Am 5. Januar 2021 geschah in Georgia Ungewöhnliches. In einem Staat, in dem die Politik lange Zeit von weißer Vorherrschaft geprägt war, gingen so viele Menschen wie noch nie zur Wahl, um den ersten afroamerikanischen und den ersten jüdischen Senator ihres Staats zu wählen. Ersterer, Reverend Raphael Warnock, war erst der zweite Schwarze, der in den Südstaaten seit der Reconstruction, der Wiedereingliederung der 1860/61 aus den USA ausgetretenen Staaten, in den US-Senat gewählt wurde, in den er nun dem Republikaner Tim Scott aus South Carolina folgte. Am Wahlabend stellte er Anhängern seine Mutter, eine frühere Kleinpächterin, mit den Worten vor: „Die 82-jährigen Hände, die es gewohnt waren, die Baumwolle von anderen zu pflücken, haben ihren jüngsten Sohn zum Senator der Vereinigten Staaten gemacht.“
Am nächsten Tag, dem 6. Januar, erlebten die Amerikaner etwas scheinbar Unvorstellbares: einen von ihrem Präsidenten angezettelten gewalttätigen Aufstand. Vier Jahre des Niedergangs der Demokratie waren in einen versuchten Staatsstreich gemündet. Die Angst, Verwirrung und Empörung, die viele Amerikaner empfanden, während sie die Ereignisse verfolgten, entsprachen den Gefühlen, die Menschen in anderen Ländern ausgedrückt hatten, als deren Demokratien sich auflösten. Was sie gerade miterlebt hatten – die Zunahme politisch motivierter Gewalt, die Bedrohung von Wahlhelfern, die Anstrengungen, den Menschen das Wählen zu erschweren, der Versuch des Präsidenten, die Wahlergebnisse umzustürzen –, stellte einen demokratischen Rückschritt dar. Die amerikanische Republik war zwischen 2016 und 2021 nicht zusammengebrochen, aber sie war unbestreitbar weniger demokratisch geworden.
Am 5./6. Januar 2021 wurden innerhalb von 24 Stunden erst das Versprechen der amerikanischen Demokratie und dann die Gefahr, in der sie schwebt, allen lebendig vor Augen geführt: Dem Aufscheinen einer multiethnischen demokratischen Zukunft war ein nahezu undenkbarer Angriff auf das Verfassungssystem der Vereinigten Staaten gefolgt.
Fortschritte und Rückschläge
Eine multiethnische Demokratie ist schwer zu erreichen. Nur wenigen Gesellschaften ist es gelungen. Sie ist ein politisches System mit regulären, freien und fairen Wahlen, in denen erwachsene Staatsbürger aller ethnischen Gruppen sowohl das Wahlrecht als auch grundlegende bürgerliche Freiheiten besitzen, wie die Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Es reicht nicht aus, dass diese Freiheiten auf dem Papier existieren: Die Angehörigen jeder ethnischen Herkunft müssen von Gesetzes wegen in gleicher Weise unter dem Schutz der demokratischen und bürgerlichen Rechte stehen. Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und das Wahlrechtsgesetz von 1965 schufen das rechtliche Fundament einer multiethnischen Demokratie in Amerika. Dennoch haben wir sie bis heute nicht erreicht. So ist beispielsweise der Zugang zur Wahl weiterhin ungleich, und nicht-weiße Staatsbürger werden immer noch nicht in gleicher Weise wie Weiße vom Gesetz geschützt.
Aber auch wenn Amerika noch keine wahre multiethnische Demokratie ist, ist es dabei, eine zu werden. In dem halben Jahrhundert zwischen der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes und Donald Trumps Wahl zum Präsidenten hat sich die amerikanische Gesellschaft tiefgreifend verändert. Eine massive Einwanderungswelle formte eine zuvor überwiegend weiße, christliche Gesellschaft in eine diverse, multiethnische um.
Aber gerade als dieses neue demokratische Experiment Fuß zu fassen begann, erlebte Amerika einen autoritären Rückschlag von solchem Ausmaß, dass die Fundamente der Republik erschüttert wurden und die amerikanischen Verbündeten in aller Welt sich besorgt fragten, ob das Land überhaupt noch eine demokratische Zukunft habe. Bedeutende Schritte demokratischer Inklusion rufen häufig heftige – und sogar autoritäre – Reaktionen hervor. Aber der Angriff auf die amerikanische Demokratie übertraf alles, was wir uns 2017, als wir unser Buch „Wie Demokratien sterben“ schrieben, vorstellen konnten.
Das Ausmaß des demokratischen Rückschritts war atemberaubend. Organisationen, die den Gesundheitszustand von Demokratien in aller Welt zahlenmäßig erfassen, haben ihn bewertet. So gibt Freedom House in seinem globalen Freiheitsindex Ländern jedes Jahr Punkte von 0 bis 100, wobei 100 die demokratische Höchstnote darstellt. 2015 erhielten die Vereinigten Staaten 90 Punkte, was etwa der Bewertung von Ländern wie Kanada, Italien, Frankreich, Deutschland, Japan, Spanien und Großbritannien entsprach. Danach sank der Wert stetig bis auf 83 im Jahr 2021. Damit lag Amerika nicht nur hinter sämtlichen etablierten Demokratien Westeuropas, sondern auch hinter neuen oder historisch schwierigen Demokratien wie Argentinien, Tschechien, Litauen und Taiwan.
Dies war eine außerordentliche Wende. Nach so gut wie jeder großen wissenschaftlichen Darstellung dessen, was Demokratien gedeihen lässt, hätten die Vereinigten Staaten gegen Rückschläge immun sein müssen. Wissenschaftler haben in Bezug auf moderne politische Systeme zwei Quasigesetze gefunden: Reiche Demokratien sterben nicht, und alte Demokratien sterben nicht.
Man ist versucht, die Trump-Ära abzuhaken. Immerhin ist Präsident Trump nicht wiedergewählt worden, und seine Versuche, das Ergebnis der verlorenen Wahl anzufechten, sind gescheitert. In den Zwischenwahlen zum Kongress von 2022 wurden in wichtigen Swingstates zudem die gefährlichsten Wahlleugner besiegt. Es hat den Anschein, als wären wir der Kugel ausgewichen – als hätte das System letzten Endes funktioniert. Und als müssten wir uns, da Trumps Einfluss auf die Republikanische Partei nachlässt, nicht mehr so viele Sorgen über das Schicksal unserer Demokratie machen. Vielleicht war die Krise gar nicht so schlimm, wie wir anfangs fürchteten. Vielleicht war die Demokratie gar nicht dabei, zugrunde zu gehen.
Dieser Gedanke ist verständlich. Für diejenigen, die von den nicht enden wollenden Krisen der Trump-Ära genug hatten, war die Theorie der einzelnen Kugel (der man ausgewichen war) beruhigend. Leider ist sie irreführend. Die Gefahr für die amerikanische Demokratie ging nie nur von einem „starken“ Mann mit sektenartiger Gefolgschaft aus. Die Probleme reichen darüber hinaus. Tatsächlich sind sie tief in unserer Politik verwurzelt. Unsere Demokratie bleibt verwundbar, solange wir diese tiefgreifenden Probleme nicht anpacken. Dafür müssen wir erkennen, warum Amerika für einen demokratischen Rückschlag derart anfällig war.
Tyrannei der Minderheit
Diese Frage zwingt uns, die Hauptinstitutionen unserer Demokratie genauer unter die Lupe zu nehmen. Reaktionäre Wähler sind in den Vereinigten Staaten ebenso in der Minderheit wie in Europa. Dies ist ein wichtiger – und häufig übersehener – Punkt. Die Republikanische Partei hat unter Trump, wie rechtsextreme Bewegungen in europäischen Ländern, stets nur eine politische Minderheit repräsentiert. Aber im Gegensatz zu den rechtsextremen Parteien in Europa gelang es ihr, die nationale Regierung zu stellen.
Dies führt uns zu einer beunruhigenden Wahrheit. Das Problem, mit dem wir es heute zu tun haben, ist zum Teil in etwas begründet, das viele von uns verehren: in unserer Verfassung. Die Vereinigten Staaten besitzen die älteste geschriebene Verfassung der Welt. Als brillantes Werk politischer Handwerkskunst bildet sie das Fundament von Stabilität und Prosperität und hat über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg die Macht allzu ehrgeiziger Präsidenten in Schach gehalten. Aber ihre Mängel gefährden heute unsere Demokratie.
Bekannte Denker des 18. und 19. Jahrhunderts, von Edmund Burke über John Adams und John Stuart Mill bis zu Alexis de Tocqueville, befürchteten, dass die Demokratie zur „Tyrannei der Mehrheit“ werden könnte – dass sie es der Mehrheit erlauben würde, auf den Rechten der wenigen herumzutrampeln. Dies kann ein echtes Problem sein: Im 21. Jahrhundert haben regierende Mehrheiten in Venezuela und Ungarn die Demokratie untergraben, und in Israel besteht die Gefahr, dass sie es tun. Aber das politische System der Vereinigten Staaten hat die Macht von Mehrheiten stets in Schranken gehalten. Die amerikanische Demokratie steht eher vor dem entgegengesetzten Problem: Wählermehrheiten können häufig nicht die Macht gewinnen, und wenn sie es tun, können sie häufig nicht regieren. Heute besteht die akute Gefahr in der Herrschaft einer Minderheit. Während die Gründer der Vereinigten Staaten die Republik vor der Scylla der Mehrheitstyrannei bewahrten, haben sie die Charybdis der Minderheitsherrschaft außer Acht gelassen.
Demokratisierung der Demokratie
Aber es gibt Wege nach vorn. Wenn wir die amerikanische Demokratie retten wollen, müssen wir tiefergreifende Maßnahmen ins Auge fassen und zu den Grundprinzipien von James Madison und anderen zurückkehren. Extremistische Minderheiten überwindet man am besten im Wettstreit um Wähler. Madison war überzeugt, dass die Notwendigkeit, Wählermehrheiten zu gewinnen, „finstere“ politische Tendenzen im Zaum halten würde. Aber dafür ist es notwendig, dass in Wahlen erzielte Stimmenmehrheiten auch tatsächlich den Sieg davontragen. Damit dies geschieht, müssen die Vereinigten Staaten ihre Institutionen reformieren.
Die übermäßig nichtmajoritären Institutionen der Vereinigten Staaten bevorteilen autoritäre Minderheiten und beschwören die Gefahr der Minderheitsherrschaft herauf. Um sie zu bannen, müssen wir auf die Demokratie setzen, das heißt, Sphären übertriebenen Minderheitsschutzes abschaffen und auf allen Ebenen von Staat und Regierung Mehrheiten stärken; den verfassungsmäßigen Protektionismus beenden und einen wirklichen politischen Wettstreit entfachen; die politische Machtverteilung stärker dem Wählerwillen angleichen und unsere Politiker zwingen, deutlicher auf Mehrheiten der Amerikaner einzugehen und ihnen gegenüber Rechenschaft abzulegen. Kurz, wir müssen unsere Demokratie demokratisieren, indem wir lange überfällige Verfassungs- und Wahlrechtsreformen durchführen, die die Vereinigten Staaten wenigstens auf die Höhe anderer etablierter Demokratien heben.
Drei große Reformbereiche scheinen uns relevant: das Wahlrecht, die Übersetzung des Mehrheitswillens in politische Macht und die institutionelle Stärkung regierender Mehrheiten.
Garantie des Wahlrechts
Das Wahlrecht ist ein Kernelement jeder modernen Definition der Demokratie. In repräsentativen Demokratien wählen die Bürger ihre politischen Führer. Diese sind nur dann demokratisch gewählt, wenn alle Bürger wählen dürfen. Wenn also wählen zu gehen für manche Bürger kostspielig oder schwierig ist – wenn sie stundenlang anstehen oder über weite Entfernungen anreisen müssen –, kann die Wahl nicht vollkommen demokratisch sein.
In den Vereinigten Staaten gibt es, zur Überraschung vieler, kein verfassungsmäßig oder auch nur gesetzlich garantiertes Wahlrecht.
Wählen zu gehen sollte in den Vereinigten Staaten ebenso einfach sein wie in den Demokratien in Europa und anderswo. Deshalb sollten wir:
einen Verfassungszusatz beschließen, der allen Staatsbürgern das Wahlrecht garantiert, wodurch Wahlrestriktionen wirkungsvoll bekämpft werden können;
eine automatische Wahlregistrierung einführen, die alle Staatsbürger erfasst, sobald sie achtzehn Jahre alt geworden sind;
die Früh- und Fernwahlmöglichkeit per E-Mail für Bürger aller Bundesstaaten ausweiten;
Wahlen auf einen Sonntag oder nationalen Feiertag legen, damit niemand durch die Arbeit davon abgehalten wird, wählen zu gehen;
Straftätern, die ihre Strafe verbüßt haben, das Wahlrecht zurückgeben (ohne zusätzliches Bußgeld oder Gebühren);
den nationalen Wahlrechtsschutz wiederherstellen; im Geist des Wahlrechtsgesetzes von 1965, das der Oberste Gerichtshof 2013 teilweise kassiert hat, sollten Änderungen der Wahlbestimmungen und Wahldurchführung der Aufsicht des Bundes unterliegen;
das gegenwärtige System der parteibestimmten Wahlorganisation durch eines ersetzen, das die Wahlorganisation professionellen, unparteiischen Beamten überlässt.
Mehrheitswille und Wahlausgang
Wer die meisten Stimmen erhalten hat, sollte auch der Wahlsieger sein. Leider ist dies in amerikanischen Präsidentschafts-, Senats- und einigen einzelstaatlichen Wahlen regelmäßig nicht der Fall. Zwischen 1992 und 2020 beispielsweise hat die Republikanische Partei nur ein einziges Mal, 2004, eine Mehrheit der Wählerstimmen bei Präsidentschaftswahlen gewonnen – und doch sind wegen der Verzerrungen des Wahlsystems republikanische Kandidaten drei Mal als Sieger aus der Wahl hervorgegangen, sodass die Partei in zwölf dieser 28 Jahre den Präsidenten stellte. Um zu erreichen, dass der Wahlgewinner auch tatsächlich regiert, sollten wir:
das Wahlmännerkollegium abschaffen und stattdessen die nationale Direktwahl einführen; keine andere Präsidialdemokratie lässt zu, dass der in der Direktwahl unterlegene Kandidat Präsident wird; ein entsprechender Verfassungszusatz ist 1970 nur knapp gescheitert;
den Senat reformieren, sodass die Zahl der pro Bundesstaat gewählten Senatoren in etwa dessen Bevölkerungsanteil entspricht (wie in Deutschland); Kalifornien und Texas sollten mehr Senatoren wählen als Vermont und Wyoming;
das Mehrheitswahlsystem, das heißt die Wahl eines einzelnen Kandidaten für das US-Repräsentantenhaus und die Staatsparlamente pro Wahlbezirk, durch eine Form des Verhältniswahlrechts ersetzen, das die Wahl mehrerer Kandidaten in vergrößerten Wahlbezirken vorsieht und die Mandate unter den Parteien nach ihrem Stimmenanteil aufteilt;
da die Verhältniswahl dafür sorgen würde, dass die Sitzverteilung im Kongress stärker dem Wählerwillen entspräche, würde es auch das Problem der "fabrizierten Mehrheiten", die Parteien zu einer Parlamentsmehrheit verhelfen, die sie an der Wahlurne nicht gewonnen haben, aus der Welt schaffen; das System der Verhältniswahl behandelt, mit den Worten des Politologen Lee Drutman, „alle Wähler gleich, unabhängig davon, wo sie leben“, und es behandelt „alle Parteien gleich, unabhängig davon, wo ihre Wähler leben“; die parteiliche Wahlbezirksmanipulation beenden, indem man unabhängige Wahlbezirkskommissionen bildet, wie es sie in Kalifornien, Colorado und Michigan bereits gibt;
das sogenannte Abgrenzungsgesetz von 1929 aufheben, das die Zahl der Repräsentantenhaussitze auf 425 beschränkt, und zu dessen ursprünglichem Entwurf zurückkehren, der eine dem Bevölkerungswachstum entsprechende Vergrößerung vorsah; gegenwärtig ist das Verhältnis zwischen der Zahl der Wahlberechtigten und der Zahl der Abgeordneten des Repräsentantenhauses fast fünfmal so groß wie in allen europäischen Demokratien;
eine Vergrößerung des Kongresses würde die Repräsentanten in größere Nähe zu ihren Wählern bringen und, wenn das Wahlmännerkollegium und die jetzige Senatsstruktur bestehen bleiben, die Schieflage zugunsten kleiner Bundesstaaten in Ersterem verringern.
Stärkung regierender Mehrheiten
Damit Mehrheiten auch wirklich regieren können, müssten wir Maßnahmen ergreifen, die Parlamentsmehrheiten auf Kosten nichtmajoritärer legislativer und juristischer Institutionen mehr Macht verleihen. Wir könnten zum Beispiel:
den Senatsfilibuster
abschaffen (wofür weder eine Verfassungs- noch eine Gesetzesänderung nötig wäre) und damit parteilichen Minderheiten die Möglichkeit nehmen, wiederholt und ständig Parlamentsmehrheiten zu behindern; ein solches Minderheitsveto gibt es in keiner anderen etablierten Demokratie; Amtszeitbegrenzungen (von vielleicht 12 oder 18 Jahren) für Richter am Obersten Gerichtshof einführen und zugleich das Berufungsverfahren regeln (indem man jedem Präsidenten eine bestimmte Zahl von Berufungen pro Amtszeit gestattet); durch eine solche Reform würden die Vereinigten Staaten zu den anderen großen Demokratien der Welt aufschließen; außerdem würden sie den intergenerationellen Gegenmajoritarismus des Obersten Gerichtshofs abmildern;
Verfassungsänderungen durch die Abschaffung der Ratifizierungsquote von drei Viertel der Bundesstaaten erleichtern; das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit von zwei Dritteln sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat brächte die Vereinigten Staaten auf eine Höhe nicht nur mit den meisten anderen etablierten Demokratien, einschließlich föderaler Demokratien wie Deutschland und Indien, sondern auch mit einigen US-Bundesstaaten.
Diese Reformen hätten eine simple, aber wirkmächtige Folge: Sie würden Mehrheiten ermöglichen, an die Macht zu gelangen und zu regieren. Sie würden nicht nur eine Minderheitsherrschaft verhindern, sondern auch durch die Entfesselung der Wettbewerbsdynamik der Demokratie verfassungsmäßigen Protektionismus beseitigen. Wichtig ist auch, dass sie die Republikaner nötigen würden, breitere Bündnisse zu schließen, um Wahlen zu gewinnen, und diese Bündnisse wären, dem heutigen Amerika entsprechend, von größerer Diversität geprägt, was wiederum den Einfluss der extremsten Elemente der Republikanischen Partei verringern würde. Eine diversere Republikanische Partei, die in der Lage wäre, mit fairen Mitteln nationale Mehrheiten zu gewinnen, würde zwar die Wahlaussichten der Demokratischen Partei trüben, aber für die amerikanische Demokratie wäre es eine gute Nachricht.
Auch wenn viele unserer Vorschläge wahrscheinlich in naher Zukunft nicht realisiert werden dürften, ist es überaus wichtig, dass Ideen für eine Verfassungsreform Eingang in die breite politische Debatte finden. Die mächtigste Waffe gegen Veränderungen ist das Schweigen. Wenn eine Idee weithin als unmöglich gilt, Politiker sie nie erwähnen, Zeitungen sie ignorieren, Lehrer sie nicht ansprechen, Wissenschaftler aus Furcht, für naiv oder weltfremd gehalten zu werden, sich nicht mit ihr befassen – kurz, wenn eine ehrgeizige Idee „undenkbar “wird –, ist die Schlacht verloren. Nichtreform wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Dass eine Idee heute nicht ernst genommen wird, heißt nicht, dass sie nicht ernst genommen werden sollte – oder dass man sie auch in Zukunft nicht ernst nehmen wird. Im frühen 19. Jahrhundert war die Idee der Beendigung der Sklaverei für viele Amerikaner undenkbar. Als in den 1840ern die Frauenwahlrechtsbewegung entstand, durften Frauen nirgendwo auf der Welt wählen. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hielt man in Amerika den Gedanken des Frauenwahlrechts weithin für absurd. Und noch Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg galten Gleichbehandlung und Bürgerrechte als unrealisierbar, wenn nicht völlig unmöglich. In jedem dieser Fälle änderte sich diese Haltung radikal. Aber damit dies geschah, musste jemand die öffentliche Debatte eröffnen.
Im Unterschied zu den Bürgern anderer etablierter Demokratien neigen Amerikaner dazu, den Gedanken von sich zu weisen, dass ihre Verfassung Mängel haben könnte, die behoben werden sollten, oder dass sie in Teilen vielleicht unzeitgemäß sein könnte. Wie der Rechtswissenschaftler Aziz Rana bemerkt, stehen viele Amerikaner der Verfassung mit „fast religiöser Verehrung“ gegenüber.
Demokratische Legitimität
Institutionen, die sich nicht anpassen, können noch Jahre oder Jahrzehnte weiterhinken. Aber am Ende werden sie altersschwach, und schließlich werden sie die Legitimität des politischen Systems untergraben. Dies ist im 21. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten geschehen. 1995 waren weniger als 25 Prozent der Amerikaner mit ihrer Demokratie unzufrieden. Diese Zahl ist in jüngster Zeit steil angestiegen: 2020 lag sie bei 55 Prozent.
Demokratische Reformen erfordern ständigen politischen Druck. Bedeutende Veränderungen werden für gewöhnlich von nachhaltigen sozialen Bewegungen vorangetrieben – breiten Bündnissen von Bürgern, deren Tätigkeit den Fokus der öffentlichen Debatte und schließlich das politische Machtgleichgewicht in Bezug auf die jeweilige Frage verschiebt.
Und soziale Bewegungen können die wahltaktischen Überlegungen von Politikern beeinflussen, indem sie reformwillige Wähler mobilisieren und die Verteidiger des Status quo diskreditieren. Im Fall der Bürgerrechtsbewegung stand die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) an der Spitze des rechtlichen Kampfs, aber die Basiskampagne wurde von Organisationen wie der Southern Christian Leadership Conference mit ihrem riesigen Kirchennetzwerk und dem Student Nonviolent Coordinating Committee getragen.
Politiker wie Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson wurden nicht von sich aus zu Reformern. Vielmehr setzten sie sich erst für inklusive Reformen ein, als große soziale Bewegungen ihr politisches Kalkül beeinflussten. Wilson sah sich dem Druck von Progressiven aus der Mittelschicht der Nordstaaten ausgesetzt, von denen viele seinen Gegner Theodore Roosevelt unterstützten. Zum Frauenwahlrecht „bekehrte“ er sich während seiner Präsidentschaft erst, nachdem Frauenrechtlerinnen in seinem Heimatstaat New Jersey 1915 ein Referendum zu dieser Frage durchgesetzt hatten.
Jede der genannten Reformepisoden war das Ergebnis eines langen, mühseligen Kampfs. Die Reformbewegungen brauchten Jahrzehnte, um ihr Ziel zu erreichen, und mussten dabei enorme Hürden überwinden. Erfolgreiche Bewegungen müssen lernen, mit Rückschlägen fertigzuwerden, einschließlich Wahlniederlagen, interner Streitigkeiten, unerwarteter Führungswechsel und die Meinungen spaltender ausländischer Kriege.
Was wir heute brauchen, ist also nicht nur eine demokratische Agenda, sondern auch eine demokratische Reformbewegung, die in der Lage ist, in einer unermüdlichen Kampagne landesweit die unterschiedlichsten Schichten und Gruppen zu mobilisieren und so die Vorstellungskraft zu entzünden und die öffentliche Debatte neu auszurichten.
Das mag viel verlangt sein, aber die Anfänge einer solchen Bewegung sind bereits zu beobachten. Die Black-Lives-Matter-Kampagne, die 2013 nach dem Freispruch für den Mörder des unbewaffneten Schwarzen Teenagers Trayvon Martin entstand, hat Millionen von Amerikanern für ein Kernprinzip der Demokratie mobilisiert: die Gleichbehandlung vor dem Gesetz. Und die Ermordung von George Floyd durch die Polizei im Mai 2020 löste die größte Protestbewegung der amerikanischen Geschichte aus. Zwischen 15 und 26 Millionen Amerikaner – ein Zehntel der Erwachsenen – gingen auf die Straße. Im Frühsommer 2020 fanden mindestens 5000 Demonstrationen statt – rund 140 pro Tag. Die Proteste erfassten sämtliche Bundesstaaten, über 40 Prozent der Countys und sogar Kleinstädte. An ihrer Spitze standen zumeist junge Menschen, und sie waren auffallend multiethnisch: Über die Hälfte der Demonstranten (54 Prozent) waren weiß. Und im Gegensatz zu den 1960er Jahren, als in Umfragen regelmäßig eine Mehrheit die Bürgerrechtsdemonstrationen ablehnte, wurden die Black-Lives-Matter-Proteste von den meisten gutgeheißen. Fast drei Viertel der Amerikaner sympathisierten im Sommer 2020 mit den Demonstranten. Obwohl die Zustimmung anschließend abnahm, standen 2021 immer noch 55 Prozent der Amerikaner hinter der Kampagne.
Aber es war nicht nur Black Lives Matter. Donald Trumps Präsidentschaft rief eine massive Bürgerbewegung zur Verteidigung der Demokratie hervor.
Auch junge Wähler schlossen sich in den Trump-Jahren dem Kampf für die multiethnische Demokratie an. Die Generation Z ist die diverseste Generation in der amerikanischen Geschichte. Es ist die am meisten vom Zustand der amerikanischen Politik beunruhigte und die bei Weitem am stärksten für die Prinzipien der multiethnischen Demokratie engagierte Generation. Laut einer Umfrage des Harvard Institute of Politics von 2022 waren zwei Drittel der Wahlberechtigten zwischen 18 und 29 Jahren der Ansicht, dass die Demokratie „in Schwierigkeiten“ stecke oder „gescheitert“ sei, und eine weitere Umfrage ergab, dass zwei Drittel der Amerikaner derselben Altersgruppe 2021 die Black-Lives-Matter-Bewegung unterstützten.
Demokratie verteidigen
Dass unser Verfassungssystem vier Jahre Trump-Präsidentschaft überlebt hat, könnte als Beweis dafür genommen werden, dass die Gefahr gar nicht so groß und die Warnung vor einem Niedergang der Demokratie übertrieben war – und ist. Doch das wäre ein Missverständnis. Die Demokratie hat überlebt, weil amerikanische Bürger, die sich um das Überleben ihrer Demokratie sorgten, sich zusammentaten, um sie zu verteidigen. Die Amerikaner sind verständlicherweise von den letzten sieben Jahren erschöpft. Die Demokratie zu verteidigen, ist anstrengend. Menschen bei einer Wahl nach der anderen, trotz aller um sie herum aufgetürmten Hindernisse, dazu zu bewegen, wählen zu gehen, kann selbst die Kräfte des eifrigsten Aktivisten überfordern.
Da Trump – vorläufig – nicht mehr im Weißen Haus ist, könnte man versucht sein, den Schluss zu ziehen – oder sogar zu hoffen –, dass wir uns jetzt ausruhen können, dass unsere Demokratie nun wieder im Gleichgewicht ist. Doch wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, indem wir uns erschöpft aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Prodemokratische Kräfte haben 2020 und 2022 bedeutende Siege errungen, aber die für Amerikas jüngsten Rückschritt verantwortlichen Faktoren – eine radikalisierte parteiliche Minderheit und Institutionen, die sie schützen und stärken – sind weiterhin vorhanden.
Um die Demokratie zu verteidigen, braucht es keine Helden. Für die Demokratie einzustehen, bedeutet, für sich selbst einzustehen. In welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben? Man denke an die Millionen von Amerikanern – junge und alte, religiöse und säkulare und aller möglichen Hautfarben –, die im Sommer 2020 im Namen der Gerechtigkeit auf die Straße gegangen sind. Die jungen Menschen, die damals demonstrierten, hätten sich vom System abwenden können, aber sie gingen stattdessen zur Wahl. Eine neue Generation von Amerikanern stand auf, um unsere unvollkommene Demokratie zu verteidigen. Aber sie haben uns auch das Bild einer besseren Demokratie vor Augen geführt – einer Demokratie für alle.
Während die Generation des Bürgerrechtskampfs in die Geschichte übergeht, ist es an uns, eine wahrhaft multiethnische Demokratie aufzubauen. Künftige Generationen werden Rechenschaft von uns verlangen.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Der vorliegende Text ist ein gekürzter und leicht überarbeiteter Auszug aus dem Buch „Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können“. © 2024 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH