Stanislaw Lem hat meisterliche Rezensionen über und Vorworte zu Büchern geschrieben, die nicht existierten. Diese kleinen Kunstwerke des Polen sind Genusswerke. Noch seltener werden Rezensionen über Bücher veröffentlicht, die zwar geschrieben, gesetzt, gedruckt, gebunden und verkaufsbereit im Lager liegen, im allerletzten Augenblick aber zurückgezogen werden. So ungefähr ist es im August 2022 mit dem neuesten Buch von Rainer Eckert geschehen. Der Band heißt: „Getrübte Erinnerungen? Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik“. Er hat einschließlich Personenregister 647 Buchseiten. Die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ stellte einen Druckkostenzuschuss in Aussicht, damit es im „mitteldeutschen verlag“ in Halle an der Saale erscheinen könne. Aber dort wird es nach Lage der Dinge nicht herauskommen. Was ist geschehen?
Rainer Eckert zählt seit der Revolution von 1989/90 zu den bekanntesten ostdeutschen Historikern. Er war nicht nur an zahlreichen öffentlichen Debatten über Geschichts- und Erinnerungspolitik maßgeblich beteiligt und zählt zu den wichtigen Chronisten der ostdeutschen Oppositions- und Revolutionsgeschichte, er war überdies von 1997 bis 2015 Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig. Dort verantwortete er die erste, höchst erfolgreiche Dauerausstellung und viele Sonderausstellungen, die die Geschichte der DDR auf höchstem musealem Niveau einem Massenpublikum nahebrachten. Eckert war ein ungewöhnlich erfolgreicher Geschichtsvermittler. In zahlreichen Gremien und Vereinen war er buchstäblich unermüdlich tätig. Seine Publikationsliste ist ellenlang. Er ist auch schon länger Autor im „mitteldeutschen verlag“. Zuletzt erschien dort 2021 seine Autobiographie „Leben im Osten. Zwischen Potsdam und Ost-Berlin 1950-1990. Biografische Aufzeichnungen“.
Gerade diese Autobiographie zeigte Eckert von einer bislang in der Öffentlichkeit unbekannten Seite: sehr persönlich, sehr offen, sehr an seiner Sicht der Dinge interessiert, dabei weder auf sich selbst noch auf andere sonderlich Rücksicht nehmend, allein seine Wahrheit erscheint als Kompass seiner Darstellung. Das machte bereits die Autobiographie ungewöhnlich, aber auch interessant und originär. Die Quellen, die Eckert heranzog, waren überwiegend Egodokumente, eigene wie die von anderen. Auch war zuweilen überraschend, was er daraus machte. Und nicht unumstritten.
Der Verlag zögerte nicht, vor einem Jahr ein weiteres Buch von Eckert ins Programm aufzunehmen. Er wusste, was sein Autor zu bieten hat, ebenso, was er nicht erwarten konnte. Eckert geht es um Inhalte, um die Darlegung seiner Wahrheit, der er als Chronist ohne sonderliche literarische Ansprüche Genüge tun möchte. Der Titel für das neue Buch, „Getrübte Erinnerungen?“, geht meines Wissens sogar auf eine Idee des Verlages zurück. Dort haben sich neben dem Geschäftsführer auch der Cheflektor sowie eine Lektorin mit dem Manuskript befasst. Niemand hatte nach Auskunft des Autors etwas auszusetzen, was einem Druck entgegengestanden hätte. Das Manuskript ist bearbeitet, überarbeitet, und gesetzt worden, Druckfahnen wurden verteilt. Ein ganz normaler Vorgang. Ebenso normal im Bereich wissenschaftlicher Fachbücher ist es, Bücher mit einem Druckkostenzuschuss zu versehen. Für dieses Buch bewilligte die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ eine Förderung, die sie noch erhöhte, als sich herausstellte, dass das Buch umfangreicher als ursprünglich kalkuliert ausfallen würde.
Der Ablauf innerhalb der Stiftung für die Bewilligung solcher Zuschüsse ist strikt geregelt: Sie werden nur bewilligt, wenn das Manuskript vorliegt und von der Stiftung oder von ihr beauftragten Expert*innen begutachtet und als druckwürdig empfohlen worden ist, um mit einem Druckkostenzuschuss der Stiftung geadelt zu werden. Rainer Eckert, der als stellvertretendes Mitglied des Stiftungsrates seit fast 25 Jahren dieser Institution verbunden ist,
Dem war allerdings nicht so. Denn nun begann ein in der DDR-Aufarbeitungslandschaft einmaliger Fall von „cancel culture“, aus meiner Sicht ein inakzeptables Vorgehen, das Diskussionen auslösen wird.
Wie es üblich ist bei Verlagen, verschickte auch der „mitteldeutsche“ das Druck-PDF an Journalist*innen. Üblicherweise dürfen diese solche Vorab-PDFs nicht weitergeben. Verlage hoffen damit, dass pünktlich zum Erscheinungstermin erste Rezensionen in Massenmedien erscheinen, auch, um kostenlose Werbung zu erhalten. Ob das in diesem Fall realistisch war, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls gab es wohl mindestens einen Journalisten, der das ihm übermittelte PDF an Unbefugte weitergab. Und nun begann ein Trauerspiel.
Das Buch – ein Überblick
Bevor ich auf die Einzelheiten dieses Dramas eingehe, stelle ich kurz das Buch vor. Es umfasst 27 Kapitel. Anfangs verdeutlich Eckert im Prinzip, dass es eine Art Autobiographie dritter Teil sei. So ist das Buch auch größtenteils geschrieben worden, aus der Perspektive des Autors. Den zweiten Teil, die Jahre 1991 bis 2015 umfassend, hat er noch nicht verfasst. Das scheint daran zu liegen, dass er als ehemaliger Direktor einer Bundeseinrichtung nicht das Spannungsverhältnis Meinungsfreiheit und Dienstgeheimnisse zugunsten einer Seite belasten möchte. Das jedenfalls ist mein Eindruck. Stattdessen nimmt er nun im dritten Band eine systematische Begutachtung geschichtspolitischer Debattenfelder vor, die seit 2015 mit Bezug zur DDR existierten und die nicht zufällig alle Themen betrafen, bei denen Eckert selbst eine zentrale Rolle spielte.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Themen, wie die Kapitelüberschriften anzeigen: „Kampffeld Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes“, „Campus der Demokratie“, „Kampf um Hohenschönhausen“, „Leipzig in der deutschen Geschichtspolitik nach 2015“ (Zeitgeschichtliches Forum, Stiftung Friedliche Revolution, Freiheits- und Einheitsdenkmal, Gregor Gysi als Redner am 9. Oktober 2019, Forum für Freiheit und Bürgerrechte, Museum Runde Ecke), „Sächsische Gedenkstätten und Hannah-Arendt Institut“, „Die Landesbeauftragten“, „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, „Kampf um Historische Kommission beim Parteivorstand der SPD“, „WhatsApp-Gruppe und Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten der AfD“, „Neue Besitzer der Berliner Zeitung in der Kritik“, „Ines Geipel und das Doping“, „Denkmal zur Erinnerung und Mahnung an die Opfer der kommunistischen Diktatur“, „Aufbau Garnisonskirche Potsdam“, „Paulskirche und Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“, „Diskussion um Wolframs Revolutionsinterpretation“, „Kowalczuk-Pollack-Kontroverse“, „Neue Generationen – neue Ansätze und Interpretationen?“, „Diskussion um die ostdeutschen Eliten“, „Kommission 30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“.
Das Themenspektrum ist breit und vielfältig. Die Arbeit enthält über 1.600 Fußnoten, die sich bei näherer Betrachtung als eine wohl fast vollständige aktuelle Bibliographie erweisen. Eckert scheint keine noch so abseits gelegene Äußerung entgangen zu sein. Allein diese Zusammenstellung ist bereits von hohem Wert. Wer künftig wissenschaftlich über diese geschichtspolitischen Debatten arbeiten möchte – und das werden so manche junge Wissenschaftler*innen sein –, würde äußerst dankbar auf diese Zusammenstellung zurückgreifen. Das ausführliche Personenregister gestattet zudem ein Blättern in dem Werk nach einzelnen Akteuren. Lediglich Eckert selbst ist nicht aufgeführt, er würde auch die mit Abstand meisten Erwähnungen und Verweise auf sich vereinen. Andere häufig erwähnte Personen sind zum Beispiel Marianne Birthler, Dieter Dombrowski, Monika Grütters, Tobias Hollitzer, Roland Jahn, Burkhard Jung, Hubertus Knabe, Gesine Oltmanns, Detlef Pollack, Lutz Rathenow, Uwe Schwabe oder auch der Rezensent.
Ich kenne Rainer Eckert seit mehr als dreißig Jahren. Wir haben so manches gemeinsam gemacht, wir waren oft nicht einer Meinung. Anders als bei vielen anderen Autoren werden meine Statements von ihm selten kritisch hinterfragt, häufig stimmt Eckert ihnen ausdrücklich zu. Schon so manche zitierte Kapitelüberschrift deutet an, dass diese geschichtspolitischen Auseinandersetzungen für Eckert mehr als nur Meinungsdebatten waren. Nicht zufällig ist immer wieder von „Kampf“ zu lesen. Tatsächlich hält der Autor sich mit Bewertungen nicht zurück.
Liest man das umfangreiche Buch gründlich, so wird deutlich, dass es Rainer Eckert sowohl um eine Darlegung der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen seit 2015 geht, aber ebenso auch um eine Abrechnung mit so manchem Debattenteilnehmer. Dahinter scheinen tiefe persönliche Verletzungen zu stehen, die Eckert aus seiner Sicht zugefügt worden sind. Insbesondere wird das an dem langen Kapitel über die „Kämpfe“ in Leipzig offensichtlich. Hier hat Eckert fast zwanzig Jahre lang Ausstellungs-, Vereins- und Geschichtspolitik betrieben. Nach seinem Ausscheiden aus dem Zeitgeschichtlichen Forum kam er sich wohl wie ein Vertriebener vor, mit dem nun viele nichts mehr zu tun haben wollten. Das kränkte, verletzte ihn offenbar. Unabhängig davon, ob beim Autor, wie so häufig, eine individuelle Verwechslung von Amt und Person vorliegt: Solche Erfahrungen sind schmerzhaft. Sie scheinen durchaus eine Motivation gewesen zu sein, nun Tacheles zu reden.
Das aber ist nicht die einzige. Die wichtigste wird in diesem Buch Kapitel für Kapitel sichtbar: Rainer Eckert hat es sich auf die Fahnen geschrieben, die Erinnerung an Opposition und Widerstand gegen die kommunistische Diktatur, an ihre Opfer und an die Revolution von 1989 vital zu halten. Er leidet förmlich mit, wenn die Ereignisse von 1989 nicht als Revolution firmieren oder die Rolle von Oppositionellen heruntergeschrieben wird. Das macht ihn zum Verbündeten von vielen Vereinen und Einzelpersonen. Dieses Milieu hat allerdings in den vergangenen Jahren erheblich an Einfluss und Relevanz verloren. Längst dominieren andere Narrative über die DDR, die immer häufiger nicht mehr als Diktatur rekonstruiert wird. Seite für Seite wird dieser „Kampf“ Eckerts in diesem Buch auf vielen Feldern offengelegt.
Allerdings wurde das mehr und mehr ein Kampf gegen die berühmten Windmühlen. Denn die kleine Szene der beharrlichen „DDR-Aufarbeiter*innen“ ist in sich zerstritten und verfeindet, wie es auch für Sekten nicht unüblich ist. Die abnehmende gesellschaftspolitische Relevanz wird mittels internen „Kämpfen“ zu kompensieren versucht, bei denen es selten um Inhalte, aber fast immer auch um Einfluss, Geld (Fördermittel) und öffentliche Sichtbarkeit geht. Egal welches Themenfeld, das Eckert bearbeitet, herausgegriffen würde, jedes einzelne ließe sich auch auf diese Faktoren komprimieren, die oft in unversöhnliche persönliche Auseinandersetzungen untereinander mündeten. Das trifft insbesondere dann zu, wenn Institutionen und Vereine an den Debatten, die für sie nicht selten Überlebensfragen betreffen, beteiligt sind.
Rainer Eckert stellt diese Diskussionen nicht nüchtern abwägend vor, sondern scheut sich an keiner Stelle, pointierte Stellungnahmen abzugeben. Die sind fast immer eindeutig, oft aber auch zugespitzt und nicht immer für die Betroffenen schmeichelhaft. So fallen an einigen wenigen Stellen starke Worte, wenn jemand „verlogen“, „heimtückisch“, „hinterlistig“, „verleumderisch“, „fanatisch“ sei, „widerwärtige Angriffe“ betreibe, „bewusste Lügen“ oder Falschbehauptungen verbreite. Allerdings sind solche Abqualifizierungen sehr selten in diesem dickleibigen Buch. Charakteristisch für die Darstellung ist vielmehr, dass Eckert die Debattenverläufe exakt und präzise chronologisch nachzeichnet und so eine Dynamik in den einzelnen Kapiteln aufbaut, die den meisten Debattenteilnehmer*innen wahrscheinlich selbst nicht erinnerlich ist. Das liest sich jedenfalls meist sehr spannend, auch wenn der Stil nüchtern, zuweilen buchhalterisch daherkommt. Viele wird stören, dass Eckert die Motive einzelner Debattenteilnehmer, wie sie sich ihm darstellen, benennt – und die fallen in den Augen Eckerts eben nicht immer günstig aus, sind nicht immer an der Sache orientiert, sondern nicht selten primär der Eitelkeit der handelnden Person geschuldet. Ebenso würde wohl so manche Buchleser*innen stören, dass Eckert doch häufig Noten verteilt, wer etwas „richtig“, wer etwas „falsch“ vertreten habe. Aber das sind Geschmackfragen, an denen kein Buch in einer offenen Gesellschaft scheitern sollte.
Ein Dokument von Zerwürfnissen und Feindschaften
„Eitelkeit“ ist ein erheblich antreibendes Motiv für viele Diskursteilnehmer*innen, nicht nur, wenn es um die DDR und den Kommunismus geht. Eckerts Buch ist dafür ein Beleg. Zum einen arbeitet er akribisch heraus, wie einzelne Personen und Institutionen agieren und es ihnen dabei vorrangig um sich selbst geht. Auch das ist nicht unüblich. In kleinen Sekten aber wie der DDR-Aufarbeitungslandschaft ist das besonders hinderlich, weil jeder jeden kennt und jede Verfehlung, jedes Hinter-dem-Rücken-Reden fast unweigerlich und sofort auch jene Ohren erreicht, für die es nicht bestimmt war. Das führt zu Unmut, Abneigung, Hass. Das Buch selbst ist zum anderen ebenfalls ein Beleg für Eitelkeit, denn der Autor will selbstverständlich auch sich selbst ins rechte Licht rücken. Das ist legitim, macht ihn aber angreifbar. Denn so richtig auch viele Kritikpunkte sind, die er anderen gegenüber anführt, so wenig schmeichelhaft ist es für ihn selbst, dass er offenbar fast nie irrte – auch im Nachhinein nicht. Der Autor verteilt zu häufig Noten, das führt beim Lesen zuweilen zu Irritationen.
Insofern haben wir es hier mit einer Rechtfertigungsschrift zu tun, die im Untertitel doch „Autobiographische Notizen“ heißen sollte. Eine Autobiographie kann sich schon vom Wesen her nicht der Kritik aussetzen, die Eitelkeit des Autors zu spiegeln. Ohne diese käme niemand auf die Idee, eine Autobiographie zu schreiben.
Das Buch ist lesenswert, keine Frage, aber es ist keine literarische Arbeit. Vielmehr arbeitet Rainer Eckert auch hier als Chronist. Ich vermute, das ist für die Beteiligten und Erwähnten an diesen Debatten von hohem Unterhaltungs-, Kenntnis- und auch Erkenntniswert. Eine Wirkung über dieses Milieu hinaus würde ich nicht prognostizieren. Dazu ist es zu detailliert und kleinteilig verfasst, obwohl die erwähnten Themen an sich eine gesellschaftspolitische Relevanz hatten. Gleichwohl, auch das macht Eckert deutlich, fast alle Diskussionsfelder blieben regional verankert. Nicht einmal die Leipziger Debatten kamen groß aus Sachsen heraus. Es gab nur ganz wenige Diskussionen, die überregionale Bedeutung erlangten – und das auch meist nur kurz.
Überregionale Medien, die ohnehin kaum Interesse für ostdeutsche Themen zeigen, interessierten sich nur ausnahmsweise und immer nur sehr kurz dafür. So ist das Buch von Rainer Eckert zu einer Chronik der Aufarbeitung geworden, zu einem Dokument von Zerwürfnissen und Feindschaften, zu einer in Deutschland marginalisierten Erscheinung, die es der Gesellschaft leicht machte, sie zu marginalisieren. Uns Beteiligten erscheinen die Themen zentral und gesellschaftsrelevant – der Rest der Gesellschaft reagierte eher mit Desinteresse, Ablehnung und Hohn.