Um aus dem historischen Teufelskreis von Desaster und Demütigung herauszufinden, braucht Russland eine „Entputinisierung“. Aber wie? Reflexionen von Michail Schischkin, der russische Gegenwartsautor lebt heute in der Schweiz.
Die zerbombten ukrainischen Städte und die Kinderleichen werden im russischen Fernsehen nicht gezeigt. Die mutigen jungen Leute in Russland, die gegen den Krieg protestieren, werden verprügelt und verhaftet. Die meisten schweigen, es gibt keine Massenproteste, keine Streiks. Und es tut weh zu sehen, dass viele meiner Mitbürger den Krieg gegen die Ukraine unterstützen: Sie kleben das Kriegsemblem «Z» auf Fensterscheiben bei sich zu Hause und auf ihre Autos.
Das Fernsehen zeigt jetzt fast in Endlosschlaufe das Interview mit dem berühmten Schauspieler Sergei Bodrow, einer Kultfigur in Russland: « Während des Krieges kann man nicht schlecht über seine eigenen Leute sprechen. Auch wenn sie falschliegen. Selbst wenn dein Land während des Krieges falschliegt, solltest du nicht schlecht darüber reden.» Und das funktioniert, man will die «eigenen Leute» unterstützen, auch wenn sie auf die Ukrainer schießen.
Ein Riss zwischen den Kulturen
Die moderne Menschheit und den größten Teil der Russen trennt eine Revolution, die wichtigste Revolution der Menschheit: der Übergang von der Vorherrschaft des kollektiven Bewusstseins zum Primat des individuellen. Jahrtausendelang identifizierte man sich mit dem Stamm und sah sich vom Rudelführer, dem Häuptling, Khan oder Zar vollkommen abhängig. Erst vor wenigen Jahrhunderten begann eine grundsätzlich andere menschliche Gesellschaftsordnung zu entstehen, in welcher der Einzelne frei ist.
Bevor die Verfassung der USA, die mit den Worten «We the People» beginnt, geschrieben werden konnte, musste eine neue Spezies von Menschen entstehen, die sich ihrer menschlichen Würde bewusst sind. Die riesige zivilisatorische Lücke zwischen den beiden Kulturen hat sich bis jetzt nicht überbrücken lassen. Darin besteht das Drama Russlands und der Russen: Nur ein kleiner Teil meiner Landsleute ist für das Leben in einer demokratischen Gesellschaftsordnung bereit, die überwältigende Mehrheit jedoch kniet noch vor der Macht und findet sich mit der allgemeinen Bevormundung ab.
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Ob es je zu einem russischen Kniefall in Kiew, Charkiw, Warschau, Budapest, Prag, Tallinn, Vilnius, Riga und Grosny kommen wird?
Wenn im Verlauf von Generationen alle ausgemerzt werden, die selbständig denken, wenn es ums nackte Leben geht, setzen sich einzig jene Qualitäten durch, die das Überleben sichern: schweigen, Zufriedenheit mit der Obrigkeit mimen. Aber kann man Menschen solches vorwerfen, wenn dies die einzige Überlebensstrategie war? Und noch immer ist und bleibt? Was passiert denn mit denen, die nicht länger schweigen wollen? Sie werden verhaftet und kommen ins Gefängnis – oder sie müssen emigrieren, solange es noch nicht zu spät ist.
Bereits zwei Versuche, eine demokratische Gesellschaftsordnung in Russland einzuführen, scheiterten. Die erste russische Demokratie von 1917 dauerte nur einige Monate lang. Die zweite in den 1990er-Jahren hielt mit Müh und Not einige Jahre durch. Jedes Mal, wenn mein Land versucht, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, Wahlen, ein Parlament und eine Republik einzuführen, findet es sich in einem totalitären Imperium wieder.
Schuld anerkennen
Wie ist es denn: Eine Diktatur gebiert ein Sklavenvolk, oder ein Sklavenvolk treibt eine Diktatur hervor? Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei. Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Wo soll der russische Neuanfang beginnen?
Nach dem Sturz Hitlers und des Nationalsozialismus hat Deutschland aus dem Teufelskreis von Diktatur und Untertanengeist herausgefunden. Warum schafft Russland das nicht? Die Deutschen haben ihre Lektion in Schuldbekenntnis und Vergangenheitsaufarbeitung tüchtig gelernt und es geschafft, nach 1945 eine demokratisch orientierte Gesellschaft aufzubauen. Allerdings basierte die Neugeburt der Nation auf der totalen Kriegsniederlage. Auch Russland braucht eine solche Stunde null. Ohne die Anerkennung eigener nationaler Schuld nach innen wie nach außen ist kein demokratischer Neubeginn möglich.
Es gab niemals eine vollständige Entstalinisierung Russlands , und es gab nach 1991 keinen Nürnberger Prozess für die Kommunistische Partei. Heute hängt das weitere Schicksal Russlands von der «Entputinisierung» ab. Der «von nichts wissenden» deutschen Bevölkerung wurden 1945 die Konzentrationslager gezeigt, ebenso sollte man den «nicht wissenden» Russen die zerstörten ukrainischen Städte und die Leichen von Frauen und Kindern zeigen. Wir, die Russen, müssen unsere Schuld offen und mutig anerkennen und um Vergebung bitten. Dieser kollektive Weg ist unvermeidlich. Ob es je zu einem russischen Kniefall in Kiew, Charkiw, Warschau, Budapest, Prag, Tallinn, Vilnius, Riga und Grosny kommen wird?
Die Deutschen versuchten sich 1945 zu rechtfertigen: Ja, gewiss, Hitler war ein übler Verbrecher, umgeben von Bösewichten, aber wir, das deutsche Volk, waren nicht wirklich im Bild, wir waren genauso Hitlers Opfer wie andere. Eine Entputinisierung wird in dem Moment scheitern, da die Russen sich dieses Argumentationsmusters bedienen: Putin und seine kriminelle Bande hätten das Volk zur Geisel genommen, ja Putin habe einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine geführt, aber wir, die einfachen Russen, seien belogen worden und hätten gedacht, dass es um die Befreiung der Ukrainer vom Faschismus gehe. Wir seien genauso Opfer Putins wie andere. Das wird der Startschuss für einen neuen Putin sein.
Der Zerfall wird kommen
Georg Büchner schrieb 1834 in einem Brief an seine Braut: «Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?» Solange nicht jeder Russe diese Frage für sich selber gestellt und beantwortet hat, ist dem Land der Weg in die Zukunft versperrt. Die «wichtigste Revolution der Menschheit» kann in Russland nur beschleunigt werden, wenn bei dessen Einwohnern die Einsicht wächst, dass die Verantwortung für alles nicht «oben», sondern bei einem selber liegt.
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Die Fliehkraft der Völker im letzten Imperium der Welt wird nicht nur eine zerstörerische, sondern auch eine reinigende und heilende Kraft haben.
Nach dem Krieg wird die Ukraine mithilfe der ganzen Welt schnell wiederaufgebaut werden. Russland dagegen wird wirtschaftlich in Trümmern liegen bleiben. Der Zerfall des Imperiums wird sich mit voller Wucht fortsetzen. Den Tschetschenen werden andere Völker und weitere Regionen in die Unabhängigkeit folgen. Die Russische Föderation hört auf zu existieren.
Doch die Fliehkraft der Völker im letzten Imperium der Welt wird nicht nur eine zerstörerische, sondern auch eine reinigende und heilende Kraft haben. Der sich abzeichnende Zerfall wird schmerzhaft sein, aber zugleich einen unentbehrlichen Schritt auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie darstellen. Das russische Bewusstsein muss akzeptieren lernen, dass es mehrere Staaten geben wird, in denen Russisch eine staatlich anerkannte Sprache darstellt. Der imperiale Gedanke muss aus den Köpfen und Seelen wie ein bösartiger Tumor entfernt werden. Erst wenn diese Operation erfolgreich durchgeführt ist, können sich in dem neuen Staat Reformen entfalten und durchsetzen.
Weder die Nato noch die Ukraine können für Russland die Entputinisierung durchführen. Die russische Bevölkerung muss dies selber machen. Ist mein Volk dieser Aufgabe gewachsen? Ist es realistisch zu glauben, dass auf den Territorien, die sich von der Moskauer Zentrale lösen werden, demokratische Rechtsstaaten entstehen?
Wer soll das leisten?
Jugoslawien hat gezeigt, wie schnell es innerhalb eines multiethnischen und multireligiösen Staates zu brutalsten Kriegen und ethnischen Säuberungen kommen kann. Wenn die Gewalt eskalierte, würde das Russland wieder um Jahrhunderte zurückwerfen. Und für den Westen würde es neue riesige Flüchtlingsströme bedeuten. Es erwarten uns in der nächsten Zeit Wirren in einem Land, in dem demokratische Ideen bei der breiten Masse der Menschen in Verruf gebracht wurden und die Bevölkerung es gewohnt ist, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf einen starken Mann zu setzen. Ein solcher wird sich sicherlich finden, und am Ende wird auch der Westen mit gewissem Verständnis und zu seiner Entlastung eine neue «Diktatur der Ordnung» akzeptieren. Niemand wünscht sich eine chaotische Zukunft für ein Land, das Tausende von Atomraketen besitzt.
Um ein Horrorszenario zu verhindern, braucht es die bewusste Anstrengung der ganzen russischen Bevölkerung, den gemeinsamen Willen, mit der Putinschen Vergangenheit zu brechen. Aber kann sich eine Demokratie ohne eine kritische Masse von aufgeklärten Bürgern, ohne eine freiheitliche innere Reife etablieren? In den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg könnte dies möglich sein.
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Eine Bevölkerung, die seit Jahrhunderten auf den gütigen Zaren hofft, kann man nicht innert kurzer Zeit zu mündigen Wählern formen.
«Das schöne Russland der Zukunft» (Wahlspruch von Alexei Nawalny) muss unbedingt mit freien Wahlen beginnen. Doch wer wird diese durchführen und nach welchen Regeln? Dieselben Zehntausende verängstigter Lehrer und Lehrerinnen, die bei den bisherigen «Wahlen» die Fälschungen durchführten? Und wie kann man sicher sein, dass bei wirklich freien Wahlen in Russland der «Landesverräter» von der demokratischen Opposition gewinnt und nicht der «Patriot», der gegen die «ukrainischen Faschisten» gekämpft hat? Eine Bevölkerung, die seit Jahrhunderten auf den gütigen Zaren hofft, kann man nicht innert kurzer Zeit zu mündigen Wählern formen. Und wer wird demokratische Reformen durchsetzen? Es darf nicht sein, dass beim Aufbau des neuen Staates Beamte zugelassen werden, die unter Putin korrupt und kriminell waren. Und, mit Verlaub, das waren sie alle!
Die Welt verlangt nach einem russischen «Externer Link: Nürnberg». Doch wer in Russland wird diese Prozesse organisieren und durchführen? Wer soll die Herkulesarbeit der Aufarbeitung der Vergangenheit leisten? Wer kann die Verbrechen aufdecken und die Schuldigen bestrafen? Die Verbrecher selber?
Man kann zwar Putin absetzen und ersetzen, was aber fängt man mit einer Million korrupter Beamter, käuflicher Polizisten und willfähriger Richter an? Es gibt niemanden anders als sie. Die Bevölkerung meines Landes ist nicht einfach ersetzbar.
Und doch gibt es für Russland keinen anderen Weg als eine lange, schmerzhafte Wiedergeburt. Und all die Sanktionen, die Armut, die Verstoßenheit werden auf diesem Weg nicht das Schlimmste sein. Viel schrecklicher wäre es, wenn es zu keiner inneren Neugeburt des russischen Volkes käme. Wladimir Putin ist ein Symptom und nicht die Krankheit.
Der Autor, Michail Schischkin beziehungsweise Mikhail Shishkin, ist 1961 in Moskau geboren und gehört zu den führenden russischen Gegenwartsautoren. Er lebt seit 1995 in der Schweiz. Zuletzt erschien 2017 «Tote Seelen, lebende Nasen. Eine Einführung in die russische Kulturgeschichte. Ein multimediales Digitalbuch». Sein Text über Vladimir Putin und den Ukrainekrieg wurde am 13.3.2022 erstveröffentlicht in der NZZ und dem Deutschland Archiv von Autor und Verlag für diese Serie zur Verfügung gestellt.
Zitierweise: Michael Schischkin,"Hoffen auf die Stunde Null – und einen russischen „Nürnberger Prozess", in: Deutschland Archiv, 17.3.2022, www.bpb.de/506276.
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