censis-Forscher schreiben, es fehle dem Land an „rationalem Kalkül“, das eigentlich nötig wäre, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern.

So ist es auch kaum verwunderlich, dass in Italien immer weniger Menschen wählen gehen. Seit 2006 ist bei nationalen Parlamentswahlen die Beteiligung im Sinkflug, bei der Europawahl im Juni 2024 hat erstmals in der demokratischen Geschichte des Landes weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten an einem landesweiten Urnengang teilgenommen.

Ein Land, das weiterhin überraschen kann

Italien im Herbst 2024: Das ist bei all den Problemen, bei all der miserablen Laune aber auch das Land, in dem die Beschäftigungsquote so hoch ist wie nie zuvor. Es ist das Land, dessen Volleyball-Nationalmannschaft, in der junge Italienerinnen mit nigerianischen, ivorischen, russischen und deutschen Wurzeln spielen, bei den Olympischen Spielen in Paris sensationell Gold gewann. Als Roberto Vannacci, Europawahl-Spitzenkandidat der rechtsnationalen Lega, der Weltklasse-Volleyballerin und Schwarzen Italienerin Paola Egonu nach dem Sieg das Italienischsein absprechen wollte, erntete er scharfe Kritik, in bemerkenswerter Deutlichkeit auch von hochrangigen Politikern des Regierungslagers.

Wer sich die Mühe macht, tiefer einzutauchen in den Censis-Bericht über die Stimmung im Land, entdeckt auch, dass in Italien – das noch nie eine Vorreiterrolle hatte beim Erkämpfen von Bürgerrechten – mittlerweile eine Mehrheit der Menschen für die Ehe für alle ist. Auch die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare wird mittlerweile von mehr als der Hälfte der Bevölkerung befürwortet – und rund drei Viertel der Menschen im Land möchten, dass in Italien geborene Kinder leichter die italienische Staatsbürgerschaft erhalten können.

Kurz vor Ferragosto 2024, dem höchsten Feiertag des italienischen Sommers, dem Tag des maximalen Urlaubsmodus all’italiana, rief der Chefredakteur der liberalen Zeitung „Il Foglio“, Claudio Cerasa, seinen Landsleuten Mut zu: In einem Leitartikel forderte er die Italienerinnen und Italiener auf, sie mögen doch zu „optimistischen Botschaftern“ werden für ihr Heimatland. „Man kann zuversichtlich in die Zukunft des Landes blicken, auch wenn man sich nicht durch das politische Projekt der Rechten vertreten fühlt.“ Anschließend listete er vier überraschende Fakten auf, die viele desillusionierte Bürger dieses Sehnsuchtslands der westlichen Welt nicht im Kopf haben dürften: Der Steuerbetrug bleibt ein großes Problem in Italien – laut EU-Kommission ist er aber binnen fünf Jahren um fünf Prozentpunkte zurückgegangen; die italienische Industrie ächzt unter vielen Problemen – der Wert italienischer Produkte, die ins Ausland exportiert werden, hat aber 2023 ein neues Rekordniveau erreicht; die Justiz mag weiterhin chronisch überlastet sein – aber die Zahl der anhängigen Gerichtsverfahren ist in Italien gesunken; der Kampf gegen Korruption bleibt mühsam – aber die Anzahl der erfassten Korruptionsstraftaten in Italien ist in den vergangenen 20 Jahren drastisch gesunken, bei Amtsmissbrauch sogar um knapp 56 Prozent.

Und dann, mitten in den besonderen Tagen rund um Ferragosto, an denen das Alltägliche pausiert, geschieht sogar ein kleines politisches Wunder. Eine der drei großen Parteien der Koalition in Rom facht eine Debatte an, die gerade von dieser Regierung fast niemand erwartet hätte: Forza Italia, die 1994 von Berlusconi gegründete Partei, will einen Gesetzentwurf für das ius scholae anregen, den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft für Kinder aus Einwandererfamilien, die ihre Schulausbildung in Italien abgeschlossen haben.

Ach, Italien? Man kann den Satz auch als Frage stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Sonderstatut ist im italienischen Staatsrecht eine Regionalverfassung, die einer bestimmten Region eine besondere Form der Eigenständigkeit gewährt. Ein solches Sonderstatut haben drei Regionen mit Sprachminderheiten (Aostatal, Trentino-Südtirol, Friaul-Julisch Venetien) und die zwei Inselregionen Sardinien und Sizilien.

  2. Zur Premierato-Reform siehe die Folge 21 meines Podcasts „Kurz gesagt: Italien“, 25.7.2024, Externer Link: https://kurzgesagt-italien.podigee.io/21-premierato. Siehe auch den Beitrag von Francesco Palermo in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  3. Salvinis vergeblicher Griff nach der Macht ist inzwischen unter dem Schlagwort papeete bekannt: Nach dem sensationellen Erfolg seiner Partei bei der Europawahl 2019 versuchte der Lega-Chef ein Misstrauensvotum gegen M5S-Regierungschef Giuseppe Conte zu erwirken. Er scheiterte jedoch kläglich, Conte blieb Regierungschef und arbeitete fortan mit den Sozialdemokraten des Partito Democratico zusammen, die Lega flog aus der Koalition. Siehe dazu „Kurz gesagt: Italien“, 1.8.2022, Externer Link: https://kurzgesagt-italien.podigee.io/3-papeete.

  4. Hier sind keine genauen Prozentzahlen angegeben, da bei den Parlamentswahlen Senat und Abgeordnetenkammer mit getrennten Stimmzetteln und nach unterschiedlichen Wahlgesetzen gewählt werden. Die Ergebnisse für die Parlamentskammern unterscheiden sich daher.

  5. Zur italienischen Migrationspolitik siehe auch den Beitrag von Luca Barana in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  6. Zur wirtschaftlichen Lage Italiens siehe auch den Beitrag von Alexander Grasse in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

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ist Politikjournalist für die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP). Seit 2022 veröffentlicht er den Podcast "Kurz gesagt: Italien", im Juni 2024 erschien im Suhrkamp-Verlag das gleichnamige Buch zum Podcast.