Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Iran: Anhaltende Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini | Hintergrund aktuell | bpb.de

Iran: Anhaltende Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini

Redaktion

/ 5 Minuten zu lesen

Der Tod von Jina Mahsa Amini hat Proteste in verschiedenen Regionen Irans und in der ganzen Welt ausgelöst (28. September 2022, Teheran, Iran) (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Social Media)

Auslöser für die aktuellen Proteste in Interner Link: Iran ist der Tod von Jina Mahsa Amini. Die 22-Jährige stammte aus der iranischen Provinz Kurdistan. Am 13. September wurde sie in der iranischen Hauptstadt Teheran von der Sittenpolizei festgenommen. Ihr wurde vorgeworfen, ihr Kopftuch (Hidschab) nicht korrekt getragen zu haben. Die Sittenpolizei überwacht die Einhaltung der strengen islamischen Kleidervorschriften im öffentlichen Raum.

Während des Aufenthalts auf der Polizeiwache fiel Amini ins Koma und starb am 16. September in einer Klinik. Kurz nachdem der Vorfall bekannt wurde, kam es zu landesweiten Protesten, die seither anhalten.

Landesweite Proteste gegen das Regime

Aminis Eltern hatten Aufnahmen öffentlich gemacht, die ihre Tochter auf dem Krankenbett zeigten. Die Bilder verbreiteten sich schnell in den sozialen Netzwerken. Bereits an ihrem Todestag kam es vor dem Krankenhaus zu ersten Protesten. In den folgenden Tagen kam es im ganzen Land zu Demonstrationen gegen Polizeigewalt und die moralischen Vorstellungen der iranischen Staatsführung – insbesondere in kurdischen Städten, im Nordwesten Irans. Kurdinnen und Kurden sind mit etwa zehn Prozent die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe im Vielvölkerstaat Iran und werden vom Regime unterdrückt. Ende September hat die iranische Revolutionsgarde kurdische Separatistengruppen im Nordirak angegriffen. Das Regime wirft ihnen vor, an den Protesten beteiligt zu sein und Protestierende mit Waffen zu unterstützen.

Die Protestwelle dauert seit Wochen an. Bei den Demonstrationen sind vor allem junge Menschen auf der Straße, darunter viele Studierende. Wesentliche Teile der Bewegung werden von Frauen angeführt, die gegen die Unterdrückung durch das Regime protestieren. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen Frauen ohne Hidschab in der Öffentlichkeit, wie sie die Kopftücher verbrennen oder sich aus Protest die Haare abschneiden. Mit fortlaufender Zeit richteten sich die Demonstrationen immer stärker gegen die Legitimation der Regierung. Die Solidarität mit den Demonstrierenden wächst im Land. In den gegenwärtig größten landesweiten Protesten seit 2017/2018 und November 2019 sehen einige Expertinnen und Experten gar den Beginn einer Revolution.

Das Regime versucht die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Die Einsatzkräfte gehen mit brutaler Härte vor. Bereits in der ersten Woche sollen nach verschiedenen Schätzungen bis zu 50 Menschen ums Leben gekommen sein. Amnesty International sprach am 14. Oktober von mindestens 144 Toten. Laut der Menschenrechtsorganisation sind mindestens 23 Kinder durch Sicherheitskräfte getötet worden. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Activists News Agency (HRANA) mit Sitz in den USA schätzte am 20. Oktober, dass es im Rahmen der Proteste insgesamt 240 Todesopfer gegeben habe. Die Aktivistengruppe gab am gleichen Tag an, dass seit dem Tod von Amini weit über 12.000 Menschen verhaftet worden seien. Am 21. September schaltete die iranische Regierung zudem weite Teile des Internets ab. Instagram und WhatsApp etwa sind seitdem gesperrt.

Theokratisches Regime seit 1979

Iran ist seit der Islamischen Revolution von 1979 eine präsidentielle Republik, Interner Link: die Züge eines theokratischen, autoritären Regimes in sich trägt. Das höchste Amt im Staat ist das des Religionsführers (Oberster Führer), der die Leitlinien der Politik festlegt und Oberbefehlshaber der Sicherheitsorgane ist. Er wird vom Expertenrat ernannt und nicht vom Volk gewählt. Seit 1989 bekleidet Ajatollah Ali Khamenei dieses Amt. Die Exekutive wird geleitet vom Staatspräsidenten. Er wird regelmäßig durch Wahlen bestimmt, seit 2021 ist der konservative Interner Link: Ebrahim Raisi im Amt. Einige aussichtsreiche Kandidaten wurden in jenem Jahr nicht zur Wahl zugelassen.

Laut Artikel 2 und 3 der Verfassung basiert die Islamische Republik auf dem Glauben in "den einen Gott". Die Regierung ist verpflichtet, ein politisches Umfeld zu schaffen, in dem "moralische Werte auf Basis des Glaubens" gedeihen können. Alle Gesetze müssen laut Artikel 4 "islamischen Kriterien" entsprechen. Es gelten die Richtlinien der Interner Link: Scharia, wenngleich diese in manchen Phasen der Mullah-Herrschaft bisweilen schwächer oder härter ausgelegt wurden.

Meist sind Frauen von Repressalien betroffen. Im Sommer hatte Präsident Raisi ein Dekret unterzeichnet, das strengere Regeln für das Tragen des Kopftuches etablieren sollte. Anfang September wurde bekannt, dass eine Gesichtserkennungssoftware eingesetzt werden soll, um diese Regeln auch durchzusetzen.

Frauenbewegung gegen Unterdrückung

Die heutige Sittenpolizei in Iran existiert seit 2005. Allein in den ersten neun Jahren ihres Bestehens brachte sie drei Millionen Frauen zur Anzeige, die nach dem Empfinden der Polizei durch ihre Kleidung gegen moralische Regeln verstoßen hatten. Das Kopftuch muss im Iran das Haupthaar der Frau bedecken. Viele jüngere Iranerinnen lehnten sich in den vergangenen Jahren dagegen auf. Die sozialen Netzwerke boten dafür eine Bühne: Auf Instagram zeigten sich Frauen, wie sie sich ohne Hidschab in der Öffentlichkeit bewegten. Am 12. Juli, dem staatlich angeordneten "Tag des Hidschabs", legten viele Iranerinnen in diesem Jahr unter dem Hashtag #no2hijab das Kopftuch ab. Da für die Sittenpolizei das Zeigen des Haupthaares eine Straftat darstellt, schnitten sich viele Iranerinnen im Zuge der aktuellen Proteste ihre Haare ab. Gleichzeitig ist das Abschneiden der Haare ein historisch überliefertes Symbol der Trauer.

Die Frauenbewegung in Iran

Die Frauenbewegung in Iran hat eine lange Tradition. Bereits im späten 19. Jahrhundert beteiligten sich persische Frauen an der "Tabak-Bewegung", die sich gegen die Vergabe eines Tabakmonopols an einen britischen Militär richtete. Auch an der konstitutionellen Revolution von 1905 wirkten sie mit. Unter der Herrschaft des Schahs erlebte Persien einen Modernisierungskurs, seit 1963 haben Frauen das aktive und passive Wahlrecht und bekleideten auch öffentliche Ämter. Mit der Islamischen Revolution 1979 wurden Frauenrechte in Iran eingeschränkt: Bestimmte Berufe bleiben Frauen verschlossen, beispielsweise das Richteramt. Im Ehe- und Familienrecht sind Männer bevorteilt, sie treffen alle wesentlichen Entscheidungen. Zudem wurde ab 1980 ein Schleierzwang für Frauen in der Öffentlichkeit erlassen und durchgesetzt.

Im Vergleich zu anderen muslimischen Ländern haben Frauen in Iran ein hohes Bildungsniveau . Insgesamt 19 Prozent der über 25-jährigen Iranerinnen besitzen mindestens einen Bachelor-Abschluss, bei den Männern sind es geringfügig weniger (18 Prozent). Allerdings ist der Anteil von Frauen am Arbeitsmarkt mit 18 Prozent nach wie vor gering.

Der Zwang zum Kopftuch und das Ausloten der Grenzen dieses Verbots sind seit vielen Jahren Teil der Frauenbewegung. Das gilt besonders für die urbanen Regionen des Iran. Es ist allerdings nicht das einzige politische Feld, in dem Frauen die Herrschaft des Regimes herausfordern. Die Frauenbewegung hatte beispielsweise auch an der Grünen Revolution nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 einen maßgeblichen Anteil.

Es ist nicht das erste Mal, dass es in Iran in jüngerer Zeit zu landesweiten Massendemonstrationen gekommen ist. Im Jahr 2009 kam es nach den Präsidentschaftswahlen zu massiven Protesten, die später als "Grüne Revolution" bezeichnet wurden. Zum Interner Link: Jahreswechsel 2017/2018 waren Menschen in Iran gegen Armut, Arbeitslosigkeit und die schlechte Versorgungslage auf die Straße gegangen. Im November 2019 lösten Benzinpreiserhöhungen eine weitere Protestwelle aus, bei der bis zu 1.500 Menschen ums Leben gekommen sein sollen.

Zweifel an der offiziellen Todesursache

Laut Darstellung der iranischen Behörden erlitt Amini einen Herzinfarkt. Ein Gutachten der Gerichtsmedizin weist auf eine Vorerkrankung hin, die zu einem Organversagen geführt habe. Aminis Familie bestreitet eine Vorerkrankung und berichtet ihrerseits davon, dass Amini gefoltert wurde und nach Schlägen auf den Kopf zusammengebrochen sei. Nach Angaben von Augenzeugen wurde sie bereits geschlagen, als sie in das Polizeifahrzeug gebracht wurde.

Auch das Krankenhaus hatte selbst zuerst auf sozialen Netzwerken von "inneren Blutungen" gesprochen, was auf massive Gewalteinwirkung von außen hindeuten könnte. Der Post ist mittlerweile gelöscht. Der iranische Innenminister Ahmad Wahidi stützt das Gutachten der Gerichtsmedizin, wonach es keine Schläge und keinen Schädelbruch gegeben habe.

EU beschließt Sanktionen gegen den Iran

Die Vereinten Nationen haben das Vorgehen der iranischen Regierung Ende September verurteilt und die verantwortlichen Institutionen aufgerufen, eine weitere Eskalation zu verhindern. Im Europäischen Parlament schnitt sich die schwedische Abgeordnete Abir Al-Sahlani aus Solidarität am Rednerpult ihren Haarzopf ab. Die Mitgliedsländer der EU einigten sich Mitte Oktober auf Sanktionen gegen mindestens 15 verantwortliche Einzelpersonen und Organisationen aus dem Iran. Demnach bereite die Europäische Kommission bereits entsprechende Maßnahmen vor.

Der iranische Revolutionsführer Khamenei machte indes eine „ausländische Verschwörung“ durch die USA und Israel für die Proteste in Iran verantwortlich. Gleichzeitig sagte Präsident Raisi, dass bestimmte Gesetze überprüft und gegebenenfalls revidiert werden sollen. Welche dies seien, ließ er allerdings offen.

Mehr zum Thema:

Weitere Inhalte

„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"