Zwölf Thesen zu Wirtschaftsumbau und Treuhandanstalt
Die Rolle(n) und Folgen des Wirkens der Treuhand nach dem Ende der DDR
Marcus Böick
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Vorab eine Kurzfassung meiner Thesen für schnelle Leser*innen:
1. Der Wirtschaftsumbau in Osten Deutschlands und die Treuhandanstalt erweisen sich seit Mitte der 2010er Jahre und insbesondere wieder seit 2019 als intensiv umstrittene erinnerungskulturelle Gegenstände.
2. Deren Bewertungen als alternativloses „Erfolgsmodell“ oder neoliberale „Abwicklung“ changieren zwischen Ost und West sowie zwischen liberalkonservativen und linken Zugriffsweisen.
3. Der anhaltende Streit um den „tatsächlichen“ Zustand beziehungsweise objektiven „Wert“ der DDR-Planwirtschaft vor und nach 1990 erscheint als letztlich unauflösbarer Deutungskonflikt.
4. Die seit dem Herbst 1989 in der DDR geführten Diskussionen um eine „Wirtschaftsreform“ innerhalb der DDR verdichteten sich im Februar 1990 auf die Treuhand als „Minimalkompromiss“.
5. Die in Westdeutschland gemachten ökonomischen Vorschläge eines graduellen Übergangs wurden durch kurzfristige bundespolitische Überlegungen einer sofortigen Umstellung abgelöst.
6. Mauerfall und Volkskammerwahl entfalteten als politische Zäsuren auch massive Rückwirkungen auf die ohnehin in einer strukturellen Krise befindliche Planwirtschaft und ihre Betriebe.
7. Als dritte und wirtschaftshistorisch entscheidende Zäsur wirkte die schockartige Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die eine massive Umstellungskrise in den Betrieben auslöste.
8. Im Sommer 1990 wurde im Kontext der deutsch-deutschen Verhandlungen die noch randständige Treuhandanstalt als neuartiger Grundpfeiler eines improvisierten Sondermodells etabliert.
9. Die Treuhand und ihr rasch rekrutiertes Führungspersonal erfuhren gerade 1990/91 einen regelrechten Praxisschock, als ihr neuer Präsident Rohwedder auf deren massive Expansion setzte.
10. Die Praxis nach 1991 erwies sich als ein auf Beschleunigung gerichteter, unternehmerischer Ausnahmezustand, der als Privatisierungswettstreit die Organisation und ihr Personal erfasste.
11. Mittelfristige Bilanzierungen sowie langfristige Bewertungen prägen die Diskussionen um die Nachwirkungen von Wirtschaftsumbau und Treuhand bis heute, diese fallen sehr gegensätzlich aus.
12. Jenseits gegenwärtiger Re-Politisierungen und Re-Polarisierungen dürfte langfristig eine differenzierte Historisierung des Feldes bevorstehen, die jedoch neue Engführungen vermeiden sollte.
Der erbitterte Deutungsstreit um den dramatischen Umbau von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland nach 1990 hat in den letzten Jahren wieder an neuerlicher Aktualität und bemerkenswerter Schärfe gewonnen. Vor allem die Erfolge rechtspopulistischer Kräfte, die runden Jubiläen und Jahrestage sowie veränderte generationelle Perspektiven haben jüngst zu einer intensiven Diskussion über eine erinnerungskulturelle Neubilanzierung des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses geführt. Das lange Zeit gedenkoffiziell dominante (Erfolgs-)Narrativ vom endgültigen „Ende der Geschichte“ beziehungsweise eines deutschen „Sonderweges“ nach 1990 wird dabei zunehmend brüchiger; auch von politischen Zeitzeugen reklamierte Meistererzählungen über vermeintliche Alternativlosigkeiten im Prozess stehen vermehrt zur Disposition.
Die weitgehend asymmetrischen Normalisierungs-, Anpassungs- und Transferprozesse werden stärker kritisch hinterfragt; andererseits scheint eine Historisierung dieser Zeitphase sukzessive auf die wissenschaftliche Agenda zu rücken. Die komplexe Gemengelage aus individueller Zeitzeugenschaft, öffentlicher Erinnerungskultur sowie wissenschaftlichen Aneigungsversuchen prägt dieses Feld in besonderer Weise. Generell scheint dabei das mediale Aufmerksamkeitspendel von einer eher westdeutsch orientierten „Makro-Perspektive“ (einer „nachholenden Modernisierung“ vor allem durch Transfers von West nach Ost sowie Anpassungen von Ost an West) wieder vermehrt auf eine ostdeutsch ausgerichtete „Mikro-Perspektive“ umzuschwenken, die wiederum insbesondere individuelle wie kulturelle Umbruchs- und Verlusterfahrungen thematisiert, die oftmals auch als Opfererfahrungen beschrieben werden. Gerade die letzte Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007/08 hat auch auf diesem Feld kapitalismusskeptische Diskussionen angeheizt, inwiefern ein „neoliberales Zeitalter“ (Philipp Ther) in den postsozialistischen Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas zu entsprechend disruptiven Dynamiken geführt habe, die letztlich langfristig als „Ko-Transformationen“ auch auf Westeuropa zurückwirkten.
Dieser kapitalismuskritische Diskurs hat sich jüngst – insbesondere in emotional geführten wie digital-medial verstärkten Debatten über die globalen Folgen eines wachstumsökonomiebasierten Klimawandels seit 2018 – abermals erheblich verschärft. Dieses vielschichtige erinnerungskulturelle Konfliktszenario vollzieht sich nicht zuletzt auch vor einem sprunghaft ansteigenden zeithistorischen Interesse an diesem Themenkreis, der schließlich durch die Freigabe von weitreichenden Aktenbeständen sowie die Bereitstellung von staatlichen Fördermitteln zusätzlich befeuert wird.
Die besondere Herausforderung für die hiesige Zeitgeschichtsforschung besteht dabei darin, einer klassischen Trias von Hans-Günter Hockerts folgend, sich sowohl von zeitgenössischen Primärerfahrungen (vor allem der Zeitzeugen, Betroffenen und Akteure) sowie von erinnerungskulturellen beziehungsweise geschichtspolitischen Interventionen aus Politik und Öffentlichkeit zu emanzipieren und auf der fachlichen Eigenständigkeit als empirischer, differenzierter Wissenschaftsdisziplin mit eigenen methodischen und theoretischen Standards zu beharren – die etwa mit kritischer Selbstreflexion, umfassender Quellenkritik sowie diskursiver Multiperspektivität und Pluralität zu umschreiben sind. Knapp formuliert gilt es, differenziert-distanzierte zeithistorische Zugänge zu einem stark umkämpften Themenfeld zu entwickeln; die empirischen Hinterlassenschaften, die individuellen Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie die umfassenden Deutungskonfigurationen dieser bewegten wie hochemotionalen Revolutions- und Umbruchszeiten müssen – gerade auch aus kulturhistorischen sowie transnationalen Leitperspektiven heraus – distanzschaffend „verrätselt“ und perspektivisch exotisiert und verfremdet werden. Ein solcher Zugang kann dabei freilich auch mit zeitzeugenschaftlichen Wahrnehmungs- und kollektiven Erinnerungsmustern sowie geschichtspolitischen Erwartungshaltungen in eine gewisse Grundspannung geraten. Ferner gilt es nicht zuletzt, sich methodisch wie theoretisch reflektiert zu den sehr weitreichenden empirischen Ergebnissen einer ausgebauten sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung zu verhalten.
2. Historische Retrospektiven: Der Wirtschaftsumbau – die „Achillesferse“ der Einheit?
Der in diesem Beitrag thematisierte, beschleunigte Wirtschaftsumbau beziehungsweise konkreter: Der durch die Treuhandanstalt auf Unternehmensebene organisierte Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in den frühen 1990er Jahren galt und gilt jedoch selbst eher konservativen Historikern schon länger als „dunkles Kapitel“ (Manfred Görtemaker) beziehungsweise „Achillesferse“ (Andreas Rödder) eines an sich (außen-)politisch sehr erfolgreichen Vereinigungsprozesses – vor allem mit Blick auf umfassende gesellschaftliche Krisen- und meist ost-westlich-konfigurierte Konfliktphänomene wie „De-Industrialisierung“, Massenarbeitslosigkeit, Wohlstandsgefälle, Eigentumsumverteilung, Elitenbildung, Abwanderung, Stadt-Land-Gegensätze sowie kulturell verfestigte Konfliktlagen. Während das Thema wissenschaftlich, vor allem in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, seit der Jahrtausendwende weitgehend in den Hintergrund gerückt war, als sich nur noch einzelne Forscher wie Wolfgang Seibel für die Treuhand und ihre Arbeit interessierten, ist insbesoondere seit 2015 eine merkliche Re-Polarisierung und auch Re-Politisierung dieses Themenfeldes zu beobachten, die vor allem entlang politischer Rechts-Links-Lager, aber auch überkommener Ost-West-Gegensätze organisiert ist; auch deutet sich eine neuartige generationelle Spannungslage an.
Als exemplarisch kann dabei das von der SPD-Ministerin Petra Köpping vorgelegte Buch „Integriert doch erst mal uns!“ gelten, welches im Jahr 2018 erhebliche Wellen schlug. Der ehemalige Spiegel-Journalist Norbert F. Pötzl hat mit seinem „Treuhand-Komplex“ im vergangenen Jahr dann eine Art „Anti-Köpping“-Sachbuch vorgelegt, welches wiederum den von Köpping reklamierten ostdeutschen „Befindlichkeiten“ und Emotionen aus einer eher auktorialen Makro-Perspektive die „Fakten aus den Akten“ entgegenhalten möchte.
Beide Autoren markieren damit geradezu paradigmatisch die Pole des hier behandelten Diskursfeldes (ostdeutsche Verlust- und Opfersemantiken „von unten“ versus westdeutsche Alternativlosigkeits- und Heldenerzählungen „von oben“), in dem die Treuhand zum hochgradig aufgeladenen, negativen Symbol – ja zu einer regelrechten erinnerungskulturellen „Bad Bank“ avanciert ist, mit der vor allem viele ältere Ostdeutsche ihre individuellen Verlust- und Umbruchserfahrungen nach 1990 emotional verknüpfen. Auch in den Wahlkämpfen des Jahres 2019 suchten politische Parteien aus diesem negativen „Treuhand-Mythos“ entsprechend elektorales Kapital zu schlagen: So beantragte etwa Die Linke im Bundestag die Einrichtung eines neuerlichen Untersuchungsausschusses – eine Initiative, der sich auch die Fraktion der AfD anschloss, die dieses Thema intensiv in den regionalen Wahlkämpfen einsetzte. Man könnte also zuspitzen: Über 25 Jahre nach ihrer wohlinszenierten Selbstauflösung sind die für lange Zeit von der (nationalen) Bildfläche verschwundene Treuhand und der von ihr betriebene Wirtschaftsumbau wieder präsent wie nie. Auch die zeithistorische Forschung muss sich dabei mit diesen wirkmächtigen, geradezu dialektisch aufeinander bezogenen Opfer- und Heldenerzählungen auseinandersetzen. Zentral ist hierfür ein umfassendes, 2016/17 begonnenes Treuhand-Aktenerschließungsprojekt beim Bundesarchiv, das von einem großen Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte München/Berlin empirisch begleitet wird. Gerade hier dürften in den kommenden Jahren differenzierte Befunde und Analysen die Diskussionen weiter versachlichen, auch wenn die mancherorts gehegten Hoffnungen auf spektakuläre „Enthüllungen“ oder endgültige „Wahrheiten“ aus den Akten wohl überzogen sein dürften. Es gilt weiterhin die Binsenweisheit: Der Rückblick auf die Treuhand hängt stark von eigenen Perspektiven und den jeweils gewählten Fragestellungen ab, mit denen die Quellen bearbeitet werden.
Hier nun sollen stichwort- beziehungsweise thesenartig einige zentrale Felder und Aspekte der gegenwärtigen Debatten um die Vor-, Praxis- und Nachgeschichte von Wirtschaftsumbau und Treuhandanstalt exemplarisch thematisiert werden. Freilich kann ein solcher thesenartiger Zugriff in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit erheben, sondern will vielmehr zu weiterführenden Diskussionen einladen. Im Zentrum steht dabei ein grundsätzlich zeithistorisches Anliegen, nämlich die Diskussionen, ihre Akteure und jeweiligen Perspektiven und Narrative aus einer distanzierend-differenzierenden Meta-Perspektive heraus in den Blick zu nehmen. Es kann und soll daher gerade nicht um die immer wieder intensiv verhandelte Frage gehen, ob der Wirtschaftsumbau im Allgemeinen oder die Treuhand im Besonderen als alternativloser Erfolg oder neoliberal ideologisiertes Scheitern zu betrachten sind. Das gesamte Feld wird vielmehr als umfassender Kommunikationszusammenhang betrachtet, in dessen Kontext sehr verschiedene Akteursgruppen mit ihren jeweiligen und oft gegensätzlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern einschlägige Vergangenheitsdeutungen, Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen in oft großer Intensität und Emotionalität aushandeln.
3. Be-Wertungsfragen zur Planwirtschaft: „Schrott“ oder „Milliarden-Vermögen“?
In diesem Konfliktfeld verbinden sich materielle wie symbolische Wertzuschreibungen auf geradezu exemplarische Art und Weise. Während einerseits aus einer übergreifenden, zumeist makro-ökonomischen Perspektive der mangelhafte Zustand einer desaströsen DDR-Planwirtschaft betont wird, werden dem meist anekdotische Einzelbeispiele von auch im „West-Export“ erfolgreichen Produkten und ihren jeweiligen Branchen beziehungsweise Betrieben entgegengehalten. Entsprechende General-Diagnosen von „Sozialismus-Schrott“ und „Volks-Vermögen“ sind damit gleichermaßen auch symbolisch hochaufgeladen, geht es in dieser Diskussion nicht zuletzt darum, wie viel die DDR (und mithin auch die in der DDR individuell geleistete Arbeit) letztlich „wert“ gewesen sei. Ein geradezu exemplarischer Deutungswettstreit wird dabei etwa zum sogenannten „Schürer-Papier“ vom Oktober 1989 ausgetragen, das wiederum je nach Perspektive sehr gegensätzliche Bewertungen und kontrastive Lesarten erfährt: als parteioffizielle Bankrotterklärung oder aber als reformkommunistisches Aufbruchssignal.
Differenzierte wirtschaftshistorische Analysen, wie sie vor allem André Steiner schon vor langer Zeit vorgelegt hat, gelangen demgegenüber zu dem komplexen Befund einer an massiven Strukturdefiziten und politischen Hemmnissen laborierenden Zentralplanwirtschaft, deren überdehnte Großbetriebe mit massiven Innovations-, Koordinations- und Kommunikationsproblemen zu kämpfen hatten (etwa „weichen Plänen“ oder „grauen Märkten“). Insbesondere unter dem sprunghaft wachsenden Einfluss weltwirtschaftlicher Umbrüche (Globalisierung/Ölpreiskrise) sowie technologischer Innovationen (Digitalisierung/Mikroelektronik) geriet diese ohnehin übersteuerte Planwirtschaft im Laufe der 1980er Jahre zunehmend in eine veritable, nur durch westliche Bankkredite abgepufferte Krise, sodass auch die umfassenden, seit den 1970er Jahren aufgelegten sozialpolitischen Programme der Honecker-Regierung in eine dramatische Schieflage gerieten.
Die Ausreisebewegungen und oppositionellen Protestaktionen ab Mitte der 1980er Jahre sind daher auch mit dem sicht- und erfahrbaren wirtschaftlichen Niedergang der Planwirtschaft und ihrem zunehmend prekären Versorgungs- und Konsumniveau – vor allem im deutlichen Kontrast zur medial omnipräsenten westlichen Warenwelt der Bundesrepublik – verknüpft. Die erodierende Output-Legitimität des SED-Regimes besaß damit eine markante wirtschafts- und konsumpolitische Komponente. Auch in den Betrieben der zentral gelenkten Planwirtschaft wuchs die allgemeine Unzufriedenheit über ökologische Umweltbelastungen, andauernde Produktionsausfälle, demotivierende Unterbeschäftigung, wachsende Unfallzahlen und maschinellen Verschleiß, fehlende Leistungsanreize, zurückfallende technologische Standards sowie politische Einflussnahmen sprunghaft an. Nahezu allen involvierten Wirtschaftsakteuren schien am Vorabend der eigentlichen Revolution durchaus bewusst, dass einschneidende Reform- und Umbaumaßnahmen nötig seien, um den „Anschluss“ an globale Entwicklungen wiederzugewinnen.
Insgesamt wird man letztlich von dem differenzierten Befund einer mit massiven strukturellen Defiziten wie erheblichen situativen Belastungen kämpfenden Zentralplanwirtschaft ausgehen müssen. Es ist aber sicher zugleich auch notwendig, dieses defizitäre Gesamtbild noch feiner nach einzelnen Betrieben und Branchen zu differenzieren. Wie sich nach 1990 im intensiven „Säurebad“ des Wirtschaftsumbaus (so die Treuhand-Chefin Birgit Breuel) zeigen würde, standen gerade klassische Branchen der sozialistischen Hochindustrialisierung (Bergbau, Chemie, Metallurgie, Maschinen-, Fahrzeug- und Schiffsbau) vor ganz anderen Herausforderungen als in der DDR noch erheblich unterentwickelte Dienstleistungssektoren oder besonders geförderte Unternehmen im Bereich westlicher Gestattungsproduktion. Pauschale wie endgültige Urteile über den Zustand der DDR-Wirtschaft wären hier also stärker als geschichtspolitische Setzungen („sozialistischer Schrott“ versus „führende Industrienation“) zu markieren und zu problematisieren.
Kurzum: An der nach 1990 unablässig geführten Debatte um den „Wert“ des „Volksvermögens“ interessiert weniger ihr (vermutlich nie zu erreichender) Ausgang, als die Tatsache, dass diese in einer Weise geführt wurde und wird, die materielle Bewertungs- mit ideellen Wertfragen untrennbar miteinander verknüpft. Derartige Wertzuschreibungen erweisen sich damit nicht zuletzt als hochgradig deutungs- und kontextabhängig.
4. Reformdebatten Ost: SED-Reformkommunisten versus oppositionelle „Demokratisierer“
Ein ebenso hitziger Grundsatzkonflikt, der mit der Frage nach dem (Un-)Wert des „Volksvermögens“ einhergeht, wird in der Kardinalfrage der „Alternativlosigkeit“ der nach 1989/90 im Bereich der ostdeutschen Wirtschaft letztlich praktisch realisierten Szenarien ausgetragen: Waren die eingeschlagenen Pfade in ihrer Art und Weise wirklich ohne jegliche Alternativen? Oder gab es möglicherweise ganz andere Wege vom Plan zum Markt als diejenigen, die sich letztlich aus den einigungspolitischen Prozessen und Dynamiken des Jahres 1990 ergaben?
Hier wird man aus zeithistorischer Perspektive freilich mit erheblichem Nachdruck auf der prinzipiellen Offenheit von Geschichte beharren müssen: Historische Akteure agieren stets vor grundsätzlich offenen Zukunftshorizonten; eine irgendwie geartete Gerichtetheit oder Teleologie ergibt sich (jenseits von historischen Materialismen oder ökonomistischen Marktuniversalismen) eben gerade nicht. Vielmehr lässt sich vor allem ab dem Herbst 1989 eine dynamische Öffnung, um den Jahreswechsel 1990 eine erhebliche Pluralisierung sowie im Frühjahr dann eine erstaunlich rasche und umfassende Zuspitzung und Verengung der entsprechenden ökonomischen Debatten herausarbeiten.
Im vorliegenden Falle lassen sich intensive Reformdiskussionen auf allen Ebenen der Planwirtschaft und ihrer Betriebe, Verwaltungseinheiten sowie auch der ökonomischen Forschungseinrichtungen konstatieren, die ab dem Spätherbst 1989 zunehmend an Fahrt gewannen. Exemplarisch seien hier nur zwei Akteursgruppen und ihre Reformideen knapp vorgestellt: Einerseits ließ die neue SED/PDS-Regierung unter Hans Modrow ab November unter Federführung der Ökonomin und Wirtschaftsministerin Christa Luft das Konzept einer „Wirtschaftsreform“ ausarbeiten, das einen graduellen, langfristigen Übergang zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ vorsah.
Dieser „reformsozialistische“ Ansatz griff dabei auf in den 1960er Jahren erprobte und rasch wieder abgebrochene Reforminstrumente zurück und sollte etwa größere Handlungs- und Entscheidungsspielräume für die Betriebsleitungen, ausgedehnte Leistungs- und Innovationsanreize im Betriebsalltag sowie eine verstärkte Öffnung hin zur Kooperation mit westlichen Wirtschaftsakteuren („Joint Ventures“) beinhalten. Andererseits sollten jedoch zentrale Grundpfeiler der Planwirtschaft wie das Staatseigentum oder der prinzipielle Primat der Politik gegenüber der Ökonomie nicht angetastet werden.
Von diesen ersten Planungen, die Anfang Februar 1990 abgeschlossen waren, unterschieden sich die sehr verstreuten, vereinzelten und improvisierten Entwürfe für eine künftige Wirtschaftsreform, die in oppositionellen Gruppen diskutiert wurden. Gerade hier schien allerdings das Thema Wirtschaft kein zentrales zu sein – wie sich auch in den Diskussionen am Zentralen Runden Tisch zeigte. Ein folgenreicher Entwurf wurde dort erst Mitte Februar von Wolfgang Ullmann vorgelegt, der jedoch bereits grundlegend defensiv gedacht war: Ullmann, der sich auf das Papier einer Arbeitsgruppe um Gerd Gebhardt und Matthias Artzt bezog, schlug die Gründung einer neuartigen Treuhand-Stelle vor, die das möglicherweise bald „herrenlose Volksvermögen“ einerseits vor fremden Zugriffen (östlicher „Seilschaften“ beziehungsweise westlicher „Kapitalisten“) „bewahren“ sollte.
Andererseits sollte – und hier lag die Pointe des Vorschlages – dieses Vermögen umfassend in Form von an die ostdeutsche Bevölkerung kurzfristig ausgegebenen Anteilsscheinen „demokratisiert“ und zugleich auch dezentralisiert werden. „Bewahrung“ und „Demokratisierung“ bildeten damit die beiden Seiten einer Medaille einer anders gedachten Marktwirtschaft, die geradezu volkskapitalistischen oder gar liberalen Vorstellungen entsprach. Über beide Entwürfe – sowohl den reformsozialistischen Plan eines mehrjährigen Übergangs zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ als auch das kurzfristig vorgetragene Vorhaben einer gesellschaftlichen „Demokratisierung“ durch ausgegebene Anteilsscheine – sollten die weiteren politischen Entwicklungen sehr rasch hinwegfegen.
Dennoch verständigten sich die scheidende PDS-Regierung sowie Oppositionskräfte um Ullmann noch Ende Februar beziehungsweise Anfang März auf eine Art wirtschaftspolitische Minimallösung – der kurzfristigen Gründung einer neuartigen Treuhand-Einrichtung auf dem Verordnungsweg, an die das „Volksvermögen“ mit sofortiger Wirkung übertragen wurde. Als eine Art neuartiges „Staatsnotariat“ explizit ohne „wirtschaftsleitende Funktionen“ sollte diese neue Organisation dann die knapp 8500 Betriebseinheiten zügig in westliche Eigentumsrechtsformen (AGs, GmbHs) umwandeln, um ihnen damit den Eintritt in die Zukunft zu ermöglichen.
5. Reformvorschläge West: ökonomischer Gradualismus versus politischer Marktoptimismus
Die beschriebenen Diskussionen um ökonomische Reformen gingen noch fest von einer mittel- beziehungsweise langfristigen staatlichen Eigenständigkeit der DDR aus, ja sollten deren Erhaltung im Grunde überhaupt erst ermöglichen. Zur gleichen Zeit setzten aber auch in Westdeutschland umfassende Diskussionen über die Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft ein. Einen ersten Höhepunkt bildete dabei ein im Januar 1990 der breiten Öffentlichkeit vorgestelltes, im Umfang bereits relativ umfangreiches Sondergutachten der „Wirtschaftsweisen“, also des bei der Bundesregierung angesiedelten Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Dieses Konzept sprach sich deutlich gegen die zu dieser Zeit im Osten auf allen Ebenen betriebenen Suche nach möglichen „Dritten Wegen“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus aus. Vielmehr empfahlen die westdeutschen Spitzen-Ökonomen einen mittel- bis langfristigen Übergang der ostdeutschen Wirtschaft hin zum in der Bundesrepublik bewährten Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ – und insbesondere der ihr zugrunde liegenden freien Wettbewerbs- und privaten Eigentumsordnung. Am Ende des anbrechenden Jahrzehnts könnte dann möglicherweise, hier blieben die Experten freilich noch sehr vage, ein Zusammenschluss der beiden Volkswirtschaften stehen.
Zur gleichen Zeit waren auch die Beamten der Bonner Bundesregierung in einen intensiven Strategiefindungsprozess eingestiegen. Insbesondere die bundesdeutsche Exekutive war von den Umbrüchen des Herbstes 1989 weitgehend überrascht worden; noch in den 1950er- und 1960er Jahren mit großem Aufwand entwickelte Konzepte zu einer wirtschaftlichen „Rückführung“ der „Zone“ schienen lange nicht mehr aktuell und waren weitgehend in Vergessenheit geraten. Entsprechend vage blieben die Vorschläge der Bundesregierung auf wirtschaftlichem Gebiet in den ersten Wochen nach dem Mauerfall. Eine dramatische Wende wurde schließlich ab Ende Januar eingeleitet.
Auf einer Konferenz des Bundesfinanzministeriums wurde – unter maßgeblicher Beteiligung von führenden Beamten wie Horst Köhler und Thilo Sarrazin – ein vergleichsweise spektakulärer Vorschlag ausgearbeitet: Man wollte der DDR und insbesondere der ostdeutschen Bevölkerung eine sofortige Währungsunion anbieten, die allerdings mit einer vollständigen Übernahme der westdeutschen Wirtschaftsordnung verbunden sein sollte. Dieses „Junktim“ sollte den Ostdeutschen mit der zügigen Einführung der D-Mark vor allem ein starkes „Signal zum Bleiben“ – verbunden mit der Hoffnung auf das schnelle Erreichen westdeutschen Wohlstands – aussenden und damit den als zunehmend drängendes Problem empfundenen Abwanderungsstrom bei geöffneten Grenzen eindämmen.
Im Hintergrund zirkulierten zu diesem Zeitpunkt knappe Strategiepapiere von Ludwig Erhard aus den 1950er Jahren, in denen er für den „Fall X“ einen sofortigen Währungszusammenschluss bei gleichzeitiger Zurückhaltung staatlicher Planung empfahl; freie Unternehmer und neue Marktdynamiken sollten stattdessen den erfolgreichen Übergang vom Plan zum Markt organisieren. In dieser Lesart schien ein zweites deutsches „Wirtschaftswunder“ durchaus im Bereich des Möglichen.
Wenige Tage später, Anfang Februar, unterbreitete die Bundesregierung dann einer verblüfften Öffentlichkeit in Ost und West das spektakuläre „Angebot“, die D-Mark schnellstmöglich in der DDR einzuführen und damit die beiden Volkswirtschaften miteinander zu verschmelzen. Diese politische Offerte stellte einen eklatanten Bruch mit der ökonomischen Lehrmeinung dar, die auch die westdeutschen Wirtschaftsweisen vertreten hatten: Statt eines langfristigen, graduellen Übergangs als gesteuerte Abfolge von sukzessiven Reform-, Anpassungs- und Kontrollmaßnahmen, an dessen Ende erst – als „Krönung“ – ein monetärer Zusammenschluss von Ost und West stehen sollte, brachte die Bundesregierung damit eine sofortige „Schocktherapie“ in die Diskussion und natürlich zugleich auch in den gerade beginnenden Volkskammerwahlkampf ein.
Ökonomen wie Bundesbankvize Karl Otto Pöhl sowie linke Oppositionspolitiker wie SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine kritisierten dieses Angebot scharf und warnten vor den dramatischen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Folgen; dennoch sollten sich gerade diese politischen Dynamiken am Ende gegen jegliche ökonomische Argumentationen durchsetzen.
6. Politische Zäsuren als ökonomische Impulse: Maueröffnung und Volkskammerwahl
Damit ist das zentrale Spannungsfeld zwischen ökonomischen Konzeptionen und politischen Dynamiken angesprochen, welches gerade diesen Bereich grundsätzlich prägen sollte. An dieser Stelle sollte nochmals herausgestrichen werden, dass die revolutionären Entwicklungen in der Tendenz zu einer radikalen Verknappung von Zeit-, Erwartungs- und Möglichkeitshorizonten führten. Zunächst noch auf Jahre angelegte Übergangsplanungen (Wirtschaftsreformer Ost, Wirtschaftsweise West) verkürzten sich dann binnen weniger Wochen zu situativ-disruptiven Angeboten in Form von weitgehend ungeplanten wie ungesteuerten Sofort- und Gegenmaßnahmen (Gründung der „Ur-Treuhand“, „Schocktherapie“).
Damit ergab sich das Szenario, dass die ohnehin an vielen strukturellen Defiziten leidende zentral gelenkte Planwirtschaft und ihre Betriebe in einem dramatisch gewandelten wie verunsicherten Umfeld agieren mussten. Der Verfall staatlicher Autorität insbesondere auch bei der sich auflösenden Planwirtschaftsbürokratie eröffnete zwar auf der einen Seite neue betriebliche Handlungs- und Gestaltungsspielräume; andererseits zeigte sich schon im Frühjahr 1990 eine zunehmende, bald geradezu paralysierend wirkende Verunsicherung von Betriebsleitungen und Belegschaften. Die betriebliche Zukunft schien vielfach ungewisser denn je.
Dieses Grundspannungsfeld zwischen Politik und Ökonomie lässt sich vor allem an den zentralen politischen Zäsuren der Umbrüche nach 1989/90 festmachen, die ihrerseits jeweils massive Konsequenzen für die wirtschaftliche Sphäre mit sich brachten: Es war insbesondere die Maueröffnung im November, die die ohnehin prekären, aber bis dahin weitgehend abgeschlossenen Wirtschafts- und Warenkreisläufe der DDR-Wirtschaft in erhebliche Unordnung brachten. Während immer mehr junge Fach- und Arbeitskräfte die DDR nun über Nacht problemlos verlassen konnten, strömten umgekehrt unkontrolliert große Warenmengen aus der Bundesrepublik in die DDR; auch westdeutsche Wirtschaftsberater und Investoren wurden bereits nach dem Jahreswechsel zu zunehmend einflussreichen Akteuren.
Als zweite zentrale Zäsur erscheint dann das spektakulär deutliche Resultat der Volkskammerwahl im März 1990: Die konservativ-liberalen Befürworter einer schnellen Einigung in der CDU-geführten „Allianz für Deutschland“ fühlten sich nicht zuletzt auch durch das umfassende Angebot der Bundesregierung zu einer schnellen Währungs- und Wirtschaftsunion im Wahlkampf erheblich beflügelt. Der in dieser Eindeutigkeit nicht erwartete Triumph der „Allianz“ bei höchster Wahlbeteiligung erwies sich nicht nur als (einigungs-)politisches, sondern gerade auch als ökonomisches Plebiszit: Eine langfristig eigenständige DDR schien der absoluten Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung ebenso wenig erhaltenswert wie jede weitere Suche nach möglichen „Dritten Wegen“ zwischen Plan und Markt, die bei SPD, Oppositionsvertretern sowie natürlich der PDS hoch im Kurs gestanden hatte. Die ostdeutschen Wähler schienen sich im Frühjahr 1990 eindeutig für die D-Mark und das hiermit verknüpfte westdeutsche Wachstums- und Wohlstandsversprechen entschieden zu haben.
7. „Schocktherapie“: Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWSU) vom 1. Juli 990 als fundamentale ökonomische Schwelle
Nach der Maueröffnung war es also die Volkskammerwahl, die nun im Feld der Wirtschaft eine neue, radikale Perspektive eröffnete und damit andere diskutierte Alternativvarianten praktisch wie endgültig ausschloss. Dementsprechend zügig wurden im April 1990 zwischen Bonn und Ost-Berlin forcierte Verhandlungen aufgenommen, die schließlich die dritte zentrale (wirtschafts-)politische Zäsur vorbereiten sollten: den wirtschaftlichen Zusammenschluss von DDR und Bundesrepublik.
Mit der bis Mai 1990 ausgehandelten Wirtschafts- und Währungsunion, die auf Drängen der ostdeutschen Regierungsdelegation noch um eine die antizipierten gesellschaftlichen Spannungen abfedernde Sozialunion ergänzt wurde (daher die Abkürzung WWSU), schien binnen kürzester Zeit der Weg frei für eine rasche wie vollständige Übernahme der bundesdeutschen Wirtschafts- und Rechtsordnung, insbesondere auch eines exklusiven Primats des Privateigentums gegenüber anderen Eigentumsformen.
Diese Richtungsentscheidung würde sich, dies schien auch den in Ost und West aktiv beteiligten Politikern und Beamten durchaus bewusst, als innenpolitisch irreversibler Schritt erweisen, der eine deutsche Einigung gerade auch mit Blick auf eine als labil beziehungsweise volatil wahrgenommene außenpolitische Situation (insbesondere was die UdSSR betraf) innenpolitisch weiter absichern würde.
Aus diesem Blickwinkel erschien die Wirtschafts- und Währungsunion im Grunde als eigentliches Einigungsdatum. Sie würde sich als fundamentale Schwelle erweisen, bei der innen- und außen- sowie wirtschafts- und gesellschaftspolitische Motive miteinander aufs Engste verknüpft und aufeinander bezogen waren; demgegenüber erschienen der spätere Einigungsvertrag im August beziehungsweise die rechtlich vollzogene Auflösung der DDR sowie der Beitritt der gerade neugegründeten fünf neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 im Oktober als eher bürokratische Verwaltungs- beziehungsweise Vollzugsschritte.
Mit der WWSU war der politökonomische Rahmen zwar einerseits abschließend vorgezeichnet; andererseits stellte sich im Verlauf des Frühjahrs mehr und mehr auch bei den deutsch-deutschen Verhandlungspartnern die Frage, wie denn der konkrete Übergang beziehungsweise die eigentumsrechtliche Umgestaltung der über 8000 noch von der Treuhand-Stelle verwalteten Staatsbetriebe konkret zu organisieren sei. Diese Problematik wurde zwar bereits im Kontext der Verhandlungen zum ersten Staatsvertrag erörtert, aber dort noch nicht explizit aufgegriffen.
Erst nach dessen Unterzeichnung suchte man nun kurzfristig eine pragmatische Lösung. Im Dreieck Bonn, Ost-Berlin und Frankfurt a. M. kristallisierte sich ein neuartiges Modell heraus: Es sollte eben kein eigenes Bundesministerium, eine mögliche Föderalisierung des Wirtschaftsumbaus in Landeskompetenz oder aber eine kollektive Vermögensverteilung an die Bevölkerung oder die Belegschaften über Holding-Gesellschaften geben. Im Kern verlegte man sich in den beiden deutschen Hauptstädten auf die kurzfristig realisierbare Variante, die bereits seit März bestehende und mit knapp 100 einstigen Planwirtschaftskadern besetzte „Treuhand-Stelle“ fortzuführen, diese aber in Aufgabe, Struktur und Personal gravierend zu verändern.
8. Treuhand als Idee: ein improvisiert-staatsfernes Sondermodell
Vor allem das neue Aufgabenspektrum der Treuhandanstalt stand im Mai und Juni im Mittelpunkt der politisch-parlamentarischen Auseinandersetzungen, die durch ihre Kurzfristigkeit, Intensität und Emotionalität bestimmt waren. Festzuhalten bleibt jedoch, dass das politische Themenfeld Wirtschaftsumbau/Treuhand nur eines von zahlreichen und sehr vielfältigen Politikfeldern darstellte, die die postrevolutionäre Polit-Landschaft und die verschiedenen Öffentlichkeiten im Sommer 1990 in Beschlag nahmen.
Die beabsichtigte Neuorientierung wurde durch ein von einer (unter anderem mit westdeutschen Beratern besetzten) Arbeitsgruppe entworfenes Treuhand-Gesetz vollzogen, das zunächst sehr kritisch in der Volkskammer aufgenommen und diskutiert wurde. Nach einigen Anpassungen passierte dieses „Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des Volkseigenen Vermögens“ am symbolpolitisch hochaufgeladenen 17. Juni 1990 schließlich das ostdeutsche Parlament.
Grundsätzlich schrieb dieses neue Treuhand-Gesetz nun nicht mehr – wie noch die ursprüngliche Verordnung im März – die Bewahrung, sondern eine möglichst rasche Restrukturierung der DDR-Staatsbetriebe insbesondere im Modus von Privatisierungen vor. Man schätzte den Zustand der DDR-Wirtschaft unmittelbar vor der Wirtschafts- und Währungsunion regierungsseitig etwa dreiteilig ein: Ein Drittel der Unternehmen galt als sofort privatisierbar und wettbewerbsfähig; die hierbei zu diesem Zeitpunkt noch erwarteten Milliardenerlöse in drei- oder gar vierstelliger Höhe sollten sodann in die Sanierung eines weiteren Drittels angeschlagener, aber prinzipiell sanierungsfähiger Unternehmen investiert werden. Jedoch ging man bereits davon aus, dass ein letztes Drittel der Betriebe letztlich eben nicht mehr zu retten sei.
Die hierfür nun zuständige Treuhandanstalt sollte als „Anstalt öffentlichen Rechts“ zunächst der Aufsicht des DDR-Ministerpräsidenten, später dann des Bundesfinanzministeriums unterstellt sein. Formal war sie damit eine Bundesbehörde; praktisch sollte sie aber insbesondere durch ihr künftiges Führungspersonal jedoch eher wie ein unabhängiges Unternehmen agieren.
Die Entscheidung, die Treuhand-Spitzenpositionen künftig maßgeblich durch erfahrene westdeutsche Unternehmer und Manager zu besetzen, die diese dann in großer Eigenständigkeit beim Wirtschaftsumbau um- und ausbauen sollten, erwies sich letztlich als der eigentliche Clou dieses deutsch-deutschen „Sondermodells“: nicht Beamte, Politiker oder Fachökonomen sollten die (Privatisierungs-)Praxis auf dem Weg vom Plan zum Markt in der Praxis lenken und gestalten, sondern eben erfahrene westdeutsche Wirtschaftsexperten, denen man sogleich möglichst große Staatsferne und unternehmerische Eigenständigkeit in Aussicht stellen würde.
9. Die Treuhand als Praxis(-Schock): rascher Um- und Ausbau unter Detlev Rohwedder
Der 1. Juli 1990 erwies sich wirtschaftshistorisch als fundamentaler Einschnitt für die ostdeutsche Betriebslandschaft. Die gravierenden Folgen der – auf Wunsch vieler Ostdeutscher – weitgehend paritätisch gestalteten Währungsumstellung offenbarten sich sehr rasch in den folgenden Sommerwochen; die US-amerikanischen Ökonomen Janet Yellen und George Akerlof hatten diesen „Aufwertungsschock“ kurze Zeit später effektiv auf knapp 200 bis 300 Prozent geschätzt.
Es waren nun insbesondere die im Laufe des Juli neu bei der Treuhand eintreffenden ersten westdeutschen Führungskräfte wie der vormalige Bundesbahn-Chef Rainer Maria Gohlke sowie der Hoesch-Vorstandsvorsitzende Detlev Karsten Rohwedder, denen das ganze Ausmaß der sich nun einstellenden Umstellungskrise in den Betrieben plötzlich vor Augen stand: Allein in den Monaten Juli und August meldeten die Treuhand-Unternehmen einen enormen Liquiditätsbedarf von jeweils knapp 20 Milliarden D-Mark an, um lediglich die laufenden Geschäfte fortzuführen (vor allem auch: die Löhne weiterzuzahlen).
Für die neuen Führungskräfte markierte diese Entwicklung den Beginn eines veritablen Praxisschocks, der nicht zuletzt auch den ersten Präsidenten Gohlke rasch zur Aufgabe zwingen sollte: Fehlende Informationen, mangelhafte Kommunikation sowie unzureichendes Personal ließen die Situation im Osten regelrecht unlösbar erscheinen.
Es war dann insbesondere Rohwedder, Gohlkes kurzfristiger Nachfolger im Präsidentenamt, der ab September auf eine massive Expansion der bislang noch kaum veränderten DDR-Organisation drängte. Unter ihm fand die Treuhand mithilfe westlicher Berater nicht nur rasch eine neue, unternehmerisch ausgerichtete Organisationsstruktur, auch das kulturelle Selbstverständnis transformierte sich durch die umfassende Rekrutierung westdeutscher Spitzenkräfte grundlegend.
Die Personalgewinnung nahm jedoch erst an Fahrt auf, nachdem Rohwedder bei Bundeskanzler Kohl im Oktober massiv intervenierte und diesen zu einem Appell an den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) nötigte. Diese „Leihmanager“-Aktion brachte im Spätherbst dann kurzfristig eine erhebliche Zahl an neuen Führungskräften in die Treuhand, die vor allem von den führenden westdeutschen Industrie-Unternehmen entsandt wurden. Mit dem raschen Personalzuwachs – so zählte die Treuhand um den Jahreswechsel 1990/91 bereits knapp 1.000, drei Monate später sogar über 2.000 Mitarbeiter*innen – nahm nun auch das Privatisierungstempo deutlich an Fahrt auf.
Im Frühjahr 1991 verkündete der inzwischen mehrheitlich mit westdeutschen Industrie-Managern besetzte Treuhand-Vorstand um Rohwedder zahlreiche Stilllegungs- und Entlassungsbeschlüsse, die nun unmittelbar zu massiven Protesten und Demonstrationen in ganz Ostdeutschland führten und im März einen ersten Höhepunkt mit zahlreichen Massenkundgebungen erreichten, die vor allem von der PDS und den Gewerkschaften organisiert wurden. Insbesondere der noch kurz zuvor als Hoffnungsträger oder gar „Wirtschaftswunderdoktor“ begrüßte Rohwedder wurde zu einem regelrechten Feindbild.
In dieser angespannten Situation bestätigte der Präsident den zunehmend verunsicherten Mitarbeiter*innen den Kurs der Organisation, indem er auf ein höheres Tempo drängte: Privatisierung sei, wie er in einem Rundschreiben formulierte, immer „die wirksamste Form der Sanierung“, weshalb ein langfristiger Verbleib von Unternehmen im Treuhand-Bestand kaum wünschenswert erschien; die Treuhand selbst könne eine langfristige Sanierung in Eigenregie gar nicht leisten. Wenige Tage nach dieser prägnanten Formulierung wurde der Treuhand-Präsident am 1. April 1991 in seinem Düsseldorfer Wohnhaus ermordet; die Rote Armee Fraktion (RAF) hinterließ am Tatort ein Bekennerschreiben.
10. Die Treuhand als Ausnahmezustand: „Privatisierungswettstreit“ unter Birgit Breuel
Rohwedders Tod markierte einen tiefen Einschnitt für die Treuhand, aber auch für das soeben vereinte Land insgesamt. Die euphorischen Erwartungen der Jahre 1989/90 waren nicht einmal binnen Jahresfrist in ernüchternde Enttäuschungen umgeschlagen – vor allem in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft, die sich nun mit umfassenden Entlassungswellen, hart umkämpften Betriebsschließungen, anschwellender Massenarbeitslosigkeit sowie anhaltenden Abwanderungsbewegungen konfrontiert sah.
Die Treuhand avancierte, wie Wolfgang Seibel bereits zeitgenössisch treffend urteilte, zu einem regelrechten „Blitzableiter“ für das politische System, in dem die christliberale Bundesregierung im fernen Bonn bewusst einigen Abstand zur Treuhand in Berlin wahrte – man beließ dieser in der konkreten Alltagspraxis des Wirtschaftsumbaus zwar gerade 1991/92 weite Gestaltungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume, aber entledigte sich zugleich auch einer unmittelbaren Verantwortungszuschreibung für die nun massiv aufbrechenden Krisen und Konflikte in der Transformationsgesellschaft, die sich in Tausenden Streiks und Protestaktionen sowie intensiven industriepolitischen Debatten um den langfristigen Erhalt „Industrieller Kerne“ entluden.
Unter der neuen, ab Mitte April 1991 amtierenden Präsidentin Birgt Breuel, der ordnungspolitisch profilierten einstigen CDU-Finanz- und Wirtschaftsministerin von Niedersachsen, forcierte die Treuhand ihren Privatisierungskurs, auch und gerade weil sich die wirtschaftliche Situation vieler Betriebe durch den fast vollständigen Zusammenbruch der osteuropäischen Märkte im Gefolge des Kollaps der UdSSR weiter verschärfte und auch die bereits 1990 eingebrochene Binnennachfrage nur sehr zögerlich wieder anzog.
Der Vorstand um Breuel versuchte, das Tempo von Privatisierungen und Schließungen weiter zu forcieren und rief einen regelrechten internen Wettstreit zwischen Direktoraten, Abteilungen und Niederlassungen aus, die sich so schnell wie möglich „selbst überflüssig“ machen sollten, wie die Präsidentin auf einer zentralen Mitgliederversammlung Ende 1991 in Berlin deutlich formulierte. Materielle Anreiz- und Bonussysteme für Führungskräfte, ein geringes Ausmaß an Kontrolle und „Bürokratie“ sowie forcierte Entscheidungsfindungsprozeduren führten tatsächlich zu einer erheblichen Steigerung des Privatisierungstempos insbesondere in den Jahren 1991 und 1992, als die Organisation im Durchschnitt nun zwischen 300 und 500 Privatisierungen pro Monat vermelden konnte.
Ende 1992 verkündete die Treuhand-Spitze schließlich mit merklichem Stolz ihre 10.000ste Privatisierung; über 80 Prozent des ursprünglichen Firmen-Bestandes waren damit in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren verwertet worden. Die Treuhand schien, so hoffte es der Vorstand, nach diesem harten Ritt doch auf einem guten Weg ins Ziel sowie letztlich auch in die Geschichtsbücher zu sein.
Doch statt allgemeiner Anerkennung prägten in den Folgejahren 1993 und 1994 spektakuläre Skandale (um ein enthülltes Korruptionsnetzwerk in der Niederlassung Halle), dramatische Proteste (der Hungerstreik von Bischofferode) sowie hitzige parlamentarische Debatten (des Treuhand-Untersuchungsausschusses des Bundestages) die weiteren politischen, medialen wie gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Treuhand.
Gerade der industrie- beziehungsweise strukturpolitische Streit um den Erhalt fortbestehender „Restfälle“ in Form zumeist strukturbestimmender regionaler Großbetriebe erwies sich aus Sicht der Treuhand-Führung von wachsenden politischen Einflussnahmen überlagert, während der Charakter einer eigenverantwortlich und unternehmerisch agierenden Privatisierungsagentur zunehmend verblasste. Insbesondere auch die Bundesregierung führte die Treuhand mehr und mehr an einer kurzen Leine; die Intensität der internen, externen sowie juristischen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen nahm immens zu, was führende Treuhand-Privatisierungsexperten ab 1992 als unerträgliche „Bürokratisierung“ ihrer Arbeit empfanden.
Mit Blick auf das soziale wie kulturelle Innenleben der Organisation hatte sich im Laufe der Zeit eine Art kollektiv-korporative Abwehr-Identität entfaltet, die zwischen Avantgarde und Wagenburg schwankte. Viele Mitarbeiter in den Reihen der Treuhand empfanden sich angesichts der heftigen öffentlichen wie politischen Kritik immer mehr als ungeliebte „Sündenböcke“ für die Politik, die die grundsätzlichen Weichenstellungen im Jahr 1990 vorgenommen hatte. Diese Selbstwahrnehmung prägte die Treuhand letztlich auch von innen: Beim sozial wie kulturell heterogenen Personal besetzten ältere westdeutsche Wirtschaftsexperten die Spitzenfunktionen und jüngere westdeutsche Nachwuchsführungskräfte die mittleren Positionen, während mehrheitlich mittelalte bis jüngere ostdeutsche Mitarbeiter*innen aus den einstigen Ministerien und Behörden der Planwirtschaftsbürokratie das personelle Rückgrat der Organisation bildeten.
Die Motivlagen der verschiedenen Gruppen unterschieden sich dabei ähnlich wie die bei der Treuhand gesammelten Erfahrungen: Während die älteren West-Führungskräfte ursprünglich aus patriotischen sowie professionellen Motiven zur Treuhand gekommen waren, trieb die jüngeren Nachwuchskräfte vielmehr die Vorstellung eines gut bezahlten „Karrieresprungbretts Ost“ an; beide erlebten ihre Treuhand-Zeit dann meist als abenteuerlich-anspruchsvolles Engagement im „Wilden Osten“ – einem frontier-artigen, historisch einmaligen wie fast exotischen Erlebnisraum, in dem sich Chancen und Risiken einander die Waage hielten.
Der ostdeutschen Mehrheit des Personals stand hingegen vor allem die drohende Arbeitslosigkeit vor Augen, wobei das Treuhand-Engagement zu erheblichen Konflikten im Freundes- und Verwandtenkreis führen konnte. Markante Ost-West-, professionelle sowie generationelle Konfliktlinien ließen sich dabei auch innerhalb der Treuhand konstatieren. Insgesamt zeigt ein Blick auf das Personal, wie sehr diese Organisation und ihre Mitarbeiter zugleich Treibende wie Getriebene des von ihnen in der Praxis gestalteten Wirtschaftsumbaus gewesen sind – nicht zuletzt waren es die subjektiven Erfahrungen einer dramatischen Beschleunigung, die die diversen Gruppen und Ebenen teilten. Die Treuhand agierte, so ließe sich an diesem Punkt festhalten, vor allem in den Jahren 1991 und 1992 de facto als eine Art unternehmerische Wirtschaftsregierung des Ostens.
Nach dem Schock über Rohwedders Ermordung wurden mögliche Gegenspieler wie die Gewerkschaften oder die ostdeutschen Ministerpräsidenten zunehmend kooptiert und in entsprechende Konsultationsgremien einbezogen; andererseits forcierte der Vorstand um Birgit Breuel die Geschwindigkeit der Privatisierungen in dramatischer Weise.
Die Treuhand und ihr Personal erschienen mithin als ein auf Dauer geschalteter Ausnahmezustand im ostdeutschen Wirtschaftsumbau, der nun in kürzester Zeit den Übergang vom Plan auf den Markt praktisch in die Tat umsetzte. Im Dezember 1994 sollte dieses ökonomische Sonderregime schließlich an sein (scheinbares) Ende gelangen.
11. Bilanz & Erbschaften: materielle Folgen und erinnerungskulturelle Vermächtnisse
Als Birgit Breuel am 31. Dezember 1994 unter großem Medienandrang das präparierte Firmenschild am Detlev-Rohwedder-Haus in Berlin abmontierte, schien die „heiße“ Phase des Wirtschaftsumbaus endgültig abgeschlossen. Die Treuhand löste sich als zentrale Akteurin des Wirtschaftsübergangs endgültig auf.
Ein Großteil ihres Personals wechselte unterdessen nahtlos zur neu gegründeten Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die ab 1995 die restlichen Unternehmen betreute sowie die langfristige (und oft spannungsreiche) Kontrolle der abgeschlossenen Privatisierungsverträge übernahm. Die „Selbstauflösung“ kam daher durchaus einer „Scheinauflösung“ gleich, wie schon Wolfgang Seibel argumentierte. Dennoch war mit der Treuhandanstalt ein zentrales Referenzobjekt der Umbruchs- und Transformationszeit nach 1990 zunächst von der Hauptbühne verschwunden. Spätestens 1994 hatten umfassende Versuche eingesetzt, entsprechende Bilanzen des von der Treuhand verantworteten Wirtschaftsumbaus zu ziehen. Das betriebswirtschaftlich orientierte Entscheidungsmodell, in diskreten Verhandlungen aussichtsreiche Investoren für die eigenen Betriebe zu gewinnen, spiegelte sich auch in den materiellen Dimensionen. Da die Treuhand gerade keine Betriebe verkauft, sondern vielmehr „Investoren eingekauft“ habe, wie Birgit Breuel formulierte, blieben die Privatisierungserlöse mit knapp 70 Milliarden D-Mark weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück.
Massive Aufwendungen für Altschulden, Umweltaltlasten, Sozialpläne sowie Personalmittel schlugen am Ende in einem Gesamtdefizit von rund 260 Milliarden D-Mark zu Buche. Dafür reklamierte die Treuhand für sich, über eine Million Arbeitsplätze gesichert und knapp 170 Milliarden D-Mark an Investitionszusagen durch die neuen Eigentümer erhalten zu haben. Insgesamt waren zwei Drittel der Unternehmen privatisiert oder re-privatisiert worden, ein Drittel wurde abgewickelt beziehungsweise stillgelegt. Bei den Industrie-Unternehmen stammten rund 80 Prozent der neuen Eigentümer aus den alten Bundesländern, ostdeutsche Bewerber stellten knapp fünf Prozent sowie ausländische Investoren rund 15 Prozent der Käufer.
Während das immense Treuhand-Defizit auf erhebliche Kritik vor allem in Westdeutschland sowie unter Ökonomen stieß, monierten linke Kritiker vor allem die Einseitigkeit und Intransparenz einer überhasteten Privatisierungspraxis vor allem zugunsten westdeutscher Unternehmen als Haupterwerber, die oft als vorschnelle Ausschaltung ostdeutscher Konkurrenten kritisiert wurde und wird. Auch langfristig wird der Einfluss der Treuhandanstalt und ihrer Privatisierungspraxis auf die ostdeutsche Volkswirtschaft kritisch diskutiert. Diese erscheint nach wie vor beispielsweise deutlich kleinteiliger und oft von westdeutschen Unternehmens-Zentralen abhängig; auch entsprechende Ost-West-Differenzen bei ökonomischen Spitzenpositionen sowie der Verteilung von Eigentum, Wohlstand und Vermögen sind häufig diskutierte Streitgegenstände.
Neben den materiellen Bilanzierungen der betriebswirtschaftlich ausgerichteten Treuhand-Praxis werden schließlich die kulturellen Langzeitfolgen des Wirtschaftsumbaus sehr kontrovers diskutiert. Die sozialen wie kulturellen Folgewirkungen erscheinen letztlich mit dem umfassenden Verschwinden der realsozialistischen Betriebslandschaften und der hiermit aufs Engste verknüpften Lebens- und Arbeitswelten verbunden.
Die von der Treuhand in großem Tempo um- und zurückgebauten Großbetriebe erwiesen sich dabei als eigene soziale Gebilde, deren dramatischer Verlust in etlichen Städten und Regionen ganz besonders schwer wog. Die individuellen Erfahrungen, scheinbar von anonymen West-Managern radikal wie rücksichtslos „abgewickelt“ worden zu sein, befeuern eine erinnerungskulturelle Konstellation, in der die Treuhand in den Retrospektiven zahlreicher Ostdeutscher als negativer Gründungsmythos aufscheint. Die dramatischen und bisweilen traumatisierenden persönlichen Übergangs- und Umbruchsfolgen – allen voran Abwicklungen, Arbeitslosigkeit und Abwanderung – werden dabei nicht, wie von einigen Autoren wie Richard Schröder stets scharf kritisiert, der SED-Planwirtschaft zugeschrieben, sondern häufig ausschließlich und abstrakt auf die Aktivitäten der Treuhandanstalt bezogen. Diese avancierte auf diese Weise zu einem regelrechten erinnerungskulturellen Wiedergänger, der als Sinnbild für eine nachgerade als „kolonial“ gedeutete Konstellation zwischen Ost und West steht.
Diese spannungsreiche Konstellation der Anfangszeit wird nicht zuletzt auch zunehmend mit einer tendenziell geringer ausgeprägten Identifikation zahlreicher Ostdeutscher mit dem westlichen Demokratie- und Wirtschaftsmodell in Verbindung gebracht, die sich seit einigen Jahren in wachsenden Stimmenzahlen für rechtspopulistische Parteien in den vom Wirtschaftsumbau oft massiv betroffenen ländlichen Regionen Ostdeutschlands manifestiert.
12. Fazit: Wirtschaftsumbau und Treuhand – und (k)ein Ende in Sicht?
Die gegenwärtig wiederaufbrechenden und nur durch die Corona-Pandemie 2020/21 und den Ukrainekrieg unterbrochenen Diskussionen um Treuhand, Wirtschaftsumbau sowie deren langfristige Nach- und Folgewirkungen verweisen damit im Kern auf tieferliegende gesellschaftliche Krisen- und Konfliktkonstellationen, die durch die Umbrüche und Transformationen in den frühen 1990er Jahren freigelegt wurden.
Der fortgesetzte wie beständige Streit um den „Wert“ der DDR-Industrie sowie die Alternativlosigkeit, die Geschwindigkeiten oder die (Miss-)Erfolge des nach 1990 umgesetzten Wirtschaftsumbaus vom Plan zum Markt markiert dabei ein komplexes erinnerungskulturelles wie geschichtspolitisch stark aufgeladenes Diskussions- und Debattenfeld, in dem nicht zuletzt um post-nationale beziehungsweise post-sozialistische Identitäten auf individuellen wie kollektiven Ebenen gerungen wird. Die umfassenden Re-Politisierungen und Re-Polarisierungen in den politischen wie medienöffentlichen Arenen haben dabei einerseits dem Thema wieder erhebliche Aufmerksamkeit verschafft; andererseits stellt gerade diese Konstellation für wissenschaftliche sowie zeithistorische Aneignungen eine besondere Herausforderung dar. Und auch das Jahr 2020 hielt mit neuerlichen Diskussionen um eine „Corona-Treuhand“ für Lockdown-bedingt notleidende Unternehmen eine abermalige Weiterung in diesem Feld bereit.
In einer distanziert-differenzierenden zeithistorischen Perspektive ließen sich die Treuhand, ihr Personal sowie die Praxis insbesondere in ihren Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten besser ergründen. Vor allem über facettenreiche Alltagssituationen in einzelnen Betrieben, Regionen oder Branchen liegen noch kaum empirisch abgesicherte Analysen vor. Quellengestützte Studien, wie sie auch das IfZ-Projekt auf Grundlage der Akten des Bundesarchivs anstrebt, können dabei helfen, das Bild der Umbruchs- und Übergangszeiten nach 1990 jenseits erinnerungskultureller wie geschichtspolitischer Setzungen entscheidend zu differenzieren.
Als treibende und getriebene Organisation dieses Übergangs vom Plan zum Markt ist es eben gerade das umfassende Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren, das die kumulative Dynamik der sich ab 1989/90 entfalteten ökonomischen Umbruchsprozesse zu erklären und verstehen hilft. Das sich vor allem nach 1991 eröffnende Krisen- und Konfliktszenario erweist sich dann vielmehr als eine komplexe Kombination aus nach langjähriger Zentralsteuerung überkommenen planwirtschaftlichen Strukturen, schocktherapeutischen Disruptionen sowie forcierten Eruptionen durch eine in der Folge massiv beschleunigte Privatisierungspraxis. Zum Abschluss scheint schließlich eine Warnung angebracht:
Die intensive Beschäftigung mit dem ostdeutschen Wirtschaftsumbau nach 1990 droht, gerade auch in ihrer Fixierung auf das skandalträchtige wie spektakuläre Wirken der Treuhandanstalt, neue perspektivische Engführungen und Einseitigkeiten zu produzieren. Andere Bereiche der postsozialistischen Übergangs- und Umbruchsgesellschaft geraten damit möglicherweise tendenziell aus dem Blick – etwa die umfassenden Transformationen des Bildungs- und Hochschulwesens, der Verwaltung oder der Kultur- und Medienlandschaft.
Auch scheint ein exklusiver Fokus auf den ostdeutschen „Sonderfall“ in räumlicher Hinsicht weiterführende beziehungsweise transnationale Vergleichs- und Transfer-Perspektiven – etwa (aber nicht nur) nach Mittelosteuropa – zu verstellen; fürderhin bleiben auch die Geschichten des „alten“ Westens so möglicherweise unterbelichtet. Ferner drohen auch zeitlich übergeordnete Kontexte und Kontinuitäten aus den 1980er Jahren als Vor- beziehungsweise den späten 1990er Jahren als Folgegeschichten vom zeithistorischen Radar zu verschwinden.
Zitierweise: Marcus Böick, "Zwöf Thesen zu Wirtschaftsumbau und Treuhandanstalt - Die Rolle(n) und Folgen des Wirkens der Treuhand nach dem Ende der DDR“, in: Deutschland Archiv, 22.09.2022, Link: www.bpb.de/513279. Der Text ist dem Schriftenreiheband SR 10676 (Ost)Deutschlands Weg entnommen.
Marcus Böick ist derzeit (2022) John F. Kennedy Fellow am Minda de Gunzburg Center for European Studies an der Harvard University, Cambridge, MA., und bis September 2022 Gastprofessor beim BMBF-Forschungsverbund "Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren" an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2021/22 war er Joint Visiting Postdoctoral Research Fellow am Institute of Advanced Studies des University-College London und am German Historical Institute London. Zuvor war er Akademischer Rat und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Deutsche und Europäische Geschichte im 20. Jh., Geschichte von Transformationen & Umbrüchen n. 1989, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, Sicherheits- und Gewaltgeschichte und Theorien der Geschichtswissenschaften. Er hat mehrfach zum Thema Treuhand publiziert, unter anderem: Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung, Göttingen 2018.
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