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Schnell oder demokratisch? | Ökologie und Demokratie | bpb.de

Ökologie und Demokratie Editorial Auf dem Weg in die "Ökodiktatur"? Klimaproteste als demokratische Herausforderung System change, not climate change? Ziviler Ungehorsam im Zeichen der Klimakatastrophe Nachhaltigkeit und Demokratie Handeln und Verhandeln. Eine kurze Demokratiegeschichte der Atomkraft Tyrannei der Minderheit? Energiewende und Populismus Schnell oder demokratisch? Dilemmata demokratischer Beteiligung in der Nachhaltigkeitstransformation Klimaschutz lokal vermitteln. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Klimaübersetzer:innen in Dänemark und Deutschland

Schnell oder demokratisch? Dilemmata demokratischer Beteiligung in der Nachhaltigkeitstransformation

Jörg Radtke

/ 14 Minuten zu lesen

Wie lässt sich unter dem Druck des fortschreitenden Klimawandels entscheiden, ohne an demokratischer Qualität einzubüßen? Bieten Bürgerräte oder materielle Beteiligungsformen wie Bürgerenergie neue Perspektiven und Problemlösungen? Und wo liegen ihre Grenzen?

Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat den Zusammenhang zwischen Energie- und Klimapolitik mit Sicherheitspolitik schlagartig verdeutlicht: Um Deutschland aus der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland zu befreien, ist ein rascher Ausbau der erneuerbaren Energien für die Bundesregierung nunmehr auch sicherheitspolitisch von höchster Priorität. Der mögliche Gangwechsel in einen Hochgeschwindigkeitsmodus birgt jedoch die Gefahr, ein altbekanntes demokratietheoretisches Dilemma zu befördern: jenes zwischen Effektivität und Partizipation. Denn die Energiewende soll so schnell und effektiv wie möglich bewältigt werden, gleichzeitig aber Beteiligung und Mitsprache bieten, also demokratisch sein. Dies erzeugt eine neue Herausforderung der Nachhaltigkeitstransformation im 21. Jahrhundert: Wie lässt sich unter dem Druck des fortschreitenden Klimawandels zügig entscheiden, ohne an demokratischer Qualität einzubüßen und über die Köpfe der Bürger*innen hinweg zu regieren? Bieten Bürgerräte oder materielle Beteiligungsformen hierbei neue Perspektiven und Problemlösungen? Und wo liegen ihre Grenzen?

Vereinfacht ausgedrückt, ist die Idee einer materiellen Beteiligung in der Energiewende insbesondere an den Ansatz dezentraler Energieerzeugung gekoppelt, da diesem eine gewisse "Beteiligungsfreundlichkeit" innewohnt. Das heißt: Von Photovoltaikmodulen auf dem Hausdach, nachbarschaftlich genutzten Stromspeichern bis hin zu Beteiligungen an Solar- oder Windparks können Bürger*innen die Energiewende selbstständig mitgestalten. Bis zur Liberalisierung des Energiemarktes 1998 lag die Energieinfrastruktur ganz überwiegend in der Hand der "Großen Vier", den Unternehmen E.ON, EnBW, RWE und Vattenfall, die den deutschen Energiemarkt in regionalen Monopolen unter sich aufgeteilt hatten. Durch verbesserte Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien in Verbindung mit einer staatlich garantierten Einspeisevergütung (ein fester Betrag, den man für den erzeugten Strom erhält) ist in den zwei Jahrzehnten seit Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2000 die Möglichkeit entstanden, entweder selbst als Einzelperson oder als Gruppe Energieanlagen zu betreiben, hierdurch etwas für den Klimaschutz zu tun und dabei gleichzeitig einen finanziellen Gewinn zu erzielen ("Bürgerenergie").

Der Umbruch in neue "Energielandschaften" hat bürgerschaftliches Engagement in unterschiedliche Richtungen stimuliert: Wo sich seit den 2000er Jahren Bürgergruppen zusammentaten, um Energiegenossenschaften zu gründen und auf diese Weise direkte Teilhabe zu ermöglichen, bildeten sich in umgekehrter Stoßrichtung mitunter gleichzeitig Bürgerinitiativen, um insbesondere gegen Windparks ins Feld zu ziehen, weil eine Beeinträchtigung des Landschaftsbildes und durch Schallwellen befürchtet wird. In einzelnen Fällen entstehen hierbei enorme Konflikte, bei denen eine Verständigung kaum mehr möglich erscheint. Häufig geht es dabei gar nicht um den eigentlichen Streitgegenstand, sondern um andere Motive. Diese können zum Beispiel soziale Gruppenkonflikte wie zwischen Neubürger*innen und Alteingesessenen, politische Orientierungen oder verdeckte Interessenlagen betreffen (etwa Minderung von Grundstückswerten oder Pachteinnahmen). All dies erschwert einen demokratischen Aushandlungsprozess vor Ort.

Wie kann Bürgerbeteiligung in so einem umkämpften Feld gelingen? Das politische Ziel einer raschen Transformation des Energiesystems erhöht den Druck auf alle Beteiligten, Lösungen zu finden. Dies erhöht einerseits das Risiko, demokratische Kriterien im Prozess eher zu vernachlässigen. Andererseits könnte man argumentieren, dass Diskurse ohnehin entbehrlich sind, weil ja zum Ausbau der Erneuerbaren keine Alternativen bestehen. Dies markiert die Pole eines übergreifenden demokratischen Dilemmas der Nachhaltigkeitstransformation auf zwei Achsen: Geschwindigkeit der Verfahren und erforderliche Zielerreichung (Ausbau) versus langwierige Aushandlungsprozesse und Eingehen auf Bürger*innenwünsche und -anliegen. Im Folgenden werde ich dieses Dilemma der demokratischen Beteiligung zunächst unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten beleuchten, anschließend werde ich die Vor- und Nachteile einiger Beteiligungsformen betrachten, um abschließend mögliche Zukunftsoptionen für eine bessere und umfassendere Beteiligungspraxis in der Nachhaltigkeitstransformation zu skizzieren.

Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie

In der Energiewende ist folgende Grundkonstellation allerorten bekannt: Spätestens, wenn Baufahrzeuge zur Errichtung eines neuen Windparks anrücken, regt sich in der lokalen Bevölkerung Widerstand. Dieses als Nimby-Reflex (not in my backyard) oder Sankt-Florian-Prinzip bekannte Phänomen ist ein Klassiker in der Beteiligungsforschung. In Untersuchungen zeigt sich jedoch: Die Akzeptanz oder Ablehnung eines Windparks in der Nähe des Wohnraumes ist von vielen Faktoren abhängig, etwa der ökologischen Einstellung und insbesondere der grundsätzlichen politischen Einstellung, die als mit Abstand stärkster Einfluss gelten kann. Häufig artikulieren sich in den Vorbehalten altbekannte Zweifel an bürokratischen und starren Verfahrensabläufen, die schon seit Jahrzehnten im Rahmen von Infrastruktur-Planungsprozessen – von der Startbahn West über Gorleben bis zu Stuttgart 21 und dem Tesla-Werk in Grünheide – beklagt werden.

Aus demokratietheoretischer Perspektive bemisst sich die Güte eines Planungs- und Umsetzungsprozesses an den Kriterien der demokratischen Legitimität. Zunächst unterscheidet das weit verbreitete Verständnis von Demokratie zwei wesentliche Prinzipien: Gleichheit und Gerechtigkeit. Der demokratische Wahlakt garantiert als Musterbeispiel beides: Die Wahl steht allen Wahlberechtigten offen, und jede Stimme ist gleichwertig. Diese Kriterien lassen sich aber auch auf andere Formen politischer Partizipation und auf den Kontext der Nachhaltigkeitstransformation anwenden, wobei Input-, Throughput- und Output-Dimension der politischen Legitimität zu beachten sind: Input-Legitimität ist gegeben, wenn die Beteiligungsverfahren allen offen stehen; Throughput-Legitimität erfordert faire, transparente und nachvollziehbare Prozesse; für Output-Legitimität schließlich müssen Ergebnisse gefunden werden, die am Gemeinwohl orientiert sind, also möglichst dem Wohlergehen aller dienen.

Diese Aspekte sind auch für das Konzept der Klima- beziehungsweise Umweltgerechtigkeit relevant: Auf drei Ebenen wird hier danach gefragt, inwieweit erstens eine (Un-)Gleichverteilung von Gütern und Ressourcen, Einkommen und Ausgaben oder Infrastrukturen und Einflüssen vorliegt (distributionale Gerechtigkeit), inwieweit zweitens im Prozess der Entscheidungsfindung, Planung und Umsetzung (un)gleiche Zugänge zu Informationen, Transparenz, individuelle Rechte und Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen gewährt werden (prozessuale Gerechtigkeit, deckungsgleich mit der Throughput-Dimension), sowie drittens, inwiefern Anerkennung und Respekt gegenüber den Ansprüchen, Belangen und Identitäten lokaler Gemeinschaften, Vulnerabilitäten und Resilienzvermögen sowie den Ortsverbundenheiten gewährt werden. Das Beispiel des örtlichen Streits um einen Windpark zeigt, dass sich – unabhängig aus welchen Motiven heraus – Individuen oder Gemeinschaften nicht verstanden und in ihren Anliegen nicht ernst genommen fühlen. Exakt dies kann als zentrale Herausforderung für Aushandlungs- und Beteiligungsprozesse angesehen werden.

Eine "Energiedemokratie" bedeutet daher im Kern: gleiche Rechte und Zugänge zu sozialverträglichen Energiesystemdienstleistungen sowie gleiche Verteilung der dazugehörigen Vor- und Nachteile. Im Gegensatz zu anderen Kontexten ist der letztgenannte Aspekt in der Energiewende um eine Dimension reicher, denn es besteht mit der Bürgerenergie die grundsätzliche Möglichkeit einer materiellen Beteiligung und des gemeinschaftlichen Betriebs von Energieanlagen. Diese Beteiligungsform ergänzt das sonst typische Instrumentarium demokratischer Partizipation, nämlich einerseits die klassische Öffentlichkeitsbeteiligung (Teilnahme an Bürgerversammlungen oder Bürgerdialogen, Abgabe von Stellungnahmen) sowie andererseits das Engagement in Vereinen, Verbänden oder sozialen Bewegungen.

Soweit die Theorie der Beteiligungsmöglichkeiten – aber was wird von den Bürger*innen in der Praxis präferiert, und woran besteht nur wenig Interesse? Entsprechende Untersuchungen zeigen, dass der Prozess-Dimension offenkundig eine Schlüsselrolle für die Herstellung von Akzeptanz und Legitimität zukommt: Die Bevölkerung möchte aus möglichst neutralen Quellen umfassend über alle Vorgänge, Auswirkungen sowie Vor- und Nachteile informiert werden. Eine (zu) ausgiebige Diskussion um Vor- und Nachteile wird hingegen von einer Mehrheit als weniger bedeutsam eingestuft, und statt finanzieller Beteiligung wäre den meisten ein günstiger lokaler Stromtarif wichtiger. Hieraus ließe sich schließen, dass Deliberation, also der öffentliche Austausch und die sorgfältige Abwägung von Argumenten, entbehrlich erscheint und Bürgerenergie überschätzt wird. Um dies besser einschätzen zu können, werden diese Beteiligungsmodi im Folgenden näher betrachtet.

Weniger Deliberation wagen?

Auffallend viele Studienergebnisse kommen zu dem Schluss, dass Deliberation in der Energiewende schlecht funktioniert: Das vielbeschworene Paradigma frühzeitiger Bürgerbeteiligung entfaltet hier nur sehr begrenzt Wirkung. Der formelle und verbindliche Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung weist gravierende Probleme in der Kommunikation und hinsichtlich der Handlungsspielräume auf, weil die Anliegen von Bürger*innen zwischen Planungsdeutsch und zahlreichen planungsrelevanten und rechtlichen Beschränkungen verdampfen können. Im informellen Austausch bei Gesprächen hingegen sind zwar mehr freie Räume des Hörens und Gehörtwerdens gegeben und können politische Spielräume in Aussicht gestellt werden. Doch drohen diese Formate als talking shop wahrgenommen zu werden und zu verwässern, da zum Teil gar nicht mehr erkennbar ist, welcher oder ob überhaupt ein Einfluss von Bürger*innen ausgeübt werden konnte. So kann die paradoxe Situation eintreten, dass mehr Beteiligung letztlich weniger Demokratie bedeutet – wenn Dialoge und Versammlungen einzig mit dem Fazit enden: "Schön, dass wir mal darüber gesprochen haben."

Wie sollte Deliberation hingegen im Idealfall ablaufen, und was wäre erforderlich, um funktionierende Verständigung zu ermöglichen? Nach dem Ansatz von Jürgen Habermas soll sich im Diskurs letztlich das beste rationale Argument durchsetzen, dem sich eine Mehrheit (aus Überzeugung) anschließen kann. Niklas Luhmann tat dies dagegen als unrealistisch ab und verwies auf das Prinzip "Legitimation durch Verfahren": Allein durch einen Rahmen mit verbindlichen rechtsstaatlichen Standards und Garantien könne Legitimation erzielt werden, weil die Ergebnisse hier verbindlicher berücksichtigt werden müssten. Gleichzeitig räumte Luhmann allerdings ein, dass die Verfahren diesen Ansprüchen in den wenigsten Fällen genügen können: Der Einzelne droht im Verfahren unterzugehen, weil die professionellen Akteure besser im Prozedere bewandert sind und so überlegenes Wissen und Erfahrungen mit Verfahrenstechniken machttechnisch ausnutzen können. Für die beteiligten Bürger*innen kann dann der Eindruck eines "abgekarteten" Spiels entstehen: Der politische Wille zum Bau eines Windparks wird von den "Mauern des Verfahrens" verdeckt, und die Fachverwaltung dient als Gehilfe zur Durchsetzung dieses Willens. Allerdings können insbesondere organisierte Gruppen wie Verbände oder Bürgerinitiativen lernen, sich ebenfalls verfahrenssicher im Prozess zu bewegen, was etwa in der Netzausbau-Beteiligung bereits nachgewiesen werden konnte.

Mehr Bürgerräte wagen?

Ein anderer Ansatzpunkt könnte ein verstärkter Einsatz von Bürgerräten sein. Die Erfahrungen aus der Energiewende zeigen: Für die Bürger*innen ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ein Schlüssel für die Akzeptanz und Herstellung von Legitimität. Formate der invited participation wie moderierte Town Hall Meetings, Info- und Dialogveranstaltungen sind indes stark gesteuert, um wenig Angriffsfläche zu bieten – eben dies provoziert dann mitunter Skepsis und Widerstand. Demgegenüber können Formate der invented participation mehr Akzeptanz in der lokalen Gemeinschaft erzeugen, weil diese von Personen aus der Bürgerschaft selbst angestoßen und umgesetzt werden. Doch auch dies kann an Grenzen stoßen, wenn am Ende die Verbindlichkeit fehlt. Denn die von Luhmann betonte Verbindlichkeit spielt in der Energiewende eine entscheidende Rolle: Zahlreiche Bürgerinitiativen haben in der Vergangenheit aufwendige Vorschläge erarbeitet, die von Verantwortlichen zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber letztlich im Ergebnis nicht berücksichtigt wurden.

Den Spagat zwischen diesen beiden Ansprüchen könnten Bürgerräte leisten, denn diese setzen sich aus einer per Zufallsauswahl gebildeten repräsentativen Gruppe lokaler Bürger*innen zusammen, die basierend auf gesammelten Sachinformationen eine bestimmte Thematik beraten und auf diese Weise bei der Entscheidungsfindung helfen. Dies kann in die Zukunft gerichtete Grundsatzfragen betreffen – wie im Fall des 2021 auf Bundesebene einberufenen Bürgerrats Klima –, aber auch Einzelfragen – wie im Fall des 2017 geschaffenen Bürgerrats zu gleichgeschlechtlicher Ehe und Abtreibungsverbot in der Republik Irland. Schon den sogenannten Planungszellen Ende der 1970er Jahre lag die Idee zugrunde, dass eine Bürgergruppe über regionale Planungsprozesse beraten könne. Sofern sich politisch Verantwortliche vorab dazu verpflichten, die Ergebnisse des Gremiums zu übernehmen, kann ein Bürgerrat als neutrale Instanz zwischen unterschiedlichen Interessengruppen fungieren, Expert*innen sowie Betroffene anhören und schließlich eine Empfehlung in Form eines Bürgergutachtens aussprechen. Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung, Vertrauen und Neutralität sind im Idealfall die "Trumpfkarten" von Bürgerräten.

In der Energiewende verspricht das Format des Bürgerrates durchaus eine effektive Problembearbeitung, etwa bei der Planung von Windparks: Die zahlreichen Argumente für oder gegen ein Projekt können gesammelt und gewichtet, alle Betroffenen gehört, Best-practice-Fälle besucht und schließlich eine Empfehlung für oder gegen die Errichtung sowie, vielleicht noch wichtiger, Hinweise für das Wie der Umsetzung gegeben werden. Wichtig ist hierbei allerdings, dass sich das Gremium ausgewogen zusammensetzt: Jüngere wie Ältere, mehr oder weniger hoch Gebildete und unterschiedliche Berufs- und Sozialgruppen müssen repräsentiert sein, um das Problem der Input-Legitimität zu lösen, das bei den üblichen Bürgerbeteiligungsformaten regelmäßig auftritt. Denn in der Regel beteiligen sich vor allem höher Gebildete, finanziell besser gestellte, ältere sowie männliche Teile der Bevölkerung. Die Zufallsauswahl soll diesem Umstand entgegenwirken – sie kann jedoch nicht dafür sorgen, dass alle Beteiligten gleich viel Zeit und Energie haben, um sich aktiv einzubringen. Dieses für alle Beteiligungsformen typische Phänomen mangelnder Ausgewogenheit beziehungsweise Repräsentation führt zum nächsten möglichen Beteiligungsansatz der Energiewende, der immer wieder als Schlüssel zur Akzeptanz ins Spiel gebracht wird: die Bürgerenergie mit dem Hebel der finanziellen Beteiligung.

Mehr Bürgerenergie wagen?

Auf den ersten Blick wirkt das Konzept der Bürgerenergie bestechend: Bürger*innen nehmen ihre Energieversorgung vor Ort selbst in die Hand. Sie erhalten hierdurch einerseits Mitsprache im Bürgerenergieunternehmen und gewinnen mehr Kontrolle über die umstrittenen Planungsprozesse, andererseits profitieren sie unmittelbar von der finanziellen Teilhabe. Dennoch können die beiden Grundprinzipien Gleichheit und Gerechtigkeit auch hier verletzt werden. Ein Kritikpunkt betrifft den finanziellen Beteiligungsansatz selbst: Denn dieser hängt immer von der Geldbörse ab – Personen mit niedrigem Einkommen oder ohne entsprechendes Kapital werden zwangsläufig benachteiligt. In den existierenden Projekten in Deutschland sind zudem mehr ältere, männliche und finanzstarke Akademiker beteiligt, die Projekte sind somit nur in seltenen Fällen ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Auch das zweite Kriterium der Gerechtigkeit wird in diesem Modell nicht zwangsläufig besser verwirklicht: Denn das einzelne Mitglied in einem Bürgerenergieprojekt kann wiederum gegenüber einem Vorstand kein Gehör finden, und es sind Konstellationen bekannt, in denen eine Bürgerenergiefraktion in einer Ortschaft konfliktverschärfend wirken kann. So können kritisch eingestellte Bürger*innen das Angebot, Teil der Bürgerenergie zu werden, als "Einkaufsversuch" auffassen und sich korrumpiert fühlen oder den Eindruck gewinnen, paternalistisch bevormundet zu werden. Dies hat zur Folge, dass sie mit ihren Bedenken noch weniger Gehör finden, weil sie nunmehr einem positiv konnotierten Bürgerprojekt gegenüberstehen, an dem Kritik leichter abperlt als an Politik und Verwaltung.

Dennoch ist zu betonen, dass auch umgekehrte Konstellationen bekannt sind, dass es also Projekte gibt, bei denen sich der Querschnitt der Bevölkerung in der Beteiligung besser abbildet und bei denen Konflikte gelöst werden konnten. Umfrageergebnisse zeigen zudem, dass sich die Bevölkerung überwiegend eine kommunale Betreibungsform von Energie-Infrastrukturen wünscht: Daher bietet sich mehr Engagement der Kommunen etwa über Stadtwerke an, um Gewinne gemeinwohlorientiert allen zugänglich zu machen – etwa über günstige lokale Stromtarife, Investitionen in alternative Wärmekonzepte oder Elektromobilität. Die Städte und Gemeinden sind jedoch häufig finanzschwach, und es drohen gravierende regionale Disparitäten, die bereits jetzt zwischen strukturstarken und -schwachen Kommunen und Kreisen erkennbar sind. Die Vorgaben der Europäischen Union im sogenannten Clean-Energy-Paket zur Förderung von citizen energy communities und das neue Energiepaket der Bundesregierung von April 2022 sollen den Ansatz der Bürgerenergie künftig stärker stützen.

An Beteiligung führt kein Weg vorbei

Das eingangs erwähnte Dilemma zwischen Effektivität respektive Geschwindigkeit der Nachhaltigkeitstransformation und demokratischer Bürgerbeteiligung wird in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit noch an Brisanz gewinnen. Denn durch den klimapolitisch notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien werden die Eingriffe in die Umwelt massiv zunehmen und weitere Umstellungsprozesse erforderlich sein. Trotz ernüchternder Erfahrungen mit klassischer Öffentlichkeitsbeteiligung in der Energiewende und Tücken bei dem Einsatz alternativer Beteiligungsformen führt letztlich jedoch am Prinzip des Einbezugs lokaler Gemeinschaften kein Weg vorbei. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass insbesondere das Ausklammern und Ignorieren lokaler Belange nahezu zwangsläufig zu Konflikten führt – und zudem die demokratische Qualität der Entscheidungsprozesse mindert.

Die bekannten Town Hall Meetings als reine Unterrichtung der Bevölkerung mit einigen wenigen Nachfragen mutiger Bürger*innen können aus diesem Blickwinkel nicht überzeugen. Auch Bürgerentscheide sind nur auf den ersten Blick hilfreich: Sie provozieren eine Positionierung in einem polarisierten Pro-oder-Contra-Schema und können Instrumentalisierung und Manipulation befördern, um ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen. Eine Öffnung und ein Aufbrechen etablierter Strukturen und Verfahren ist daher grundsätzlich zu empfehlen: Ob dies durch einen Bürgerrat oder ein Bürgerenergieprojekt oder eine Kombination von beidem gelingt, ob im Sinne des Agonismus mehr auf Disput gesetzt wird, ob Bürger*innen in virtuellen Räumen Vorschläge erarbeiten und liquid feedback geben, ob sich soziale Bewegungen wie "Fridays for Future" einbringen oder Heimatvereine engagieren – die Demokratie lebt von der pluralistischen Entfaltung aller Stimmen in der Gesellschaft. Die Antwort auf die gewaltige Herausforderung einer demokratischen Gestaltung der Nachhaltigkeitstransformation kann nur in einer Diversifizierung der Beteiligungsmöglichkeiten liegen.

Aus demokratietheoretischer Perspektive ist die demokratische Legitimität dabei in jedem Einzelfall möglichst umfassend herzustellen. Um die erforderlichen Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen, ist nicht zuletzt ein aktiver Staat gefragt: Politische Anstrengungen, Gesetzesreformen und Maßnahmenprogramme, die beteiligungsförderlich wirken, sollten aktiv eingefordert werden. Da situativ angemessene Antworten nur auf der lokalen Ebene gefunden werden können, benötigen die Kommunen Unterstützung, denn hochqualitative Bürgerbeteiligung ist nicht zum Nulltarif zu haben, sie ist aufwendig und ressourcenintensiv. Es ist daher durchaus stimmig, dass der Thinktank Agora Energiewende bereits eine "Akzeptanzpolitik" für die Energiewende gefordert hat.

Was bleibt somit als Ausblick? Die Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft im 21. Jahrhundert kann nur als ein "Gemeinschaftswerk" gelingen. Einige Optionen demokratischer Teilhabe liegen auf dem Tisch, weitere können noch entwickelt werden. Es liegt jetzt an Politik und Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die Chancen zu ergreifen, die mit der Transformation verbunden sind – es geht dabei um nicht weniger als um eine klima- und generationenfreundliche Grundlage einer zukunftsfähigen und demokratischen Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Robert Dahl, A Democratic Dilemma: System Effectiveness versus Citizen Participation, in: Political Science Quarterly 1/1994, S. 23–34.

  2. Vgl. Lars Holstenkamp/Jörg Radtke (Hrsg.), Handbuch Energiewende und Partizipation, Wiesbaden 2018.

  3. Juli Zeh beschreibt einen solchen Streit sehr anschaulich in ihrem 2016 veröffentlichten Roman "Unterleuten".

  4. Vgl. Patrick Devine-Wright, Rethinking NIMBYism: The Role of Place Attachment and Place Identity in Explaining Place-Protective Action, in: Journal of Community & Applied Social Psychology 6/2009, S. 426–441.

  5. Vgl. Jörg Radtke/Gary S. Schaal, Die Energiewende in Deutschland. Versuch einer demokratietheoretischen Systematisierung, in: Holstenkamp/Radtke (Anm. 2), S. 143–155.

  6. Vgl. Sascha Kneip/Wolfgang Merkel/Bernhard Weßels, Legitimitätsprobleme: Zur Lage der Demokratie in Deutschland, Wiesbaden 2020.

  7. Vgl. David Schlosberg, Environmental Justice and the New Pluralism: The Challenge of Difference for Environmentalism, Oxford, 1999; ders./Lisette B. Collins, From Environmental to Climate Justice: Climate Change and the Discourse of Environmental Justice, in: WIREs Climate Change 3/2014, S. 359–374.

  8. Vgl. Ortwin Renn/Frank Ulmer/Anna Deckert, The Role of Public Participation in Energy Transitions, Cambridge 2020; Jörg Radtke/Ortwin Renn, Partizipation und bürgerschaftliches Engagement in der Energiewende, in: Jörg Radtke/Weert Canzler (Hrsg.), Energiewende: Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Wiesbaden 2019, S. 283–316.

  9. Vgl. u.a. Jörg Radtke/Sheree Saßmannshausen/Nino Bohn, Windkraft in Nordrhein-Westfalen: Einstellungen zu Akzeptanz, Beteiligung und Konfliktlösung, Siegen 2021; Nele Lienhoop, Acceptance of Wind Energy and the Role of Financial and Procedural Participation, in: Energy Policy Jg. 118/2018, S. 97–105.

  10. Vgl. Nadejda Komendantova/Antonella Battaglini, Beyond Decide-Announce-Defend (DAD) and Not-in-My-Backyard (NIMBY) Models? Addressing the Social and Public Acceptance of Electric Transmission Lines in Germany, in: Energy Research & Social Science 22/2016, S. 224–231.

  11. Vgl. Markus Leibenath/Peter Wirth/Gerd Lintz, Just a Talking Shop? Informal Participatory Spatial Planning for Implementing State Wind Energy Targets in Germany, in: Utilities Policy 41/2016, S. 206–213.

  12. Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969.

  13. Vgl. Simon Fink/Eva Ruffing, Learning in Iterated Consultation Procedures – The Example of the German Electricity Grid Demand Planning, in: Utilities Policy 65/2020, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.jup.2020.101065.

  14. Vgl. Eefje Cuppen, The Value of Social Conflicts. Critiquing Invited Participation in Energy Projects, in: Energy Research & Social Science 38/2018, S. 28–32.

  15. Vgl. Peter C. Dienel, Die Planungszelle: Der Bürger plant seine Umwelt, Opladen 1978.

  16. Vgl. Jörg Radtke, Energiedemokratie durch Bürgerenergie? Die Grenzen finanzieller Bürgerbeteiligung, in: Gaia 3/2018, S. 284ff.

  17. Vgl. ders., Bürgerenergie in Deutschland. Partizipation zwischen Rendite und Gemeinwohl, Wiesbaden 2016.

  18. Vgl. den Gesetzentwurf zu "Sofortmaßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien und weiteren Maßnahmen im Stromsektor" der Bundesregierung vom 6.4.2022, der eine Privilegierung und ein Förderprogramm für Bürgerenergie vorsieht.

  19. Vgl. u.a. Julia Zilles/Stine Marg, Protest and Polarisation in the Context of Energy Transition and Climate Policy in Germany: Mindsets and Collective Identities, in: German Politics, 10.4.2022, Externer Link: https://doi.org/10.1080/09644008.2022.2059469.

  20. Vgl. Peter Biegelbauer/Sandro Kapeller, Mitentscheiden oder Mitgestalten: Direkte Demokratie versus Deliberation in lokalen Entscheidungsfindungsprozessen, in: Sozialwissenschaftliche Rundschau 1/2017, S. 32–55.

  21. Vgl. Agora Energiewende, Akzeptanz und lokale Teilhabe in der Energiewende. Handlungsempfehlungen für eine umfassende Akzeptanzpolitik, Berlin 2020.

  22. So der Titel des Gutachtens der Ethikkommission Sichere Energieversorgung der Bundesregierung zum Zeitpunkt der Ankündigung des deutschen Atomausstiegs und der Energiewende: Deutschlands Energiewende: Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft, Berlin 2011.

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ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen und Affiliate Scholar am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. Er forscht zu Fragen der demokratischen Gestaltung der Nachhaltigkeitstransformation.
E-Mail Link: joerg.radtke@uni-siegen.de