Der Krieg in der Ukraine als neuer Horizont für politische Bildung und Demokratiepädagogik
Ein Diskussionsbeitrag von Hermann J. Abs
Hermann J. Abs
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Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine stellt auch neue Fragen an die Friedenspädagogik. Ist beispielsweise das Bild von Soldat:innen in einer wehrhaften Demokratie neu zu bewerten? Dazu Thesen des Duisburger Erziehungswissenschaftlers Hermann J. Abs, dem weitere Betrachtungen folgen werden.
ZUSAMMENFASSUNG: Dieser Beitrag zeichnet zunächst anhand von Beispielen nach, wie Krieg und Soldat:innen nach dem Zweiten Weltkrieg durch Literatur und politische Bildung in (West-)Deutschland thematisiert wurden. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich eine Friedenspädagogik, die gewaltfreie Konfliktlösungen einübte und auf eine antimilitärische Kultur des Friedens ausgerichtet war. Der Fall eines äußeren Angriffs auf den demokratischen Staat wurde nicht als reale Option gesehen. Angesichts des russländischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der politischen Entwicklung in Europa erweisen sich Grundannahmen der Friedenspädagogik als nicht mehr tragfähig. Der Beitrag reflektiert die begriffliche Bestimmung von Demokratiepädagogik und politischer Bildung, um sich auf dieser Grundlage der Herausforderung einer erneuerten Pädagogik der wehrhaften Demokratie, die auch die militärische Verteidigung einschließt, anzunähern. Abschließend werden konkrete Aufgaben benannt, die sich für die politische Bildung und Demokratiepädagogik in diesem Erneuerungsprozess stellen.
ABSTRACT: The article works out how peace education became an element of civic and citizenship education in Germany after the Second World War. The strong focus on non-violent conflict resolution and an anti-military culture of peace can be derived from the type of military education during Germany’s non-democratic past, the experience of the war and political fights over rearmament and compulsory military service in the 1950s. The scenario of an external attack on the democratic state was not seen as a real option. However, Russia’s offensive war on Ukraine poses new challenges for civic and citizenship education that cannot be met with the traditional concepts. The article states the new responsibilities in face of the new situation and argues for an education for a defensive democracy, including the option of military defence of democracy and the people. Finally, concrete elements to be included in civic and citizenship education for our time are identified.
1. Einleitung: Ist ein ‚Weiter so‘ noch angemessen?
„Wir haben alles neu überdenken müssen“, so beschreibt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk (2022) ihre Erfahrung wenige Wochen nach dem Beginn des russländischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Mein Beitrag geht der Frage nach, was das mit uns zu tun hat, wenn wir heute in Deutschland politische Bildung und Erziehung für Demokratie und Frieden betreiben.
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Die politische Bildung in Deutschland kann auf eine gut reflektierte Tradition zurückblicken (Sander 2010), die in ihrer heutigen Gestalt nach der meistenteils erzwungenen Abkehr von der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus und nach dem friedlichen Ende der DDR-Diktatur entstand.
Es entwickelte sich eine in Wissenschaft und Praxis institutionalisierte Profession, deren aktueller Stand 2022 in vier neu erschienenen Handbüchern zu politischer Bildung und Demokratiepädagogik vorliegt (Baumgart/Lange 2022; Beutel et. al. 2022a; Sander/Pohl 2022; Weißeno/Ziegler 2022). Die Herausforderungen der Gegenwart wie Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Diversität und allgemein auch Frieden werden aufgegriffen und im Vergleich der Handbücher durchaus vielfältig auf theoretische Konzepte und Diskurse der politischen Bildung sowie Demokratiepädagogik bezogen.
Da diese Handbücher jedoch sämtlich vor dem Krieg gegen die Ukraine konzipiert wurden und zum Teil schon im Frühjahr 2022 erschienen, wird man ihnen nicht vorwerfen können, dass sie den Angriffskrieg, der nun in einem Land in Europa 700 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt Menschenleben fordert, noch nicht auf seine Bedeutung für die Profession befragen. Dies gilt auch für weitere einschlägige Bände mit grundlegendem Anspruch (z.B. Beelmann/Michelsen 2022; Nohl 2022; Wohnig/Zorn 2022) und für ein Themenheft zu aktuellen Fragen der politischen Bildung in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ im November 2022 (APuZ 48/2022). Der Befund mag Rechtfertigung genug sein, den Angriffskrieg auf die Ukraine in diesem Beitrag als Ausgangspunkt für eine neu reflektierende Perspektive auf unsere Arbeit als politisch Bildende und Demokratie-Erziehende zu wählen.
2. Politische Bildung und Demokratiepädagogik als Erziehung für den Frieden in Deutschland nach 1945
Der russländische Angriffskrieg in der Ukraine rückt unter anderem die Fragen nach der Unterstützung für ein staatliches militärisches Engagement und nach der individuellen Beteiligung als Soldat:in ins Zentrum der politischen Optionen für mündige Bürger:innen. Daraus leitet sich für die politische Bildung und Demokratiepädagogik die Aufgabe ab, die Herausforderungen der staatlich legitimierten und persönlichen Mitwirkung angesichts eines kriegerischen Angriffs aufzugreifen.
Diese Herausforderungen sind nicht neu; ihre pädagogische Thematisierung wurde in Deutschland seit den 1950er Jahren durch die „Kampagnen gegen die Wiederbewaffnung“ (Rademacher/Wintersteiner 2022: 398) und eine Auffassung des Militärs als „organisierte Friedlosigkeit“ (Mengelkamp 2021) bis in die Gegenwart geprägt. Ein Beispiel, wie eine mediale Thematisierung in der politischen Bildung in Deutschland aktuell umgesetzt wird, stellt die Graphic Novel „Gegen mein Gewissen“ (Brinkmann 2020) dar, die im April 2022 in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde (Brinkmann 2022). Darin wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4(3) GG) als „Bekenntnis zur neuen pazifistischen Einstellung Deutschlands“ (ebd.: 6) nach dem Zweiten Weltkrieg interpretiert. Bundeskanzler Konrad Adenauer (im Amt 1949–1963), der sich für den Aufbau der Bundeswehr und die Einführung einer Wehrpflicht einsetzte, scheint dabei nicht im deutschen Interesse zu handeln, sondern wird als Bombenträger der NATO abgebildet (ebd.: 8), der auf die Einführung der Wehrpflicht mit einem Nadelstreifenträger mit Sekt anstößt (ebd.: 10).
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Eine ablehnende Perspektive auf alles Militärische wie auch auf Rüstungsproduktion und -exporte und im Gegenzug die Förderung pazifistischer Haltungen gehören zu einem historisch erklärbaren Traditionsbestand der politischen Bildung und Demokratiepädagogik, der sich in Deutschland nach 1945 bildete (z.B. Jäger 2018a). Dieser Mainstream begründete sich aus dem schuldhaft begonnenen und desaströs verlorenen Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland geführt hatte. Aus einer pädagogischen Perspektive rückte früh der Beitrag der Schule zur Heranbildung von Soldaten ins Zentrum der Kritik. Soldat zu sein, schien aufgrund des Leids und der Vernichtung, die Deutschland über viele Länder gebracht hatte, nicht mehr legitimierbar oder gar öffentlich begründbar.
Eine strikte Abgrenzung gegenüber der politischen Erziehung vor 1945 wurde in vielen Punkten umgesetzt. Paradigmatisch dafür steht ein Text, der über Jahrzehnte an deutschen Schulen gelesen wurde und bis heute gelesen wird. Obwohl es in Deutschland keinen offiziellen Literaturkanon gibt, kann der im Folgenden ausgewählte Text als beispielhaft für die pädagogische Praxis und als kanonisch betrachtet werden, denn er fand Aufnahme nicht nur in Schulbücher und Lehrpläne, sondern auch in die 50 Texte, die von der ZEIT-Schülerbibliothek als Kanon für den Deutschunterricht vorgeschlagen werden (Greiner 2002).
In der Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… von Heinrich Böll (1950) wird ein Schwerverwundeter durch die Gänge eines humanistischen Gymnasiums getragen, das in ein provisorisches Kriegslazarett umgewandelt wurde. Er erkennt es mehr und mehr als sein Gymnasium, das er wenige Monate zuvor verlassen hatte, um Soldat zu werden. Sein Bildungsgang über neun Jahre wird anhand der Artefakte nachvollziehbar, die der junge Soldat in den Gängen wiedererkennt. Diese verweisen auf den Rassismus, Nationalismus, Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus Deutschlands. Im Zeichensaal, der zu einem Operationssaal umfunktioniert wurde, wird der Verwundete abgestellt. Zunehmend das Bewusstsein verlierend, erkennt er seine eigene kalligraphische Schreibübung an der Tafel; er liest „Wanderer, kommst du nach Spa“. Damit zitiert er den Beginn einer antiken Sentenz (Herodot: Historien VII,228), die sich auf 300 Soldaten bezieht, welche bei der Meerenge der Thermopylen 480 v.Chr. gegen die Perser kämpfend ihr Leben verloren. Der Kampf war aufgrund der Übermacht nicht zu gewinnen, diente aber dazu, den Kriegszug der Perser zu verzögern und so den Hellenen Zeit zur strategischen Neuorganisation zu verschaffen. Die vollständige Sentenz war der Überlieferung nach am Ort der Thermopylen in Stein gemeißelt und lautet:
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.
Im Schulunterricht des deutschen Gymnasiums des 19. Jahrhunderts fand die hier wiedergegebene Übersetzung von Friedrich Schiller (1790) weite Verbreitung. Schiller bewegte die Frage, wie eine Hingabe des eigenen Lebens für ein Gesetz gerechtfertigt werden kann. Dazu suchte er nach einer Möglichkeit, wie der von ihm hochgeschätzte Wert der Freiheit mit dem Wert des Gesetzes in der Inschrift verbunden werden könnte. Dies gelingt, indem er die menschliche Freiheit als Ziel des Gesetzes betrachtet. Wenn das Gesetz die Freiheit schützt, könne daraus ein unbedingtes Bekenntnis erwachsen, den Raum des Gesetzes mit dem eigenen Leben zu verteidigen. Den Tod für ein staatliches Gemeinwesen, in dem man Freiheit verspürt, kann nach Schiller niemand einfordern, aber er kann als eine vernünftige und realistische Option erscheinen (Baumbach 2000: 16f.). Dagegen wäre es vernunftwidrig, das Leben für ein totalitäres System oder eine Diktatur einzusetzen.
Diese aufklärerische Interpretation der antiken Sentenz entfiel im Nationalsozialismus, stattdessen erfolgte eine propagandistische Verwendung, durch die junge Männer zur Hingabe für ein Gesetz motiviert werden sollten, das den Primat von „Führer, Volk und Vaterland“ in nationalsozialistischer Interpretation beanspruchte. Wenn man beachtet, dass das Gesetz im Nationalsozialismus gerade nicht den Schutz der Freiheit zum Ziel hatte, muss die Nutzung von Schillers Übersetzung als missbräuchlich bezeichnet werden. Der Missbrauch kann weiterhin daran festgemacht werden, dass sich das Zitat im ursprünglichen Kontext auf Soldaten bezog, die ihre Mitbürger:innen verteidigten, und nicht auf Angreifer. Die Angreifer werden durch den Missbrauch des Zitats zu Unrecht mit den moralischen Weihen der Verteidiger versehen.
Bei Heinrich Böll wird in der kalligraphischen Übung der Schüler zudem erkennbar, wie das Zitat in der nationalsozialistischen Schule methodisch in Bildungsprozesse integriert wurde. Es diente nicht dazu, eine freie Entscheidung zu ermöglichen, sondern dazu, eine unbedingte Einordnung der Jugendlichen in erwartete Formen – symbolisiert durch die Kalligraphie – zu fördern. Die Kurzgeschichte scheint geeignet, um in allen Diskussionen über den Beruf des Soldaten im Nachkriegsdeutschland ein Ausblenden des nationalsozialistischen Kontexts einer Bildung zur soldatischen Todesbereitschaft zu verhindern. Für Deutschland zu sterben, erscheint bei Heinrich Böll für immer vor einem imperialistischen Hintergrund, der die berechtigten Lebensinteressen anderer negiert. In diesem Sinne wurde der Text kanonisch.
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Vor dem Hintergrund, dass ein von Deutschland ausgehender Krieg nicht gerechtfertigt werden kann, erscheint insgesamt die Ausrichtung der Pädagogik plausibel, die Frieden als Leitwert (Jäger 2018b) interpretiert und mit der Prämisse arbeitet, dass ausschließlich unter dem Primat des Friedens Gerechtigkeit und Freiheit zu erreichen seien. In diesem Sinne soll die Identität von Jugendlichen als Friedensstifter:innen gefördert werden. Naheliegende pädagogische Ansätze sind Programme der Gewaltprävention, der Streitschlichtung, der Empathieförderung und deliberativen Konsensfindung, aber auch Programme, die einen konstruktiven Einsatz der Jugendlichen für nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte im globalen Rahmen verfolgen. Militär und Rüstung sind hingegen Gegenstände, die ausschließlich der Kritik ausgesetzt werden (vgl. auch Gugel 2011: 155). So soll die Pädagogik zu einer „Kultur des Friedens“ (Jäger 2018b: 332; Gugel 2011: 156) beitragen.
Aus der Zeit von Heinrich Bölls Kurzgeschichte gibt es jedoch auch ein literarisches Beispiel, in dem Militär und die Arbeit als Soldat nicht ausschließlich negativ dargestellt werden: Der Roman Der Überläufer wurde von Siegfried Lenz 1952 seinem Hausverlag vorgelegt, jedoch aus inhaltlichen Gründen abgelehnt und erschien erst 2016 aus dem Nachlass des verstorbenen Autors. Wegen des aktuellen Angriffskriegs auf die Ukraine ist die Frage wieder aktuell, worin die alternative Perspektive des Romans besteht, die sich der dominierenden Auffassung der Nachkriegsjahre widersetzte.
In Der Überläufer (Lenz 1952, erschienen 2016, verfilmt 2019/20) werden verschiedene Positionen zum Kriegsdienst ausgearbeitet und in Gesprächen sowie inneren Monologen der Hauptfiguren reflektiert. Die Vorstellung, Kriegsdienst aus Pflicht für das Vaterland (Deutschland 1939–1945) zu leisten, wird als Falle für die Individualität und Freiheit des Einzelnen erkennbar. Das Vaterland ist dezidiert kein staatliches Gemeinwesen, das Individualität und Freiheit schützt (vgl. ebd.: 99). Konsequenterweise werden Soldaten gezeigt, denen es nicht mehr gelingt, eine positive Vorstellung ihres Vaterlandes aufrecht zu halten (vgl. ebd.: 100).
Gleichwohl thematisiert der Roman das soldatische Ideal, für eine Gerechtigkeit zu leben und zu kämpfen, die nicht vom einzelnen Soldaten allein geschützt werden kann (vgl. ebd.: 194). Aus dieser Vorstellung kann ein Soldat formulieren: „Was bedeutet […] schon der Tod für einen Menschen, der das Leben des Geistes gelebt hat.“ (ebd.: 194). Im Hintergrund steht hier ein Theorem Hegels, das auch Schiller beeinflusst hat, nämlich die Idee des objektiven Geists, der den subjektiven Geist überdauert. Allerdings gelingt es den deutschen Soldaten im Roman nicht, die Idee des objektiven Geistes mit ihrer Verpflichtung als Soldaten für Deutschland in Übereinstimmung zu bringen. Vielmehr wird dem nationalsozialistischen Staat eine Utopie entgegengesetzt: „Ein Staat müßte moralisch sein […]. Es sollte nur Untertanen der Moral oder des Gewissens geben“ (ebd.).
Jedoch führt die Ablehnung des Kriegsdienstes für das nationalsozialistische Deutschland bei den Hauptfiguren im Roman nicht zu einer pazifistischen Haltung. Lenz lässt eine von ihnen reflektieren: „Der untätige, der passive Pazifismus ist ein impotentes Gespenst. Wer nur immer sagt: Ich bin gegen den Krieg und es dabei bewenden läßt und nichts außerdem tut, damit der Krieg ausgerottet wird, der gehört ins pazifistische Museum. Wir müssen zu einer Form des aktiven Pazifismus kommen, zu einer gerade in diesem Fall sehr ernsten und rabiaten Handlungsbereitschaft“ (ebd.: 237).
Vor diesem Hintergrund kommen die Überläufer dazu, die Seiten zu wechseln, sich der Roten Armee anzuschließen und gegen den unrechtmäßigen Angreifer Krieg zu führen. Zwar wird diese Entscheidung als existentialistische Entscheidung des Einzelnen markiert: „Wer kontrolliert denn die Werte der Welt? Du, du allein. […] Die moralischen Motive sind immer Sache des Einzelnen“ (ebd.: 237). Gleichwohl war die Vorstellung eines Überlaufens zu einer anderen Armee, die Deutschland bekämpft, 1952 sozial derart inakzeptabel, dass der Verlag das Romanmanuskript ablehnte.
Dabei ist der Roman in keiner Weise heroisierend oder kriegsverherrlichend. Die Realität des Krieges und des Kriegsdiensts wird in ihrer Unmenschlichkeit erkennbar. So z.B. durch die Figur des menschenverachtenden, ständig alkoholisierten Vorgesetzten in der nationalsozialistischen Armee oder durch die Schilderung von Verletzungen, die durch automatisierte Waffen erzeugt werden. Auch nach dem Überlaufen in eine moralisch gerechtfertigte Armee erfahren sich die Überläufer als Beteiligte an Zerstörung, aber sie nehmen diese Beteiligung als moralische Selbstverpflichtung im Kampf gegen das größere Unrecht an.
Diese Offenheit für eine Beteiligung am Krieg muss in der deutschen Nachkriegsliteratur sehr provokativ gewirkt haben. Die Ablehnung des Romans durch den Verlag kann wohl kaum (allein) darauf zurückgeführt werden, dass eine Unterstützung der Roten Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges in der Bundesrepublik Deutschland als freiheitsfeindlich oder verräterisch galt, denn der Roman lässt auch deutliche Kritik an der sozialistischen Herrschaft Ostdeutschlands erkennen. So wird die Beobachtung der Hauptfigur geschildert, dass sich in der DDR zahlreiche Verhaftungen ereignen, die auf eine unfreiwillige Indienstnahme von Menschen für einen Staat schließen lassen.
Beispielsweise wird eine Person verhaftet, die für die „Organisation der Kriegsdienstverweigerer warb“ (ebd.: 311). Der Überläufer erkennt, dass die Seite, zu der er übergelaufen ist, nun ebenfalls dem:der Einzelnen keine Freiheit für eigene Wertentscheidungen lässt. Aus dieser Erkenntnis folgt für die Hauptfigur, dass es erneut an der Zeit ist, zum Überläufer zu werden, und die DDR Richtung Westen zu verlassen.
Zusammenfassend liegt mit Lenz’ Roman ein Text vor, der schon in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Kurzgeschichte von Böll einen alternativen Blick auf die Position des Soldaten erlaubte. Da im Roman verschiedene Kriterien und kontroverse Positionen zur Beteiligung am Krieg ausgeführt werden, erscheint er inhaltlich für politische Bildung, Demokratiepädagogik und insbesondere für das Teilgebiet der Friedenspädagogik besonders geeignet.
3. Begrenzte Handlungsfähigkeit von politischer Bildung und Demokratiepädagogik in Bezug auf den Krieg in der Ukraine
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Der seit 75 Jahren in Deutschland kontinuierlich gestiegene Friedenswohlstand wird durch den aktuellen Krieg in Europa eingeschränkt. Für eine Mehrheit der Bevölkerung rückt mit dem Krieg in der Ukraine erstmals die Möglichkeit in den Horizont, selbst unmittelbar von Krieg betroffen zu sein. Dies irritiert ein politisches Gesellschaftsverständnis, das dem deliberativen Ansatz (vgl. Sliwka 2008) der Demokratiepädagogik entspricht: Politische Konflikte werden demnach weitgehend als Interessenkonflikte verstanden, die auf Augenhöhe diskutiert werden können.
Es gilt Argumentationsfreiheit; Kompromisse und Ausgleich sind möglich. Die friedenspädagogische Zielperspektive auf eine „konstruktive und gewaltfreie Konfliktaustragung“ (Frieters-Reermann 2017: 94) gilt somit in Deutschland weitgehend als soziale Norm. Wenn diese Norm aufgrund von fundamentalen Wertedifferenzen oder unverrückbaren Interessen nicht erreicht werden kann, konstituiert dies aus friedenspädagogischer Perspektive ein Scheitern (Kallweit 2022); es sind nur noch „(second-)best solutions“ (Montada 2008, 263) möglich, wie z.B. Grenzziehungen und Verteidigung, mit denen Konflikte eingehegt werden können. Die Tätigkeit als Soldat:in basiert also auf dem Scheitern der friedenspädagogischen Zielperspektive. Deshalb ist es für die Friedenspädagogik schwierig, Soldat:innen positiv in ihre Konzeption zu integrieren.
Gugel (2011) geht davon aus, dass sich tief verwurzelte und hart ausgetragene Konflikte in Entwicklungsländern „von Konflikten in Industrieländern fundamental unterscheiden“ (ebd.: 156). Auch wenn diese These als kulturalistisch aufgefasst werden kann, trägt sie doch dazu bei, zu erklären, warum der Angriffskrieg Russlands auf ein „entwickeltes“ Land und eine industrialisierte Region eine so viel stärkere Resonanz in Deutschland auslöst als die weltweiten Kriege der vergangenen Jahrzehnte.
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Der aktuelle Krieg zeigt nicht nur eine Grenze in der Zielperspektive der deutschen Friedenspädagogik auf, sondern eventuell auch eine Grenze in Bezug auf die Idealvorstellung von gesellschaftlichem Diskurs, die in Deutschland durch die Philosophie Jürgen Habermas’ ausformuliert wurde. Bei Habermas (1992: 155ff.) gilt die Anerkennung als gleichberechtigte Partner:innen im Diskurs als Ausgangspunkt für demokratische Verfahren und als Begründung für grundlegende Rechte, die den Diskurspartner:innen zugestanden werden müssen. In der aktuellen Situation erleben wir jedoch einen Konflikt, der sich nicht diskursiv einhegen ließ und in dem eine Konfliktpartei eine Identitäts- und Wertposition einnimmt, die Abgrenzung und Dominanz mit Bezug auf Werte sucht und den anderen Positionen keine Rechte zugesteht (Wittner 2022: 267). Somit kann der Konflikt als antagonistisch bezeichnet werden, er ist nicht darauf angelegt, ein gemeinsames Interesse zu finden, bestehende Gegensätze zu überbrücken und gemeinsam getragene Lösungen zu etablieren.
Politische Bildung und die Demokratiepädagogik entwickelten sich auch in der Folge von Habermas als Professionen für eine Gesellschaft, die ihre Konflikte nicht als antagonistisch versteht. Dazu trugen weiterhin die grundlegenden Prinzipien zur Behandlung von Konflikten in der politischen Bildung bei, die in den 1970er Jahren im Beutelsbacher Konsens (Sutor 2002) niedergelegt wurden (Überwältigungsverbot, Kontroversprinzip, Interessenanalyse aus Schülerperspektive). Die drei Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses gehen davon aus, dass sich die Konfliktparteien als Träger:innen gleicher Rechte anerkennen und den Wunsch teilen, einen Weg in eine geteilte Zukunft zu finden.
Die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens basieren darauf, dass sich die Interessen der Schüler:innen rational verallgemeinern lassen und nicht aus Wertsetzungen ableiten, die für einzelne (Schüler:innen-)Gruppen exklusiv beansprucht werden können. Die Prinzipien basieren auf dem Grundsatz bzw. der Annahme, dass die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht kontrovers ist und nicht aufgrund der Interessen einer (Schüler:innen-)Gruppe außer Kraft gesetzt werden kann.
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Der Krieg in der Ukraine erinnert uns daran, wie fragil die Voraussetzungen sind, auf denen wir politische Bildung und Demokratie¬pädagogik betrieben haben. Denn der russländische Krieg in der Ukraine muss in seinem Verlauf als „Vernichtungskrieg“ (Zhadan 2022a: 7) beschrieben werden und wirft somit die Frage auf, ob wir uns diesem Krieg gegenüber pädagogisch genauso positionieren sollten wie gegenüber einem Interessenkonflikt, in dem sich die Konfliktparteien grundlegend gleiche Rechte zugestehen und den Konflikt aushandeln könn(t)en. Letzteres ist eine Grundannahme, die unsere Analyse- und Handlungsfähigkeit als politische Bildner:innen und Demokratiepädagog:innen in Zeiten des Krieges einschränkt.
Friedenspädagogik geht in die Irre, wenn sie als Ursache für Krieg ausschließlich das Scheitern einer nicht gewaltsamen Konfliktaushandlung in Betracht zieht (vgl. Kallweit 2022). Die Kriegsausbrüche vom 1. September 1939 und vom 24. Februar 2022 lassen sich beispielsweise nicht befriedigend aus dem Scheitern von Verhandlungen erklären. Wenn Verhandlungen geführt wurden, dann eher als Erpressung und Kulisse (Schmidt 2002).
Lehrkräfte in der Schule kennen die Herausforderung, zwischen Interessenkonflikt und der Einnahme einer Position, die dem anderen keine Rechte mehr zugesteht, zu unterscheiden. So ist es für professionelles Handeln beispielsweise wichtig, zwischen einem Streit unter Jugendlichen und der unidirektionalen Schadensintention bei Mobbing (Wachs/Schubarth 2022) zu differenzieren. Bei einem Streit können sich die Konfliktparteien grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen und eine Streitschlichtung mit der Suche nach einem Kompromiss ist sinnvoll. Bei Mobbing und Diskriminierung beansprucht eine machtvolle Konfliktpartei die Definitions¬macht über die andere, die sich nicht auf Augenhöhe wehren kann.
Bei Mobbing oder einseitiger Diskriminierung ist es ein pädagogischer Kunstfehler, eine Streitschlichtung zu initiieren. Denn eine gewöhnliche Konsequenz von Streitschlichtung in Fällen von Mobbing besteht in einer nachträglichen verdeckten Abstrafung der Zielperson durch die mobbende Person (Alsaker 2017). Deshalb ist die Suche nach einem Kompromiss nicht sinnvoll, wenn eine Partei sich grundsätzlich mehr Rechte oder einen höheren Wert zuschreibt, als sie der anderen zugesteht.
In diesen Fällen ist es die Aufgabe von Schule dafür zu sorgen, dass die aggressive Partei eingegrenzt wird und die angegriffene Partei Schutz vor den Angriffen erfährt. Pädagogisch verlangt die Garantenstellung von Lehrkräften (Bott 2005), dass sie sich aus dem aktiven Schutz von Schüler:innen gegen akut einsetzende physische Gewalt nicht zurückziehen dürfen, auch wenn sie selbst als Individuen pazifistische Werte bevorzugen.
4. Unterlassungsfehler in der politischen Bildung und Demokratiepädagogik?
Im vorigen Abschnitt wurde das Kriegsgeschehen in der Ukraine insofern mit Mobbing in der Schule verglichen, als jeweils eine Nicht-Anerkennung des:der anderen als Träger:in gleicher Rechte und eine unidirektionale Schadensintention vorhanden ist. Daraus ergibt sich die Frage, ob es auch eine mit der Verpflichtung von Lehrkräften, Schüler:innen vor Mobbing zu schützen, vergleichbare Verpflichtung zur Thematisierung von Schutz und Verteidigung für die politische Bildung und Demokratiepädagogik gibt. Dabei ist gegenwärtig besonders an den Fall des russländischen Kriegs gegen die Ukraine zu denken, der wie zuvor ausgeführt nicht befriedigend als Scheitern gewaltfreier Konfliktaushandlung erklärt werden kann. Können wir es uns leisten, einen Fall der Verteidigung angesichts eines Vernichtungskriegs in der politischen Bildung und Demokratiepädagogik auszuklammern?
Wenn eine Lehrkraft heute die Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… für die Lektüre mit Schüler:innen auswählt, so muss sie sich angesichts einer heterogenen internationalen Schülerschaft auf Schüler:innen vorbereiten, denen das antike Zitat mit seinem Kontext unvermittelt sehr aktuell erscheinen könnte. Die vom antiken Autor Herodot geschilderte Situation bei den Thermopylen ähnelt strukturell der Situation im Asow-Stahlwerk im Mai 2022, wo hunderte ukrainische Soldat:innen ihr Leben einsetzten, um ihrem Land hierdurch strategische Optionen zu eröffnen. Es ist davon auszugehen, dass manche Schüler:innen auch positive Perspektiven auf Soldat:innen in Presse und Literatur (z.B. Zhadan 2022a, 2022b) oder durch persönliche Berichte mitbekommen haben und das antike Zitat affirmativ aufgreifen.
Ukrainische Soldat:innen erscheinen diesen Schüler:innen als moralische Akteur:innen, die im Sinne Schillers nicht nur die Freiheit, sondern schlicht das Leben ihrer Landsleute angesichts eines Angriffskrieges schützen. Deshalb wird es für die Lehrkraft essenziell sein, den spezifischen historischen Kontext zur Kurzgeschichte Heinrich Bölls im Unterricht herauszuarbeiten. Böll bezieht sich auf den Soldatenberuf im nicht gerechtfertigten imperialistischen Krieg einer Diktatur, die keine Freiheit lässt. Um den Unterricht indoktrinationsfrei zu gestalten, darf die negative Perspektive auf den Soldatenberuf nicht allein stehen bleiben und gleichsam absolut gesetzt werden. Ohne die Thematisierung von alternativen Positionen im Unterricht besteht die Gefahr, dass bei den Schüler:innen der Eindruck entsteht, die Tätigkeit als Soldat:innen sollte allgemein als moralisch minderwertig desavouiert werden.
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Aber wie wurde der russländische Krieg in der Ukraine 2022 in den Schulen aufgegriffen? Wir haben dazu noch keine wissenschaftliche Studie, aber Berichte von Studierenden des Lehramts im Praxissemester, die diese in meine Seminare einbringen, vermitteln Eindrücke von pädagogischen Praktiken in der Thematisierung des Krieges. Dabei werden am häufigsten das Ausschneiden oder Zeichnen von Friedenstauben und Peace-Zeichen beziehungsweise das Nachstellen von Peace-Zeichen genannt. Viele Schulen reagierten mit einem Friedens-Appell, der zwei Funktionen erfüllen sollte. Erstens sollte angesichts der internationalen politischen Herausforderung das politische Bewusstsein der Schüler:innen gebildet werden. Zweitens sollte latenten Konflikten unter Gruppen von Schüler:innen präventiv begegnet werden.
Denn indirekt werden der Krieg und seine Folgen auch in der Schule spürbar; hier ein paar Beispiele:
Neu hinzugekommene ukrainische Kinder lehnen die ihnen zugewiesenen russischen Kinder als Übersetzer:innen oder Mentor:innen ab. Einzelne Schüler:innen weigern sich, beim Nachstellen von Peace-Zeichen mitzumachen. Es ist strittig, ob an der Schule ukrainische Flaggen angebracht werden dürfen (und ggf. wo und von wem). Der Konflikt scheint auch in den Schulen antagonistisch, Versuche der Deliberation mit unterschiedlichen Schülergruppen wurden von den Praxissemester¬studierenden nicht beobachtet. Insgesamt tut sich die Schule mit einer demokratiepädagogischen Antwort auf den Vernichtungskrieg schwer. Politische Bildung und Demokratie¬pädagogik scheinen auf Friedenszeiten in Europa ausgelegt zu sein. Sie funktionieren, indem kriegerische Auseinandersetzungen nachbereitet und für die Zukunft gewaltfreie Konfliktlösungen eingefordert werden.
Aber für Kontexte, in denen es einer Partei nicht mehr rational erscheint, eine gewaltfreie Konfliktlösung anzustreben, hält diese Pädagogik weniger Angebote bereit. Zu leicht wird davon ausgegangen, Kontrahent:innen könnten sich auf Augenhöhe begegnen, wo dies faktisch aufgrund der Positionierung einer Seite nicht gegeben ist. Es stellt sich die Frage, wie sich politische Bildung und Demokratiepädagogik neu aufstellen können, wenn sie nicht der Versuchung einer Nicht-Thematisierung eines Typs von Konflikten erliegen wollen, zum Beispiel indem alles, was antagonistisch erscheint, dem privaten Bereich der Schüler:innen zugeordnet wird. Um diese Frage weiter zu verfolgen, sollen zunächst die konzeptionellen Grundlagen von politischer Bildung und Demokratiepädagogik vertieft werden.
5. Konzeptionelle Vertiefung von politischer Bildung und Demokratiepädagogik
Die Begriffe politische Bildung und Demokratiepädagogik werden nicht einheitlich verwendet (Beutel et al. 2022b; May/Pohl 2022; Oberle 2022). Es lassen sich diverse Abgrenzungsversuche feststellen, von denen hier zwei kurz benannt werden sollen. In einer ersten Abgrenzung wird politische Bildung auf die Vorbereitung zur Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen fokussiert (z.B. Massing 1995), wohingegen Demokratiepädagogik sich als Vorbereitung auf das Miteinander in der Zivilgesellschaft versteht und breitere Formen sozialen Lernens einbezieht (z.B. Beutel/Fauser 2006).
In einer zweiten Abgrenzung adressiert politische Bildung die Emanzipation des Individuums, das nicht nur zu kritischer Analyse und zu eigenem Urteil ermächtigt werden soll, sondern zu einer Subjektivierung, in der es sich unabhängig von der bestehenden Ordnung macht (Biesta 2011). Dem entgegen steht eine Demokratiepädagogik, die affirmativ für die politische Kultur demokratischer Werte und Institutionen wirbt (Abs 2021).
Die erste Abgrenzung zwischen politischem Lernen im engeren Sinn und sozialem Lernen für demokratische Verhältnisse wird von Oberle (2022) unter dem Begriff der Demokratiebildung beispielhaft integriert, indem sie dem formalen Lernen im Politikunterricht sowie dem überfachlichen und informellen Lernen in der Schule unterschiedliche Schwerpunkte zuweist.
Die zweite Abgrenzung ist aktuell stärker umkämpft. Hier steht die Frage im Raum, inwieweit die Affirmation bestehender Werte und bestehender demokratisch konzipierter Institutionen evtl. auch Machtverhältnisse transportiert, die keine vollständige Emanzipation zulassen. Eine Institution, an der sich diese Frage festmachen lässt, ist die Schule, zu deren Institutionalisierung in Deutschland unter anderem die Schulpflicht gehört.
Aufgrund ihrer gesetzlichen Grundlage darf die Schulpflicht in liberalen Demokratien als demokratisch legitimiert gelten. Gleichwohl stimmt ihr nicht jedes Individuum und jede Familie zu. Daraus wird vereinzelt insgesamt ein Zwangscharakter der Schule abgeleitet, der die notwendig asymmetrischen Sozialverhältnisse „vermachtet“, d.h. mit Machtstrukturen unterlegt (Becker et al. 2020).
Aus einer anderen, demokratietheoretischen Perspektive erscheint die Schulpflicht als für die Demokratie notwendig, damit alle künftigen Bürger:innen eine hinreichende Bildung und Erziehung zur Beteiligung an Politik und Gesellschaft erhalten (Honneth 2012). Der Versuch, in einem autonomen Raum auf Demokratie vorzubereiten, erscheint aus dieser Perspektive weder realistisch noch demokratisch zielführend. Künftige Bürger:innen sollten einerseits das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses (Jürgen Habermas) kennen und an seiner Umsetzung arbeiten und andererseits wissen, dass jede Diskussion immer schon mit Machtkonstellationen durchzogen ist.
Macht wird nicht als solche als negativ bewertet; sie kann zum Beispiel dazu beitragen, dass faire Diskussionen erst möglich werden und Ergebnisse nicht im Sande verlaufen. Ohne Schulpflicht würden in der Demokratie viele Diskussionen zwischen zukünftigen Bürger:innen nicht stattfinden.
Aus einer Perspektive der Demokratiepädagogik ist darauf zu achten, vorhandene machtvolle Strukturen zu erkennen, um sie auf ihre Sinnhaftigkeit und Legitimität hin befragen zu können. Nur wenn die vorhandenen Strukturen erkannt sind, lässt sich in diesen (oder auch gegen diese) demokratisch etwas gestalten. Die demokratisch legitimierte und – vor allem deshalb – machtvolle Struktur Schule ist für die zukünftigen Bürger:innen die erste Institution, in der alle erleben, dass Macht nicht absolute Macht ist, sondern rechtsstaatlich eingehegt, so dass grundlegende Rechte jeder:jedes Einzelnen berücksichtigt werden müssen.
Vor diesem Hintergrund können politische Bildung und Demokratiepädagogik wie folgt definiert und komplementär aufeinander bezogen werden: Politische Bildung wird betrachtet als die Förderung der politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit mit dem Ziel, allgemeinverbindliche Entscheidungen zur Regelung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen herbeizuführen.
Demokratiepädagogik, und synonym Demokratieerziehung, wird betrachtet als die Förderung der individuellen Unterstützung für die Permanenz einer Bindung von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Akteur:innen an Demokratie als Wert und Verfahren. Ähnlich formuliert Drerup (2020: 33), dass von der Demokratieerziehung eine „Kultivierung von basalen normativen Orientierungen“ zu erwarten sei.
Im Hintergrund steht das Theorem der politischen Kultur (Fuchs 2002; Norris 2017), demzufolge Staaten für ihren dynamischen Fortbestand (Persistenz) auf unterschiedliche Formen der Unterstützung durch die Bürger:innen angewiesen sind. Dabei ist eine Unterstützung von Werten im Sinne normativer Orientierungen die Voraussetzung dafür, Institutionen und Politiken so kritisch zu begleiten und zu kontrollieren, dass diese bei Bedarf – immer auf Grundlage von demokratischen Werten und Menschenrechten – korrigiert oder weiterentwickelt werden können (Hahn-Laudenberg 2022).
Mit Stiller (2020: 110) lässt sich die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen politischer Bildung und Demokratieerziehung weiter begründen, indem die Arbeit an Werten in höherem Maße als Gegenstand der Erziehung begriffen wird, weil Werte stärker in der Perspektive des personalen Bezugs vermittelt werden und stärker auf Verantwortungsübernahme in sozialen Zusammenhängen ausgerichtet sind.
Demgegenüber sieht Stiller kognitive Kompetenzen in höherem Maße als Gegenstände von politischer Bildung. Dem entsprechen auch die Lehrpläne der deutschen Bundesländer zur politischen Bildung an Schulen, in denen affektive Lernziele falls überhaupt, dann randständig repräsentiert sind. Anders als in vielen Lehrplänen unmittelbar erkennbar, greifen Demokratieerziehung und politische Bildung ineinander, denn sowohl die kognitive kompetente als auch die wertebasierte individuelle Unterstützung des politischen Systems sind in der Demokratie erforderlich, damit das System persistent verbindliche Entscheidungen zur Regelung gesellschaftlicher Probleme hervorbringen kann, die von der jeweiligen Gesellschaft auch mitgetragen werden. Eine Durchsetzung von Entscheidungen gegen eine deutliche Mehrheit der Gesellschaft zehrt an deren Unterstützung.
International werden die Perspektiven der politischen Bildung und der Demokratiepädagogik beziehungsweise Demokratieerziehung meist integriert behandelt (z.B. Banks 2022). Dies trifft auch auf die weithin geteilte Definition des Europarats zu „Education for democratic citizenship“ zu (Council of Europe 2010):
Education for democratic citizenship means education, training, awareness rising, information, practices and activities which aim, by equipping learners with knowledge, skills and understanding and developing their attitudes and behaviour, to empower them to exercise and defend their democratic rights and/responsibilities in society, to value diversity and to play an active part in democratic life, with a view to the promotion and protection of democracy and the rule of law. (Ebd.: 5f.)
Im Unterschied zum deutschsprachigen Diskurs werden in dieser Definition unterschiedliche Praktiken, die in Deutschland zum Teil gegeneinander positioniert werden, zum Beispiel Bildung und Training, additiv als Aktivitäten aufgelistet, die einer Reihe von kognitiven, affektiven und volitionalen Zielen dienen. Die Ziele beziehen sich nicht nur auf die Entfaltung von Eigeninteressen, sondern auch auf die Einordnung in einen sozialen Zusammenhang, insofern dadurch ein übergeordneter Zweck unterstützt wird.
Eine wichtige Kernbotschaft für die Diskussion in Deutschland besteht darin, dass der Zweck, den die Europaratsdefinition benennt, der Autonomie des Individuums übergeordnet ist, weil nur so die Autonomie des Individuums in den Grenzen von Demokratie und Rechtssaat dauerhaft abgesichert werden kann. Eine Verabsolutierung des Subjekts wird vermieden und eine politische Kultur befördert, welche auch die Institutionalisierung von Demokratie (in Form der Rechtstaatlichkeit) als schützenswert begreift. Der Europarat hat diese politische Kultur der Demokratie näher im Reference Framework for Competences for Democratic Culture (CoE 2018) niedergelegt.
Nachdem die Gegenstände von politischer Bildung und Demokratieerziehung in diesem Abschnitt näher bestimmt wurden, soll abschließend ein Ausblick gegeben werden, wie politische Bildung und Demokratieerziehung auf die Herausforderung des Kriegs in der Ukraine bezogen werden können.
6. Neue Aufgaben der politischen Bildung und Demokratiepädagogik angesichts des Krieges
Die Aufgabe für politische Bildner:innen und Demokratiepädagog:innen besteht darin Lernumgebungen zu entwickeln, die dem politischen Gegenstand, der nun in der Lebenswelt der ihnen anvertrauten Schüler:innen präsent ist, gerecht werden. Auf der kognitiven Ebene geht es zunächst darum, die politischen Entscheidungen zum Krieg und zur Verteidigung nachzuvollziehen und in einen Rechtsrahmen einzuordnen. Dabei kann beispielsweise ein Rückgriff auf die Charta der Vereinten Nationen weiterhelfen:
Die UN-Charta verbietet das Führen eines Angriffskrieges und darüberhinausgehend die Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen (UN-Charta Art. 2). Zugleich wird festgehalten, dass ein Staat sich militärisch verteidigen darf, wenn er angegriffen wird (UN-Charta Art. 51).
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Es wird eine neue Aufgabe der Friedens- und Demokratiepädagogik sein, Lehrkräfte darauf vorzubereiten, nicht nur das Friedensgebot (UN Charta Art. 2), sondern auch das Recht auf militärische Selbstverteidigung (UN-Charta Art. 51) als Inhalt zu lehren. Dies gehört auch dann zu den Aufgaben von Lehrkräften, wenn sie als Privatpersonen Pazifist:innen sein mögen. Der Bezug zur UN-Charta ermöglicht im Falle des Angriffskriegs Russlands gegenüber der Ukraine eine klare Differenzierung von Angriff und Verteidigung. Dies sollte von der politischen Bildung nicht ausgeklammert werden.
Politische Bildner:innen verfehlen ihre Aufgabe, wenn sie die Differenzierung zwischen Angriff und Verteidigung aus der UN-Charta nicht nutzen und mit einem Verweis auf das Primat gewaltfreier Konfliktaushandlung, Aggressor:innen und Angegriffene auf eine Stufe stellen, wodurch sie letztlich den rechtlichen und moralischen Standpunkt der Verteidiger:innen schwächen würden.
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Weiterhin ist es im aktuellen Konflikt auch Aufgabe der politischen Bildung in Deutschland, die deutsche historische und aktuell gegenwärtige Involviertheit Deutschlands in das Kriegsgeschehen aufzuarbeiten. In diesem Sinne sollte politische Bildung mit ihren Adressat:innen reflektieren, dass der Wunsch, mit dem imperialen Angreifer einen Kompromiss zu finden, einen historischen Schatten mit sich führt, der die eigene deutsche imperialistische Vergangenheit in Osteuropa verdeckt (Snyder 2022).
Forderungen im Interesse Deutschlands, die Waffen schnell niederzulegen und mit Russland zu verhandeln (zum Beispiel taz vom 5.5.2022), stehen im Verdacht, noch immer eine imperiale Haltung einzunehmen. Denn es war der deutsche Imperialismus, der im Zweiten Weltkrieg die Ukraine überrannte und auf Russland als konkurrierendes Imperium fokussierte.
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Historisch kann es nun als Fortsetzung des Imperialismus verstanden werden, wenn Deutschland nach wie vor auf Russland fokussiert und einen Ausgleich zwischen (ehemaligen) Imperien sucht, bei dem kleineren oder schwächeren Staaten kein Eigenrecht zugestanden wird, während die deutschen Interessen (zum Beispiel an Energierohstoffen und Handel) maximiert werden. Basierend auf diesem historischen Argument lässt sich gegenüber einer pazifistischen Haltung in Deutschland der Vorwurf formulieren, dass sie einem neuen Imperialismus Vorschub leistet und so gerade nicht dazu beträgt, dass von Deutschland kein Krieg mehr ausgeht.
Auf der affektiven und volitionalen Ebene gilt es, an Schulen Bildungskontexte zu schaffen, die eine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit von Soldat:innen ermöglichen. Vorbehalte dagegen, Soldat:innen an Schulen einzuladen oder Standorte der deutschen Armee zu besuchen, grenzen die Armee in diffus vorverurteilender Weise aus den rechtsstaatlich kontrollierten und demokratisch legitimierten Institutionen aus. Schüler:innen, die in Deutschland bald ab dem 16. Lebensjahr an nationalen Wahlen teilnehmen sollen, darf nicht der lebensweltliche Kontakt zu den entsprechenden Institutionen der Demokratie verwehrt bleiben. Dieser unterstützt sie darin, eine eigene Haltung zu finden, wie sie zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beitragen können.
In dem Zusammenhang ist erstaunlich, dass es allgemein akzeptiert ist, mit der Polizei an Schulen zusammenzuarbeiten, ohne dass jedes Mal ein:e Polizeikritiker:in (zum Beispiel Aktivist:in von „defund the police“) anwesend ist, während bei einer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr bisweilen gefordert wird, es müsse jedes Mal auch ein:e Militärkritiker:in dazugeholt werden. Eine solche herausgehobene Distanzierung gegenüber der institutionalisierten Verteidigung der Demokratie nach außen wird dem Verständnis von Bürger:innen in Uniform, die in einer demokratisch legitimierten Armee ihren Dienst tun, nicht gerecht.
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In diesem Kontext muss sich die Demokratieerziehung mit dem Bild der Soldat:innen neu beschäftigen. So treffend die Thematisierung des Soldaten im Kontext einer Diktatur bei Heinrich Böll ist, darf Schule das Bild der Soldat:innen nicht an einem einzigen Kontext festmachen, sondern muss auch Beispiele integrieren, in denen der Tod von Soldat:innen Dankbarkeit verdient. Denn, „wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen“ (Snyder 2017: 115). Insofern können politische Bildung und Demokratiepädagogik nur dann als vollwertiger Beitrag zum Bestand wehrhafter Demokratien begriffen werden, wenn sie auch eine Pädagogik der militärischen Verteidigung einschließen.
Die Aufgabe, Frieden, Freiheit, Sicherheit für die Individuen sowie Schutz von Demokratie und Rechtsstaat in der politischen Bildung und Demokratiepädagogik zu justieren, ist heute in Deutschland herausfordernder als dies 1950 der Fall war. Damals konnte allein von der Negativfolie der nationalsozialistischen Erfahrung ausgegangen werden, während sich heute zusätzliche Anforderungen von innen und außen an die Demokratie Deutschlands stellen.
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Deshalb gilt es, das Konzept einer Pädagogik der wehrhaften Demokratie unter Einschluss der militärischen Verteidigung in den nächsten Jahren neu zu erarbeiten.
Es steht zunächst an, für die verschiedenen Zielgruppen einer solchen Pädagogik die Ziele und Inhalte unter anderem aus der Tradition der Friedenspädagogik zu analysieren und daraufhin zu befragen, inwiefern sie eine (militärische) Verteidigung der Demokratie als staatlicher Regierungsform in Deutschland unterstützen. Sodann geht es darum, ergänzende Inhalte zu bestimmen. Diese sollten unter anderem folgende Punkte umfassen:
1. Souveränität als Voraussetzung von wehrhafter Demokratie,
2. konstruktivistische und realistische Analyse von internationalen Beziehungen,
3. historische Fallstudien zu den Folgen von Angriffskriegen für vulnerable Gruppen, zum Beispiel für die Frauen und Kinder in den angegriffenen Ländern,
4. Gesprächstraining zur Unterstützung von demokratischen Institutionen,
5. innerstaatlicher Schutz von Institutionen der Demokratie,
6. Auffassung von Soldat:innen als Bürger:innen in Uniform,
7. die Todesbereitschaft von Soldat:innen als Beispiel für die menschliche Möglichkeit, den Wert des eigenen Lebens nicht absolut zu sehen.
Um eine Pädagogik der wehrhaften Demokratie unter Einschluss der militärischen Verteidigung etablieren zu können, werden weiterhin Partner:innen aus Politik und Zivilgesellschaft benötigt, die durch ihr politisches und gesellschaftliches Eintreten für eine wehrhafte Demokratie Beispiele für Engagement geben. Schließlich sollte das Thema in der Ausbildung von Lehrkräften und weiteren Multiplikator:innen ein neues Gewicht bekommen. Es sollte der Normalfall sein, dass Lehrkräfte, die Politik unterrichten, auch selbst persönliche Begegnungen und Gespräche mit Bürger:innen in Uniform hatten und haben.
Zugleich ist zu berücksichtigen, dass ein Großteil der politischen Bildung durch Lehrkräfte und weitere Multiplikator:innen erfolgt, die selbst keine einschlägige Ausbildung erhalten haben. Deshalb ist es vordringlich, einschlägige Lehr-Lernmaterialen zu entwickeln, die von einseitigen Abwertungen gegenüber Soldat:innen oder Institutionen der wehrhaften Demokratie frei sind. (hk).
Zitierweise: Hermann J. Abs, "Der Krieg in der Ukraine als neuer Horizont für politische Bildung und Demokratiepädagogik", Deutschland Archiv vom 27.07.2023. www.bpb.de/deutschlandarchiv/523503. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Die Reihe wird fortgesetzt. Sie können uns gerne auch Ihre Ansichten mailen. An: E-Mail Link: deutschlandarchiv@bpb.de.
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Hermann Josef Abs hat seit 2013 die Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Duisburg-Essen inne.
Zuvor war er in verschiedenen Positionen an anderen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig, so als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg, als Projektleiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und als Professor für Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Gießen.
Ergänzend zu seiner wissenschaftlichen Laufbahn qualifizierte sich Abs als Lehrer (Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in Baden-Württemberg) und Berater (Diplom Supervisor, österreichisches Bundesinstitut für Erwachsenenbildung). Sein Forschungsfokus richtet sich auf die Veränderung von Schule und die Entwicklung von Lehrerprofessionalität angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Herausforderungen. (Quelle: Externer Link: Universität Duisburg-Essen)
Abs leitete bis Ende 2022 für acht Jahre den wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung und verabschiedete sich dort mit dem nachstehenden Diskussionsbeitrag, in dem er der Frage nach Veränderungsbedarfen der politischen Bildung durch den Krieg in der Ukraine nachgeht. Der Text erscheint in: Heinemann, A.; Karakaşoğlu, Y.; Linnemann, T.; Rose, N.; Sturm, T.: ENT | GRENZ | UNGEN. Beiträge zum 28. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Verlag Barbara Budrich (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)), Opladen/Berlin/Toronto 2023.
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