Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Wir leben in einem System, das Gewalt begünstigt" | Femizid | bpb.de

Femizid Editorial "Wir leben in einem System, das Gewalt begünstigt" Wie tödlich ist das Geschlechterverhältnis? Name it, count it, end it. Femizide erkennen, erfassen und beenden Wissensvermittlung statt Gesetzesänderung. Beziehungsfemizide in der juristischen Praxis Gewalt gegen Frauen in den Nachrichten Ni Una Menos. Portrait einer feministischen Bewegung Hexenverfolgung. Ein historischer Femizid?

"Wir leben in einem System, das Gewalt begünstigt" Ein Gespräch über Partnerschaftsgewalt, den Umgang deutscher Familiengerichte mit Betroffenen und darüber, warum sich die Gesellschaft schwertut, über diese Probleme zu sprechen

Asha Hedayati

/ 11 Minuten zu lesen

Wie können Betroffene von Partnerschaftsgewalt besser geschützt werden? Ein Gespräch über physische und psychische Gewalt, den Umgang deutscher Familiengerichte mit Betroffenen und darüber, warum es der Gesellschaft oft schwerfällt, über diese Probleme zu sprechen.

Frau Hedayati, als Anwältin für Familienrecht vertreten Sie vor allem Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Gibt es einen Fall, der Sie gerade besonders beschäftigt?

Asha Hedayati - Mich beschäftigen in besonderem Maße Fälle, die einen Bezug zu Kindern haben. Ich habe eine Mandantin, die mit ihren drei Kindern vor ihrem gewalttätigen Expartner in ein Frauenhaus geflüchtet ist. In der familiengerichtlichen Anhörung haben die Kinder der Richterin von der Gewalt gegen die Mutter und gegen sich selbst berichtet. Aber weder die Mutter noch die Kinder wurden ernst genommen. Der Vater hat die Mutter dann mit Verfahren überzogen, sie mit Lügen überkippt. Und weder das Jugendamt noch das Familiengericht haben ihm Grenzen gesetzt, weil seine Seite ja auch immer angehört werden muss. Und diese Frau, die jahrelang von ihrem Mann psychisch und körperlich misshandelt wurde, ist nach der Trennung Opfer dieser Nachtrennungsgewalt geworden – mithilfe staatlicher Institutionen. Irgendwann ist sie im Verfahren zusammengebrochen und als Betreuungs- und Bezugsperson ausgefallen. Seitdem leben die Kinder beim Vater. Und da frage ich mich schon, was das mit Kindern macht, wenn sie sehen, dass der Staat diese männliche Gewalt nicht ernst nimmt.

Ist das ein besonderer Fall oder haben Sie das schon öfter erlebt?

– Das ist kein Einzelfall. Es gibt von Gewalt betroffene Frauen, die sich durch gerichtliche Verfahren durchbeißen. Aber es kann eigentlich nicht an der Widerstandskraft des Opfers liegen, ob man Recht bekommt oder nicht. In diesen familiengerichtlichen Verfahren hängt immer so ein Damoklesschwert über den Frauen. Wenn sie häusliche Gewalt ansprechen, dann besteht die Gefahr, dass ihnen vorgeworfen wird, die Kinder gegen den Vater zu instrumentalisieren. Oder es kommen misogyne Mythen dazu, etwa dass die Frauen die Bindung der Kinder zum Vater unterbinden wollen. Dabei geht es ihnen in erster Linie darum, sich selbst und die Kinder zu schützen.

Wie viele Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt betroffen?

– Laut einer Studie aus dem Jahr 2004 hat jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Partnerschaftsgewalt erlebt. Und jede dritte Frau ist, unabhängig von einer Partnerschaft, einmal im Leben von Gewalt betroffen.

Ist das ein Problem, dass auch LGBTQA*-Personen betrifft?

– Dazu kenne ich keine Studien, aber man kann sicher davon ausgehen, dass LGBTQA*-Personen genauso betroffen sind. Sie haben oft das Problem, dass sie beispielsweise bei der Polizei diskriminierende Erfahrungen machen und den staatlichen Institutionen dadurch weniger vertrauen. Sie suchen entsprechend weniger nach Hilfe, können schlechter geschützt werden. Die Dunkelziffer dürfte bei dieser Personengruppe besonders hoch sein.

Wenn man sich die Zahlen anschaut, kann man davon ausgehen, dass jede:r von uns entweder eine Betroffene häuslicher Gewalt oder einen Täter persönlich kennt. Dennoch ist Partnerschaftsgewalt fast ein Tabuthema in Deutschland. Haben Sie eine Erklärung, warum das so ist?

– Tabus haben immer mit Scham zu tun. Frauen, die von Gewalt betroffen sind, schämen sich für ihre Opferrolle. Und das tun sie auch, weil ihnen die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen durch Täter-Opfer-Umkehr, durch Sexismus, durch misogyne Mythen immer wieder die Verantwortung für das gewalttätige Verhalten ihrer Partner übertragen. Scham ist also bei den Betroffenen ein Thema. Bei den Tätern, bei den Cis-Männern, die ja in den allermeisten Fällen die Täter sind, ist es vielleicht so, dass sie kein besonders großes Interesse daran haben, darüber zu reden, weil sie sich dann mit sich selbst, mit ihren Privilegien und ihrer Gewalttätigkeit auseinandersetzen müssten. Und die Politik hat kein besonders großes Interesse am Thema Partnerschaftsgewalt, weil es für dieses Problem keine einfachen und schnellen Lösungen gibt. Echte Präventionsmaßnahmen zahlen sich erst Jahrzehnte später aus. Und weil die Ergebnisse nicht sofort geliefert werden können, führt das nicht unbedingt zu mehr Wählerstimmen. Das sind einige der Gründe, die meiner Meinung dazu führen, dass das Thema nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient.

Sie haben gerade die Cis-Männer angesprochen. Wer sind die Täter häuslicher Gewalt?

– Häusliche Gewalt zieht sich durch alle sozialen Schichten und Milieus. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass die Täter vor allem sozial benachteiligte People of Color wären. Ich habe kürzlich ein Buch über die Frauenhausbewegung der 1970er Jahre gelesen. Da wurde eine Historikerin gefragt, ob sie sich erinnern könne, wer die erste Bewohnerin des ersten Frauenhauses in Berlin war. Sie antwortete, dass sei die Frau eines hochrangigen Richters gewesen. Häufig, wenn wir an häusliche Gewalt denken, denken wir nicht an Personen, die uns ähnlich sind oder aus unserer Blase kommen. Das will man lieber verdrängen.

Oft wird Gewalt gegen Frauen nur dann als gesellschaftliches Problem angesprochen, wenn die Täter People of Color sind. Warum?

– Ich glaube, dass das eine Funktion erfüllt. Es ist leichter für die Gesellschaft, diese Probleme auszuhalten, wenn sie an den Rand gedrängt werden können, wenn Menschen sagen können, "Ich bin nicht Täter. Das ist die sozial benachteiligte Person of Color in Neukölln", wenn die Täter fremde Vornamen haben – wenn es eben nicht um meinen Arbeitskollegen Thomas oder meinen Bruder Markus oder meinen Freund Jonas geht. Das macht den Blick in den Spiegel leichter zu ertragen, weil sonst müsste man sich damit auseinandersetzen, dass man sicher irgendwelche Freunde hat, die Täter sind, oder dass man vielleicht sogar selbst mal Täter war.

Gibt es Frauen, die besonders gefährdet sind, Betroffene zu werden?

– Mehrfach marginalisierte Personen sind sicherlich besonders betroffen. Rassifizierte, arme Frauen mit prekären Arbeitsverhältnissen etwa oder Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Diese Personengruppen rutschen viel schneller und leichter in Abhängigkeitsverhältnisse. Trans Frauen sind besonders gefährdet, weil sie weniger Zugang zu Schutzräumen haben und weniger Unterstützung bekommen. Aber auch Akademikerinnen können betroffen sein. Ich habe oft erlebt, wie die Gewalt vor allem dann zunimmt, wenn die Frauen sich emanzipieren und selbstständiger werden, wenn sie plötzlich mehr Geld verdienen als ihre Ehemänner. Akademikerinnen sind oft Opfer psychischer Gewalt, weil Männer aus Akademikerkreisen sehr gut wissen, wie sie diese Form der Gewalt einsetzen können, ohne dass es das Umfeld mitbekommt.

Was meinen Sie mit psychischer Gewalt?

– Das ist eine viel subtilere Form von Gewalt, die sicherlich ähnlich schwere Folgen für die Betroffenen hat wie körperliche. Der Täter schafft es, nach und nach seine Frau zu isolieren, sodass sie keine Freund:innen mehr trifft, keinen Hobbys mehr nachgeht, keine Selbstwertquellen mehr pflegt. Dann kommen die Beleidigungen, die Herabwürdigungen und die Bedrohungen dazu. Und irgendwann verliert die Frau ihr Selbstwertgefühl, ihr komplettes Ich. Die Gefahr ist, dass psychische Gewalt schleichend ist. Sie wird von den Betroffenen erst relativ spät erkannt, manchmal erst, wenn körperliche Gewalt dazukommt. Die Journalistin Antje Joel veranschaulicht dies in ihrem Buch "Prügel" mit dem Bild eines Frosches: Wirft man ihn in heißes Wasser, springt er sofort heraus. Wirft man einen Frosch aber in kaltes Wasser und lässt es langsam aufkochen, dann springt er nicht mehr heraus, er stirbt am Ende trotzdem, weil es zu heiß ist. So schleichend ist psychische Gewalt. Deswegen ist es auch schwierig, wenn wir als Gesellschaft den Frauen immer wieder die Frage stellen: "Aber wie konntest du das so lange mit dir machen lassen?"

Betroffenen häuslicher Gewalt fällt es oft nicht leicht, nach Hilfe zu suchen, auch aufgrund der Reaktionen, die sie manchmal erleben. Welche anderen Gründe gibt es?

– Scham spielt sicherlich eine Rolle. Aber es gibt auch strukturelle Probleme. Frauen sitzen in dieser völlig ausgelieferten Situation zu Hause und fragen sich: "Was kann ich tun, wie komme ich aus dieser Situation heraus?" Gleichzeitig wissen sie, sie werden etwa mit ihren zwei Kindern in Berlin keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Das ist eine ganz konkrete Hürde. Nicht alle können in ein Frauenhaus ziehen – und das ist auch nicht für jede eine Lösung. Das ist mit extrem hohen Verlusten verbunden: Verlust des sozialen Netzwerks oder der Kitaplätze, Verlust des Arbeitsplatzes. Da müsste man strukturell was tun, man müsste den Frauen sofort Wohnraum zur Verfügung stellen und ihnen versichern, dass sie auch nach der Trennung finanziell auskommen werden, denn – und auch das ist ein strukturelles Problem – als Alleinerziehende in Deutschland ist man massiv von Armut betroffen. Es kann nicht sein, dass Frauen bei einer Trennung zwischen Gewalt und Armut wählen müssen.

Gibt es auch Betroffene, die sich davor scheuen, Hilfe zu suchen, weil sie Angst haben, sie könnten durch die Trennung ihre Kinder verlieren?

– Ja. Das ist auch eine Gewaltmethode, die Männer oft einsetzen, wenn es Kinder in der Familie gibt. Sie drohen dann der Frau mit der Wegnahme oder der Entführung der Kinder. Sie sagen Dinge wie: "Ich werde dafür sorgen, dass du sie nie wieder siehst", oder "ich werde allen sagen, dass du psychisch krank bist und die Kinder nicht erziehen kannst." Und damit kommen sie oft durch. Ganz häufig muss ich bei der Beratung den Frauen immer wieder gut zusprechen und sagen: "Hör auf, ihm zu glauben".

Die Kinder und das Sorgerecht spielen oft auch bei den Gerichtsverfahren ihrer Mandantinnen eine wichtige Rolle. Welche Probleme erleben Sie im Gerichtssaal am häufigsten?

– Ich erlebe dort häufig viel Unkenntnis zum Thema Partnerschaftsgewalt. Dynamiken von Partnerschaftsgewalt oder überhaupt der Gewaltbegriff an sich werden meiner Meinung nach zu wenig ernst genommen. Wenn es um Gewalt geht, dann rein um die physische – und selbst da wird dem Täter oft genauso viel Platz eingeräumt wie der Betroffenen. Aber wie kann man bei so einem Machtgefälle von zwei Seiten sprechen, wenn die eine Seite so offensichtlich der Aggressor ist? Das führt zu einer ganz großen Verunsicherung bei den Betroffenen, die dann häufig die Schuld bei sich suchen, sich fragen, was sie hätten besser machen können – wie sie hätten verhindern können, dass man ihnen keine Gewalt antut. Ein ganz großes Problem bei Familiengerichten ist, dass der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Verhalten der Mütter liegt. Es ist gnadenlos, wie unsere Gesellschaft Mütter beurteilt und bewertet, während die Gewalt des Vaters häufig weggewischt wird. Bei Kindschaftsverfahren höre ich dann oft Sätze wie: "Die Gewalt des Vaters gegen die Mutter betrifft nicht die Beziehung des Vaters zum Kind", oder "ein schlechter Partner ist ja kein schlechter Vater." Es gibt Situationen, da wünschte ich mir wirklich, das Verfahren wäre öffentlich. Was sich da in diesen verschlossenen Sälen abspielt, in Deutschland, ist für Betroffene häuslicher Gewalt oft ein Albtraum.

Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine solche Situation?

– Ich habe häufig Schwierigkeiten mit Verfahrensbeiständen bei Kindschaftsverfahren. Das sind von Gerichten beauftragte Interessenvertreter:innen des Kindes. Sie sollen eine Empfehlung aussprechen, wie der Umgang mit den Elternteilen gestaltet werden könnte oder bei wem das Kind leben soll. Bis vor einem Jahr konnte jede:r, egal mit welchem Background, nach einer mehrwöchigen Ausbildung Verfahrensbeistand werden. Ich habe schon ehemalige Versicherungsmakler:innen erlebt, oder Tanztherapeut:innen, die Empfehlungen aussprechen. Und manchmal lassen Verfahrensbeistände Sätze fallen, bei denen mir der Kopf platzt. Ich hatte etwa eine Mandantin, die mehrfach das Frauenhaus wechseln musste, weil der Vater der gemeinsamen Kinder sie immer wieder aufgespürt hat. Er hat den Kindern manipulative Fragen gestellt, um die Adresse des Frauenhauses herauszufinden. Da hat die Verfahrensbeiständin dann in der Verhandlung vor der Mutter und dem Vater gesagt, die Mutter würde "mit ihrem Frauenhaus-Hopping den Kindern schaden". Und die Richterin hat diesen Satz kommentarlos hingenommen, ohne Bewertung, ohne Einordnung, ohne Reaktion. Und die Betroffene musste damit umgehen. Das ist Nachtrennungsgewalt, eine sekundäre Gewalt durch den Staat und die Richter:innen.

Welche Lösungsansätze sehen Sie an dieser Stelle?

– Ich glaube, dass wir eine Pflichtfortbildung zum Thema Partnerschaftsgewalt für Richter:innen veranlassen müssten. Schon bei der Ausbildung von Jurist:innen müsste man mehr Familien- und Gewaltschutzrecht anbieten. Ich finde, dass man generell Menschen im Jurastudium mehr zu kritischem Denken verleiten müsste, sodass sie nicht "so sind aber nun mal die Gesetze" sagen, sondern sich auch fragen, ob das, was sie entscheiden, auch wirklich gerecht ist. Ich erlebe noch viel zu wenig Richter:innen, die sich dessen bewusst sind, dass Frauen immer noch benachteiligt sind. Oder dass es People of Color in Deutschland gibt, die benachteiligt sind. Oder dass wir eben rassistische, diskriminierende Strukturen haben, die bestimmte Personengruppen benachteiligen. Und die vermeintliche Neutralität von Richter:innen führt auch dazu, dass wir ein benachteiligendes System stabilisieren.

Schützen deutsche Gesetze Betroffene häuslicher Gewalt genügend?

– Ich würde das so drehen: Vor fünf Jahren ist in Deutschland die Istanbul-Konvention in Kraft getreten, ein völkerrechtlicher Vertrag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Da stehen Forderungen drin und konkrete Maßnahmen. Wenn Deutschland das umsetzen würde, was in der Istanbul-Konvention steht, dann wären wir einen ganz großen Schritt weiter.

Ich würde zum Schluss noch auf die extremste Form von Partnerschaftsgewalt zu sprechen kommen: Femizide, Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Wie oft passieren sie in Deutschland?

– Alle drei Tage wird in Deutschland eine Frau durch die Gewalt ihres Ex- oder Noch-Partners getötet. Der größte Teil ereignet sich kurz nach der Trennung. Ich habe schon die Gefahr der Emanzipation angesprochen. Der Partner erträgt den Emanzipationsprozess der Frau nicht, ihr Mächtigwerden. Und er bekommt dann das Gefühlt, das würde seine Gewalt legitimieren, er müsse diese Macht nun zerstören, er müsse die Frau zerstören.

Sie arbeiten ja oft mit Mandantinnen, die sich trennen wollen. Machen Sie die Frauen auch auf diese konkrete Gefahr aufmerksam?

– Ich habe das Gefühl, dass die Mandantinnen ziemlich gut wissen, wie bedrohlich die Situation ist. Und das ist auch einer der Gründe, warum Sie die Trennung teilweise verzögern. Weil sie Angst davor haben, nicht genügend geschützt zu werden vor der Rache des Partners. Bei eskalierenden Fällen versuche ich allerdings schon mehr darauf einzuwirken, dass meine Mandantinnen in ein Frauenhaus gehen. Obwohl sie wissen, in welcher Gefahr sie sich befinden, wollen manche Frauen ihre Kinder nicht aus deren sozialem Umfeld reißen. Sie sagen: "Wenn ich da hinziehe, dann nehme ich meinen Kindern auch ihre Freunde weg, und die Trennung ist ja schon schwer genug für sie." Aber dann ist es mir wichtig, ihnen zu erklären: "Wenn du als Mutter nicht mehr existierst, dann ist das für die Kinder noch schlimmer."

Warum ist es so schwer, Femizide zu verhindern?

– Vorrangig, weil es unbequem ist, sie zu verhindern. Weil wir dann unser System infrage stellen müssten. Femizide zu bekämpfen, würde bedeuten, dass manche Menschen ihre Privilegien und Macht abgeben müssten. Wir müssten nach Lösungen suchen, um etwa Abhängigkeitsverhältnisse zu verringern. Und das würde wiederum bedeuten, dass wir uns die ökonomische Gleichstellung genauer anschauen müssten, etwa den Gender Pay Gap oder die unbezahlte Care-Arbeit der Frauen. Wir haben Gesetze, die Abhängigkeitsverhältnisse begünstigen, wie etwa das Ehegattensplitting, das Anreize dafür schafft, dass eine Person sehr viel Geld verdient und die andere besser gar nicht arbeiten geht. Wir leben in einem System, das nicht nur Gewalt nicht verhindert, sondern sie tatsächlich begünstigt.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit wir es schaffen, dass es überhaupt nicht mehr zu Partnerschaftsgewalt oder zu Femiziden kommt?

– Es ist sehr wichtig, an den Geschlechterrollen zu arbeiten. Man sollte schon mit Kindern im Kita- und Schulalter über Gleichstellung, über Feminismus, über falsch verstandene Männlichkeit sprechen. Überhaupt müsste man Kindern helfen, eine Sprache für männliche Gewalt zu finden. Und ich denke, wir müssen davon wegkommen, zu denken, dass eine Veränderung nur durch Frauen erwirkt werden kann. Wir brauchen die Cis-Männer für eine echte Veränderung. Wir werden ohne sie da nicht weiterkommen. Auch sie müssen Verantwortung dafür übernehmen. Und auch sie müssen verstehen, dass eine Gesellschaft nur frei und lebenswert ist, wenn alle in ihr ein freies, lebenswertes Leben führen können.

Das Interview führte die Journalistin Margherita Bettoni am 23. Februar 2023.

ist Anwältin für Familienrecht in Berlin-Neukölln. Im Herbst 2023 erscheint ihr Buch zum Thema Gewalt gegen Frauen im Rowohlt-Verlag.