Nachhaltigkeit ist zu einem politischen Imperativ avanciert. In der bundesdeutschen Demokratie spricht sich keine Partei dezidiert gegen das Ziel der nachhaltigen Entwicklung aus. Der Begriff verheißt Zukunftsorientierung, er steht für einen Ausgleich zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Interessen und verbindet sich mit den Werten Sicherheit, Gerechtigkeit und globales Verantwortungsbewusstsein.
In den vergangenen Jahren wuchsen indes in Umweltexpertise und Umweltbewegungen die Zweifel, ob die Demokratie als Regierungsform zukunftsfähig genug sei, um die klimapolitischen Maßnahmen einer nachhaltigen Entwicklung bearbeiten zu können. Die Demokratie gewährleiste hohe Legitimation, aber sei langsam in der Entscheidungsfindung und operiere in beschränkten Zeithorizonten, die nur bis zu den nächsten Wahlen reichten. Hingegen folge das langfristig ausgerichtete und zielorientierte Leitbild der Nachhaltigkeit einem anderen Rhythmus. In einer "pessimistic position" wird gar eine "fundamental incompatibility" zwischen beiden angenommen, da Demokratien nicht die Kapazitäten hätten, hochkomplexe und drängende Umweltprobleme zu lösen.
In diesem Beitrag wird die Genese des Nachhaltigkeitsdiskurses in der bundesdeutschen Demokratie in ihren internationalen Kontexten seit den 1970er Jahren ausgeleuchtet: Wie etablierte sich das Leitbild nachhaltige Entwicklung, von wem wurde der Begriff mit welchen Wertvorstellungen und Zielsetzungen aufgeladen, und mit welchen demokratischen Praktiken verband sich dies?
"Grenzen des Wachstums"
Um 1970 veränderten sich in den westlichen Industriegesellschaften die Wahrnehmungen von Mensch und Natur grundlegend.
Für die Verbreitung ökologischer Wachstumskritik und die Begriffsschöpfung des Nachhaltigen spielte die Studie "The Limits to Growth" ("Die Grenzen des Wachstums") eine zentrale Rolle.
Die Studie löste eine wissenschaftliche und politische Debatte über die Endlichkeit der Ressourcen und die ökologischen Folgen industriellen Wachstums aus.
Auch und gerade in der Bundesrepublik waren Zukunftsforscher und Intellektuelle – von Carl Friedrich von Weizsäcker bis Robert Jungk – vom Computermodell und der Studie beeindruckt. Ebenso entfaltete sie Wirkung auf Teile der regierenden SPD, deren Reformbegeisterung 1972 bereits zu kippen begann und die offen für neue Leitbilder war. Vor allem Erhard Eppler, Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, eignete sich die Wachstumskritik an. In der Folge bildete er den Kern eines ökologisch orientierten Flügels in der SPD. Eppler sprach indes nicht von Wachstumsverzicht, sondern von einem qualitativen Wachstumsbegriff, der neben ökonomischen auch ökologische und soziale Kriterien berücksichtigte. Ein – gar autoritär durchgesetztes – Nullwachstum wurde mit Blick auf Arbeitsplätze in der SPD nicht ernsthaft diskutiert. Nur ganz wenige Konservative wie der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl griffen die Thesen vom autoritativen Wachstumsverzicht auf. Insofern setzte sich trotz aller Debatten um die Studie der Begriff eines "sustainable world system" nicht durch: Er war politisch nicht vermittlungs- und mehrheitsfähig.
"Nachhaltige Entwicklung"
In der weltwirtschaftlichen Rezession ab 1974 verloren umwelt- und entwicklungspolitische Ziele an Aufmerksamkeit. Indes arbeiteten auf UN-Ebene ExpertInnen an einer "World Conservation Strategy", die globale Umwelt- und Entwicklungsfragen ausgleichen sollte, und prägten 1980 den Begriff "sustainable development".
In der Bundesrepublik griff die SPD den Brundtland-Bericht auf, und auch sie lud ihn mit den Werten Frieden, Sicherheit und globale Gerechtigkeit auf. Die "dauerhafte" Entwicklung, so zunächst Hauffs Übersetzung für sustainable, fand 1989 Eingang in das Berliner Grundsatzprogramm. Im Abschnitt "Frieden in gemeinsamer Sicherheit" propagierte die SPD "dauerhafte Entwicklung" im Sinne des Brundtland-Berichts als Balance langfristiger Umwelt- und gegenwärtiger Entwicklungsinteressen in der Nord-Süd-Politik.
Seit 1982 in der Opposition, sah sich die SPD als Partei der ArbeitnehmerInnen besonders herausgefordert von der Sockelarbeitslosigkeit und dem Wandel zur industriellen Dienstleistungsgesellschaft. Ein programmatischer Anker war für einen Flügel der Partei deshalb die Thematisierung globaler Umwelt- und Entwicklungsfragen: Damit konnte die SPD eigene Leitwerte – Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit – auf die globale Ebene heben und an ihre erfolgreiche Neue Ostpolitik anknüpfen. Der idealistische Bezug auf den Brundtland-Bericht rivalisierte mit einer pragmatischeren Position der SPD-Bundestagsfraktion, die im Programm "Arbeit und Umwelt" beschäftigungspolitische Chancen durch Umweltschutz betonte. Pilotprojekte zur Markteinführung umweltverbessernder Produktionsverfahren sollten über einen "Umweltpfennig" auf Strom, Benzin und Diesel, Heizöl und Erdgas finanziert werden. Das Programm atmete den Geist ökologischer Modernisierung, eines technologieaffinen Konzepts, das einen ökologisch-ökonomischen Doppelnutzen durch effiziente Nutzung von Rohstoffen und Energieträgern versprach.
In der Union setzte sich der Bezug auf eine "zukunftsverträgliche" Entwicklung – so eine Übersetzung des Brundtland-Berichts – erst nach dem Ende des Kalten Krieges durch. In CDU/CSU-geführten Bundesministerien fürchtete man zunächst, die Brundtland-Kommission werde sich "hauptsächlich mit Transferforderungen an die Industrieländer" befassen, die mit Umweltschutz gerechtfertigt würden.
Viele Erwartungen an den Erdgipfel erfüllten sich nicht, doch wurden die nachhaltige Entwicklung und die Änderung nicht-nachhaltiger Produktions- und Konsumptionsweisen im Norden zum Programm globaler Umwelt- und Entwicklungspolitik erklärt. Zudem verabschiedete der Gipfel neben einer Biodiversitäts- eine Klimarahmenkonvention, wobei die CO2-Einsparungsziele nicht fixiert wurden. Weitreichendere Abmachungen torpedierte vor allem die US-Regierung.
Nachhaltigkeit und Partizipation
Bis zur UN-Konferenz von Rio 1992 hatten die meisten deutschen Umweltverbände und die Grünen den Brundtland-Bericht als Elitenprojekt abgelehnt. Sie kritisierten die Orientierung an nachhaltigem Wirtschaftswachstum. Das Prinzip der Balance in der nachhaltigen Entwicklung verdeckte für sie nur die Probleme von Umweltverschmutzung und Armut im Globalen Süden, die dem kapitalistischen Wachstumsprinzip entstammten. Nicht Armut sei Ursache des Abholzens von Wäldern im Süden, sondern die kommerzielle Waldnutzung durch den Norden.
Indes richteten der Bund Umwelt und Naturschutz (BUND) und der Deutsche Naturschutzring 1991 eine UNCED-Projektstelle ein, um Einfluss auf den Rio-Prozess zu nehmen – unter anderem durch Veranstaltungen vor Ort. Nach der Konferenz griff der BUND die Nachhaltigkeit selbst auf, verband sie im eigenen Sinne mit der Forderung nach Einschränkungen des Konsums in den Industrieländern und postulierte: "Das Zauberwort heißt 'Sustainability'".
Zentrales Ergebnis der Rio-Konferenz war das Aktionsprogramm "Agenda 21": Regierungen waren dadurch aufgefordert, Nachhaltigkeitsstrategien zu beschließen und Verbände und NGOs in nationale Räte einzubeziehen. Die stark auf das Leitbild Nachhaltigkeit setzende rot-grüne Bundesregierung schuf 2001 den Rat für nachhaltige Entwicklung, dessen Vorsitz Hauff übernahm und in dem Verbände und andere zivilgesellschaftliche Akteure vertreten waren. Zudem verlangte die Agenda 21, dass "sustainable development" auf kommunaler Ebene mit Leben gefüllt wird. Damit wurde die nachhaltige Entwicklung Teil einer Glokalisierung – von Akteuren, die global denken und lokal handeln wollten. In Deutschland riefen nicht nur Stadträte und BürgermeisterInnen, sondern auch Protagonisten aus Umweltverbänden und Kirchen Agenda-Prozesse ins Leben, die lokale Umweltfragen (weniger Entwicklungsfragen) aufgriffen.
Globalisierte Welt
Mithin entfaltete der Agenda-Prozess in den 1990er Jahren eine partizipative Dynamik in der Demokratie. 20 Jahre später wuchs die nachhaltigkeitsgetriebene Kritik an der Demokratie. Wie kam dieser Wandel zustande?
Einen ersten Faktor bildete – in den Augen der KritikerInnen – eine Ökonomisierung der Nachhaltigkeit im marktwirtschaftlichen Sinne. Ökonomische Effizienz und Modernität erhielten nun eine mit der Umwelt gleichgewichtige, normative Bedeutung. Hintergrund war die weltwirtschaftliche Liberalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges. Damit ging eine veränderte Deutung von Globalität einher, nämlich als Prozess wirtschaftlicher Globalisierung.
Ein zweiter Faktor für Kritik war die politische Bearbeitung der wissenschaftlich erwiesenen Erderwärmung. Die 1992 in Rio unterzeichnete Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll 1997 institutionalisierten klimapolitische Mechanismen im UN-System. Dann stockte der Prozess. Nationale Interessen dominierten, und eine im idealistischen Sinne gedachte Instanz einer Weltdemokratie, die Umweltziele durchsetzt, existiert nicht. Erst das Übereinkommen von Paris 2015 legte Reduktionsziele fest.
Drittens veränderte sich seit den 2000er Jahren auch die bundesdeutsche Demokratie. Es kann an dieser Stelle nur angedeutet werden, dass das Schwinden von Normalarbeitsverhältnissen in der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft dazu beitrug, Elitenkritik von rechts und links zu schüren. Die sozialen Medien beschleunigten die politische Kommunikation und setzten Parteien unter Druck.
Die Kritik von ExpertInnen und Intellektuellen an der politischen Ökonomisierung der Nachhaltigkeit und der politischen Bearbeitung des Klimawandels äußert sich unter anderem in scharfen Stellungnahmen, in denen auch enttäuschte Erwartungen sichtbar werden. Die "nachhaltige Globalisierung" durch die Weltbank und die bundesdeutsche Politik sei der "Kitt des neoliberalen Scherbenhaufens". Nachhaltige Entwicklung werde immer weniger kritisch auf dominante gesellschaftliche und politische "Kräfteverhältnisse" bezogen, diene einer ökologischen Modernisierung etablierter Institutionen und werde "technokratisch ‚von oben‘ gedacht".
Da für die Abwendung des gefährlichen Klimawandels nicht mehr viel Zeit zur Verfügung sei, forderten der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und andere eine "Modernisierung der Demokratie": NGOs und soziale Bewegungen sollten ein weitreichendes legislatives Konsultationsrecht erhalten, ferner solle ein aus WissenschaftlerInnen besetzter "Rat der Weisen" als eigenständig legitimierte Vorschlagskammer agieren, um in einem "deliberativen Wissensregime" Parlamente unter Begründungszwang zu setzen und das Gespräch mit Laien zu führen.
Warb Leggewie für eine Demokratisierung der Demokratie, wurde an anderer Stelle eine Spannung zwischen liberaler Demokratie und Nachhaltigkeit diagnostiziert: Die liberale Demokratie externalisiere ökologische und soziale Kosten in andere Weltregionen oder auf spätere Generationen. Demokratische Strukturen seien "möglicherweise grundsätzlich ungeeignet (…), um die Umweltkrise in den Griff zu bekommen". Die "postdemokratisch gewendete Demokratie" werde eine "Politik der Nicht-Nachhaltigkeit" fortsetzen.
Fazit
Die liberale Demokratie ist unter Druck geraten. Sie wird mit einem vieldimensionalen Leitbild der Nachhaltigkeit konfrontiert – und tendenziell überfordert. Wie gezeigt wurde, verbanden verschiedene Akteure in der deutschen Demokratie den Begriff der nachhaltigen Entwicklung beziehungsweise Nachhaltigkeit seit den 1980er Jahren mit immer neuen Zielvorstellungen und Werten: Frieden und Sicherheit, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, den Geschlechtern und im Nord-Süd-Verhältnis, technische Modernität und Effizienz. Mit der diskursiven Strategie, Nachhaltigkeit zu versprechen, ließen und lassen sich auseinanderstrebende Interessen und Ziele einbinden. Zielkonflikte werden so indes in der politischen Kommunikation verdeckt. In der Demokratie können konkurrierende Interessen verhandelt, aber nicht alle gleichzeitig bedient werden.
Zugleich haben sich die Akteure und Praktiken der Kommunikation von Nachhaltigkeit in der Demokratie verändert. Sie war zunächst Sache von ExpertInnen, die technokratisch argumentierten. Dann wurde sie zum Leitbild in Parteien und Regierungen, das auf die Außenpolitik gerichtet war. Zunächst eignete sich die SPD den Begriffszusammenhang aus internationalen Bezügen an und trug ihn in die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Im Rio-Prozess avancierte nachhaltige Entwicklung zu einem Instrument partizipativer Forderungen und Praktiken von unten. Damit führte der Nachhaltigkeitsdiskurs auch zu mehr Partizipation in der Demokratie. Dennoch machten zivilgesellschaftliche Mitbestimmungswünsche die Partizipation und Repräsentation in modernen Demokratien zeitaufwändiger. Mehr responsiveness der Regierungen erschwert tendenziell die längerfristige Verantwortlichkeit der Politik