Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 verkündete der neue Erste Sekretär des SED-Zentralkomitees, Erich Honecker, den über 2.000 anwesenden Delegierten, dass die Gleichberechtigung der Frau in der DDR verwirklicht sei. Als Beleg galt die hohe Quote der berufstätigen Frauen. Nicht mal ein Jahr später galt die Fristenlösung, die einen straffreien Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten ermöglichte. Während sich in der Bundesrepublik eine neue Frauenbewegung formierte, die für die Befreiung und Selbstbestimmung der Frau kämpfte, schien in der DDR eine solche Bewegung nicht notwendig zu sein. Doch Anfang der 1980er-Jahre begann es unter den Frauen in der DDR zu rumoren. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die nichtstaatliche Frauenbewegung in der DDR, ihre Akteurinnen, Themen und Netzwerke.
Nichtstaatlich und dezentral
Die Gründung staatlich unabhängiger beziehungsweise informeller Frauengruppen setzte zu Beginn der 1980er-Jahre ein und verdichtete sich im Laufe des Jahrzehnts zu einer nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR. Bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 gab es insgesamt etwa 100 solcher Gruppen. „Nichtstaatlich“ bedeutete, dass sich die Frauen unabhängig von offiziellen Parteien und Organisationen zusammenfanden. Zwar gab es mit dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) eine Massenorganisation von und für Frauen. Diese war jedoch den politisch-idiologischen Vorgaben der SED verpflichtet und besaß daher eine geringere Attraktivität und geringere Möglichkeiten, die bestehenden Schieflagen zwischen den Geschlechtern anzusprechen und zu verändern.
Als einzig mögliche Alternative für eine selbstbestimmte Frauenpolitik galt in der DDR die evangelische Kirche. Ihr Sonderstatus als autonome Institution bot für oppositionelle Gruppen und alternative Milieus sowie auch für die informellen Frauen- und Lesbengruppen eine Infrastruktur für Austausch und Vernetzung. Einigen wenigen, wie dem von Ursula Sille 1985/86 initiierten Sonntags-Club
Die Frauen, die die nichtstaatliche Frauenbewegung initiierten und sich in ihr engagierten, wurden in der Regel zwischen 1950 und 1965 geboren. Sie gehörten damit zu jener Generation, die mit dem von der SED propagierten Postulat der verwirklichten Gleichberechtigung aufwuchsen und zugleich von den zahlreichen frauen- und familienpolitischen Maßnahmen profitierten. Folglich lebte auch eine Mehrheit von ihnen das sozialistische Emanzipationsideal: Berufstätigkeit und Mutterschaft waren selbstverständlich. Zudem verfügten viele von ihnen über eine Berufsausbildung oder einen Universitätsabschluss. Kaum vertreten waren Arbeiterinnen, gering qualifizierte Frauen, Schwarze Frauen, Frauen of Color und Frauen mit Migrationserfahrung.
„Ich mache hier nicht mit“
Die Motive der Frauen, in einer informellen Frauengruppe aktiv zu werden, liegen in den spezifischen Gegebenheiten und politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR begründet. Ein zentraler Auslöser war die erfahrene Diskrepanz zwischen propagierter Gleichberechtigung und den nach wie vor bestehenden Benachteiligungen der Frauen. „Wir wollten uns einfach erstmal so unter uns Frauen verständigen zu den Themen wie: Was haben wir eigentlich für eine Meinung zu unserer gesellschaftlichen Stellung als Frauen in der DDR? […] Welches Rollenverständnis gibt es da? Sind wir damit einverstanden? […] Wie soll unsere Gesellschaft aussehen, in der wir uns wohlfühlen als Frauen?“, fasste eine Akteurin der Leipziger Frauengruppe für ein „Frauenzentrum“ die Beweggründe zusammen.
Das Fundament für die dauerhafte Gründung nichtstaatlicher Frauen- und Lesbengruppen in den 1980er-Jahren bildeten die bereits vorhandenen und über mehrere Jahre bestehenden Freundschaftsbeziehungen unter Frauen. Gegenseitiges Vertrauen und weibliche Solidarität basierten auf einer gewissen Übereinstimmung in Werten und Einstellungen, die grundlegend für das gemeinsame Engagement in der Gruppe waren.
Themen, Aktionen und feministisches Selbstverständnis
Mit der zahlenmäßigen Expansion der informellen Frauen-/Lesbengruppen differenzierten sich die Themen im Laufe der 1980er-Jahre immer weiter aus. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen erfolgten dabei nicht ausschließlich auf einer abstrakten theoretischen Ebene, sondern wiesen stets einen Bezug zum Leben der Frauen auf. Neben den persönlichen Erfahrungen bildete die Literatur eine wichtige Quelle. DDR-Autorinnen wie Christa Wolf, Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner und Maxie Wander boten mit ihren Büchern Diskussionsstoff. Nicht minder wichtig war auch westliche feministische Literatur, zum Beispiel von Alice Schwarzer, Simone de Beauvoir, Verena Stefan, Senta Trömel Plötz und Dorothee Sölle, die in den Osten geschmuggelt wurde.
Jedoch zeigen die überlieferten Dokumente einen recht sparsamen Umgang mit dem Feminismusbegriff westlicher Prägung. Dies ist zum einen auf die Diskreditierung durch die SED zurückzuführen, die den Feminismus oder gar die Frauenbewegung als bürgerlich-dekadent diffamierte.
Gewalt gegen Frauen und Schwangerschaftsabbruch – Themen, zu denen die Frauenbewegung in der Bundesrepublik Tausende Anhängerinnen mobilisierte –, wurden innerhalb der nichtstaatlichen Frauenbewegung erst gegen Ende der 1980er-Jahre angesprochen, allen voran von den thüringischen Frauengruppen wie der „Frauenteestube Weimar“ und der „Frauengruppe Jena“.
Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über bestehende patriarchale Geschlechterverhältnisse analysierten einzelne Frauengruppen Schullehrbücher und Tageszeitungen nach geschlechterstereotypen Darstellungen von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern. Die Analysen gingen häufig mit einer Beschäftigung mit Sprache einher und der Frage, wie Sprache Frauen unsichtbar macht und patriarchale Geschlechterrollen festigt.
„Alle Frauen, die da waren, sagten, sie sind Lesben“, erinnert Marinka Körzendörfer ihre ersten Begegnungen mit homosexuellen Frauen.
Titel wie „Frauen in Bewegung. Feminismus – Reizwort oder Programm?“
So vielfältig das Themenspektrum der nichtstaatlichen Frauenbewegung auch war, so gab es dennoch auffällige Leerstellen. Die weitgehende Abwesenheit von Schwarzen Frauen, Frauen of Color oder Vertragsarbeiterinnen hatte zur Folge, dass ihre Lebenswelten, Emanzipationsbestrebungen und Diskriminierungs- sowie Gewalterfahrungen in den informellen Frauen- und Lesbengruppen keine Rolle spielten. „[Immer], wenn ich über Rassismus oder rassistische Gewalt sprach, wurde das Ganze sehr DDR-typisch abgetan: ‚Bei uns gibt es so etwas nicht!‘ Mit dieser Haltung unterschieden sich die weißen Lesben nicht von all den anderen weißen Deutschen“, berichtet Ina Röder Sissoko, eine der wenigen bekannten Schwarzen Frauen, die sich in einer informellen Dresdner Lesbengruppe engagierte.
Im Visier der Staatssicherheit
Die SED beanspruchte für sich das Medien- und Öffentlichkeitsmonopol. Daher waren die Möglichkeiten für die informellen Frauen- und Lesbengruppen, nach außen zu wirken, sehr begrenzt. Akteurinnen und Gruppierungen, die sich jenseits offizieller staatlicher Strukturen organisierten oder gar mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit traten, liefen Gefahr, durch staatliche Behörden überwacht, verfolgt und inhaftiert zu werden. Für die „Bearbeitung“ der nichtstaatlichen Frauenbewegung war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zuständig. Obgleich die Staatssicherheit die Frauen-/Lesbengruppen zunächst nicht ernst nahm und hinter ihren Aktivitäten Männer als Strippenzieher vermutete,
Das MfS infiltrierte die informellen Frauen-/Lesbengruppen mit Inoffiziellen Mitarbeiterinnen (IM). Häufig waren gleich mehrere IMs in den Gruppen aktiv, ohne dass sie voneinander wussten. So waren zum Beispiel in der Gruppe „Frauen für den Frieden“ in Leipzig etwa drei IMs eingesetzt. Die recht hohe IM-Dichte lässt sich vor allem damit erklären, dass die gesamte nichtstaatliche Frauenfriedensbewegung in der DDR vom MfS im Rahmen des Zentralen Operativen Vorgangs „Wespen“ überwacht und verfolgt wurde.
„Allerdings gab es ein starkes Druckmittel: meine Kinder“, berichtet Ulrike Poppe von den „Frauen für den Frieden“ in Ostberlin.
Ein Bewegungsnetzwerk entsteht
Zwischen 1984 und 1989 begannen die informellen Frauen-/Lesbengruppen mit dem Aufbau eines DDR-weiten Netzwerks. Dies geschah mit überschaubaren Ressourcen, verfügten doch die wenigsten Frauen über einen eigenen Telefonanschluss. Die Etablierung dauerhafter Kontakte erfolgte über den persönlichen Austausch, das Anlegen eines Adressbuches und über Briefverkehr. Entscheidend für die Herstellung eines Bewegungsnetzwerks waren die feministischen Theologinnen und kirchlichen Frauengruppen. Über sie erhielten die Frauen Zugang zu Räumlichkeiten, Drucktechnik und Kontakten außerhalb der DDR.
Das erste DDR-weite Frauengruppentreffen fand vom 14. bis 16. September 1984 in Halle (Saale) statt, organsiert von „Frauen für den Frieden“. In den Folgejahren übernahmen Frauenfriedensgruppen die Organisation und Durchführung dieser Treffen, unter anderem in Ostberlin (1985), Leipzig (1986), Magdeburg (1987), Karl-Marx-Stadt (1988) und Jena (1989). Weitere wichtige Vernetzungstreffen waren die Frauenfeste in Dresden (1985‒1987) und die Thüringer Frauengruppentreffen (1988‒1989). Zusätzliche Möglichkeiten des Austauschs und der Vernetzung bildeten die Frauenseminare in Wilkau-Haßlau und die Werkstätten Feministische Theologie in Hirschluch. Ferner nutzten die Frauen-/Lesbengruppen die von der Evangelischen Kirche durchgeführten regionalen und überregionalen Kirchentage, um dort eigene Frauenforen zu veranstalten. Die Frauenfeste und -treffen sowie die Werkstätten hatten meist thematische Schwerpunkte, unter anderem weibliche Homosexualität, biblische Frauenfiguren, Erziehung, Macht, weibliche Berufstätigkeit, Gewalt, Sprache oder die Lebenssituation von Frauen in der DDR. Wichtige Programmformate waren Workshops, Gesprächskreise, Vorträge, Filme, Tanzabende, Konzerte, gemeinsame Mahlzeiten und Gebete. An Informationsständen konnten sich die Teilnehmer/innen über einzelne Gruppen und deren Arbeit informieren. Die Kinderbetreuung war integraler Bestandteil der Treffen. Parallel zum DDR-weiten Bewegungsnetzwerk entstand eine kleine informelle Bewegungsöffentlichkeit. Unter der Nutzung von Druckmaschinen der evangelischen Kirche produzierten Dresdnerinnen das Lila Band (1987-1989), die Lesbengruppe Jena die frau anders (1989-1993) und der Arbeitskreis Feministische Theologie den Informationsbrief Das Netz (1988-1993). Für die Herstellung der einzelnen Hefte standen den Frauenredaktionen überschaubare Mittel zur Verfügung, wie Wachsmatrizen im DIN-A5-Format und Schwarz-Weiß-Druck. Für den Druck und die Veröffentlichung der Ausgaben war der Zusatz „nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ zwingend erforderlich, denn mit dieser Formulierung konnten die Herausgeberinnen die staatliche Genehmigung (Zensur) umgehen. Trotz dieser erschwerten Produktionsbedingungen erreichten die Auflagen zwischen 100 und 600 Stück. Ähnlich wie die Frauengruppentreffen und -seminare wählten die Herausgeberinnen für die einzelnen Heftausgaben Schwerpunktthemen. Die informellen Frauenzeitschriften waren partizipativ angelegt, das heißt, die Leserinnen waren dazu aufgerufen, selbst Beiträge wie Artikel, Berichte und Gedichte einzureichen und eigene Themen zu setzen. Auch wenn der Rücklauf eher bescheiden blieb, unterstützten und erweiterten die Hefte die bewegungsinterne Kommunikation zwischen den Frauen-/Lesbengruppen.
Ein neuer feministischer Aufbruch im Herbst 1989
Die nichtstaatliche Frauenbewegung erfuhr mit den Umbrüchen im Herbst 1989 einen fundamentalen Wandel. Viele der bis dahin bestehenden informellen Frauengruppen lösten sich auf. Es entstanden neue Fraueninitiativen wie zum Beispiel „Frauen für Veränderung“ in Erfurt, die „Fraueninitiative Leipzig“, die „Lila Offensive“, die „Fraueninitiative Magdeburg“ oder der „Unabhängige Frauenverband“ (UFV). Sie knüpften an die zuvor geschaffene Sensibilität für bestehende patriarchale Geschlechterverhältnisse in der DDR und aufgebaute Netzwerke an und entwickelten sich zu zentralen Akteurinnen, die das feministische politische Handeln in den Revolutions- und Demokratisierungsprozessen wesentlich bestimmten. Sie knüpften an ihre Erfahrungen und Diskussionen der 1980er-Jahre an und formulierten auf dieser Grundlage ihre feministischen Reform- und Wahlprogramme. Charakteristisch für ihre politischen Forderungen und Ziele ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz: Frauenpolitik und tatsächliche Gleichberechtigung betrachteten sie als Themen, die alle Lebensbereiche und Geschlechter betrafen. Anders als die informellen Frauen-/Lesbengruppen zuvor bekannten sie sich selbstbewusst zum Feminismus.
In ihrem Bestreben, die zementierte patriarchale Ordnung aufzubrechen und zugleich die Demokratisierungsprozesse aktiv mitzugestalten, beteiligten sich die Fraueninitiativen an der Auflösung des MfS, an den Runden Tischen und den im Jahr 1990 stattfindenden Wahlen. Während dieser Zeit erkämpften sie die Finanzierung und Räumlichkeiten für kommunale Gleichstellungsbeauftragte, Frauenzentren und Frauenhäuser. Damit legten sie das Fundament für die feministische Infrastruktur der ostdeutschen Frauenbewegung, die in den 1990er-Jahren vor allem von den Politiken und Folgen der Transformation geprägt war.
Zitierweise: Jessica Bock, „Laut, mutig und radikal - Die nichtstaatliche Frauenbewegung in der DDR der 1980er-Jahre", in: Deutschland Archiv, 18.9.2023, Link: www.bpb.de/540813.
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