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Frauen und die ikonischen Momente des 17. Juni 1953 | Die Frauen des Volksaufstandes | bpb.de

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Frauen und die ikonischen Momente des 17. Juni 1953

Andrea Bahr Michèle Matetschk

/ 6 Minuten zu lesen

Manche Bilder des 17. Juni 1953 haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Eine genauere Betrachtung dieser Bildikonen aus einer frauenhistorischen Perspektive kann neue Ansätze für die Erforschung der Ereignisse und ihrer Hintergründe liefern.

Demonstrierende des 17. Juni 1953 am Brandenburger Tor (© picture-alliance/AP)

Bildausschnitt: Frau mit Fahne unter den Demonstrierenden des 17. Juni 1953 am Brandenburger Tor (© picture-alliance/AP)

Zu unserem kollektiven Gedächtnis des 17. Juni 1953 gehören einige ikonische Bilder, die auf zentrale Aktionen des Volksaufstandes verweisen: Menschen, die mit Steinen und Knüppeln auf die sowjetischen Panzer losgingen, die Beschäftigten aus Hennigsdorfer Betrieben, die fast 30 Kilometer zu den Protesten nach Ost-Berlin marschierten und dabei den Westteil der Stadt durchquerten, oder Menschen, die das Brandenburger Tor erstürmten und die rote Fahne herunterrissen. Diese Ereignisse gehören zum Erinnerungskanon des 17. Juni und die Fotos davon sind zu Bildikonen geworden.

Schaut man sich die Fotos des Marsches der Hennigsdorfer und der Erstürmung des Brandenburger Tores genauer an, so entdeckt man neben den vielen Männern auch Frauen. Ein Blick in andere Quellen und Forschungsliteratur bestätigt, dass Frauen die Geschichte dieser ikonischen Momente des Volksaufstandes geprägt haben.

„Marsch der Hennigsdorfer“

Der „Marsch der Hennigsdorfer“ zählte mehrere Tausend Menschen, die sich am Morgen des 17. Juni 1953 auf den Weg von Hennigsdorf nach Ost-Berlin machten. Den Beschäftigten aus dem Stahl- und Walzwerk „Wilhelm Florin“ und dem VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke „Hans Beimler“ schlossen sich Menschen aus anderen Betrieben an. Auf dem fast 30 Kilometer langen Weg nach Ost-Berlin mussten die Protestierenden die Grenze überschreiten und durch den Westsektor der Stadt laufen. Dort erlebten sie die Solidarität der Menschen in West-Berlin, die ihnen beispielsweise mit Essen und Getränken den Marsch erleichterten. Die Bilder von diesem Marsch werden immer wieder gezeigt, wenn der Volksaufstand in Büchern, Ausstellungen oder Online-Projekten thematisiert wird.

17. Juni 1953: Demonstrationszug der Stahlwerker von Hennigsdorf nach Ost-Berlin. (© AdsD der FES, Signatur 6/FOTB001831)

Insbesondere ein Bild ist omnipräsent im kollektiven Gedächtnis: Es zeigt die Demonstrierenden in West-Berlin. Besonders auffällig ist der große Mann in der ersten Reihe. Er fasst sich an den Hut als sei er gerade im Begriff, die Menschen am Rande des Zuges zu grüßen. Seine Gestalt steht symbolisch für „den“ Stahlarbeiter aus Hennigsdorf: groß, kräftig, selbstbewusst und entschlossen. Doch in der ersten Reihe sind auch zwei Frauen zu erkennen, die im Zug mitmarschieren. In der RIAS-Reportage heißt es: „Die Männer und Frauen und Mädchen kommen genauso, wie sie heute früh sich in die Arbeitskleidung geworfen haben.“ Der Stahlwerker steht symbolisch für die Hennigsdorfer Beschäftigten. In der Betrachtung des Volksaufstandes verdeckt dieses männlich konnotierte Bild jedoch, dass auch Frauen der Hennigsdorfer Betriebe streikten.

Marsch der Beschäftigten der Hennigsdorfer Betriebe am 17. Juni 1953 nach Ost-Berlin. (© AdsD der FES, Signatur 6/FOTB002041)

Schon im Vorfeld des 17. Juni 1953 hatten weibliche Beschäftigte in Hennigsdorf an Arbeitsniederlegungen mitgewirkt. Sie demonstrierten gegen die erlassenen Normerhöhungen, aber auch gegen die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln und den Mangel an geeigneten Unterkünften. Frauen, die in Hennigsdorf für den VEB Bau-Union der Reichsbahn auf einer Baustelle tätig und deshalb temporär in gemeinschaftlichen Unterkünften untergebracht waren, führten nach dem 17. Juni 1953 die katastrophalen Wohnverhältnisse als Grund für ihre Teilnahme am Protest an. So müssten sich 35 Frauen eine Waschschüssel teilen und es gäbe keine Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Am Morgen des 30. Mai 1953 traten Beschäftigte des VEB Lokomotivbau in den Streik und in den folgenden Tagen waren es Frauen, die sich im Betrieb vernetzten. Als am 17. Juni 1953 der Demonstrationszug an der Grenze zu West-Berlin ankam, sollen es Frauen gewesen sein, die zur Deeskalation der Lage beitrugen. Die bewaffneten Grenzsoldaten gaben angesichts der schieren Masse der Protestierenden den Weg schnell frei.

Beschäftigte der Hennigsdorfer Betriebe auf dem Weg zum Haus der Ministerien durch den Westsektor; umgetretenes Schild "Anfang des demokratischen Sektors von Groß-Berlin". (© AdsD der FES, Signatur 6/FOTB002892)

Erstürmung des Brandenburger Tores

Im Laufe der Proteste am 17. Juni 1953 machten sich viele Demonstrierende auch auf den Weg zum Brandenburger Tor. Das städtische Wahrzeichen, das 1989 zum Symbol der Freiheit wurde, lag im sowjetischen Sektor, aber direkt an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Im Zweiten Weltkrieg war das Tor schwer beschädigt worden und die Quadriga wurde fast vollständig zerstört. Anstatt der Siegesgöttin Victoria in ihrem Streitwagen befand sich 1953 die rote Fahne als Symbol der neuen Ordnung und der sowjetischen Besatzungsmacht auf dem Brandenburger Tor. Mehrere junge Menschen kletterten am 17. Juni 1953 auf das Wahrzeichen, holten die rote Fahne herunter und zerstörten sie. Später hissten andere Demonstrierende die schwarz-rot-goldene Fahne auf dem Brandenburger Tor. Diese Fahne repräsentierte 1953 noch beide deutschen Staaten und verwies damit auf die Forderungen der Demonstrierenden nach einem geeinten Deutschland. Erst 1959 fügte die DDR ihrer Staatsflagge Hammer, Zirkel und Ährenkranz hinzu.

Die Erstürmung des Brandenburger Tores und die Proteste dort sind in mehreren Fotos festgehalten. Eines dieser Fotos zeigt, dass eine junge Frau aus dem Pulk der Protestierenden eine Fahne schwingt. Aus einer Reportage im RIAS am 17. Juni 1953 kennen wir außerdem die Geschichte von Ingeborg, die mit anderen jungen Menschen auf das Brandenburger Tor kletterte. Ingeborg studierte 1953 an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, schloss sich am 17. Juni den Protesten an und konnte am selben Tag mit anderen Demonstrierenden im RIAS ihre Geschichte erzählen. Ingeborg berichtete von der Erstürmung des Brandenburger Tores:

Zitat

Hinter uns waren die russischen Panzer. (…) Und da sagten wir: Unsere Fahnen, die wir nun den ganzen Tag, den ganzen Vormittag mitgetragen hatten, die wir mitgeschwungen hatten, womit wir alle gesammelt hatten, die sollten noch mit drauf. (…) Wir gingen dann auch zuerst rauf. Und wir kletterten dann die Leiter und na eben diese ganzen Vorrichtungen da rauf. Und schwangen dann oben ganz frei unsere Fahnen. Unten jubelte die Menge. Wir wussten: Jetzt hatten wir irgendetwas erreicht.

Aufruf einer Arbeiterdelegation im RIAS an die Ost-Berliner Bevölkerung am 17. Juni 1953 Archiv Deutschlandradio (DZ093842)

Dass die Menschen um Ingeborg beschlossen, ihre mitgebrachten Fahnen ebenfalls zu hissen, war riskant. Es war nicht einfach auf das Tor zu klettern, zumal – wie Ingeborg und andere Beteiligte berichteten – bereits sowjetische Soldaten auf die Menschen schossen. Für Ingeborg und die anderen war es ein Erfolg, ihre Fahnen nach oben zu bringen. Ingeborg schaffte es offenbar mit zwei anderen Menschen noch über eine Leiter und die Treppen im Inneren herunter. Nach ihr wurden die Menschen mit einer langen Holzstange gerettet. Fotos zeigen diese Rettungsaktion und auch Ingeborg berichtete davon.

Im RIAS-Interview rief Ingeborg die Studierenden der Humboldt-Universität außerdem auf, sich mit den Forderungen der Streikenden zu solidarisieren und sich an der Universität in den nächsten Tagen immer wieder zu treffen und auszutauschen. Die meisten Studierenden verhielten sich am 17. Juni 1953 eher abwartend. Nur wenige positionierten sich eindeutig als Unterstützer*innen des Aufstandes. Und nur eine kleine Gruppe erfüllte die Erwartungen des SED-Regimes und verteidigte die DDR auf den Straßen. Bereits im Vorfeld des 17. Juni 1953 hatte es mehrfach Überprüfungen der Studierenden und Lehrkräfte gegeben, an deren Ende viele exmatrikuliert bzw. entlassen wurden. Der SED ging es darum, die Universitäten zu den Kaderschmieden der sozialistischen Umgestaltung zu machen. Da hatten tatsächliche oder vermeintliche „Feinde“ der DDR keinen Platz. Allein an der Humboldt-Universität verloren zwischen Juli und November 1952 mehr als 300 Studierende ihren Studienplatz.

Ingeborg schlug im RIAS-Interview vor, dass man den Studierenden doch einen genauen Zeitpunkt nennen sollte, zu dem sie sich treffen sollten. Die mit ihr zum RIAS gekommenen Demonstrierenden reagierten darauf sofort sehr empört und einer antwortete: „Das wäre Verrat.“ Dies zeigt, dass den Demonstrierenden sehr wohl die Gefahren ihrer Aktionen bewusst waren. Ihnen war klar, dass das Regime im Falle eines Scheiterns der Proteste, hart zurückschlagen würde.

Die Bilder des 17. Juni 1953

Die Beispiele haben gezeigt, dass eine genauere Betrachtung der Bilder des Aufstandes aus einer frauenhistorischen Perspektive neue Ansätze für die Erforschung der Ereignisse und seiner Hintergründe liefern können. Das kollektive Gedächtnis des 17. Juni 1953 ist wesentlich von den wenigen Motiven geprägt, die fotografisch oder filmisch festgehalten wurden. Grundsätzlich fehlt bis heute eine systematische Visual History des Volksaufstandes. Sie könnte jedoch neue Perspektiven auf den Aufstand und seine Akteur*innen eröffnen. Wer produzierte die überlieferten Bilder und unter welchen Bedingungen sind sie entstanden? Welche Phasen des Ereignisses zeigen sie und welche Aspekte sind nicht festgehalten? Wie prägen bewegte Bilder und Fotos heute unser Bild vom 17. Juni 1953?

Weitere Inhalte

Andrea Bahr, Jahrgang 1981, ist promovierte Historikerin und Referentin für historisch-politische Bildung beim Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat u.a. zu den Kreisleitungen der SED und zur Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Partei „Die Grünen“ publiziert.

Michèle Matetschk, Jahrgang 1997, ist seit 2018 Mitarbeiterin in der Abteilung historisch-politische Bildung des Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie studierte Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Identität US-amerikanischer Astronautinnen im späten 20. Jahrhundert.