Afrozensus
Intersektionale Analysen zu Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland
Joshua Kwesi Aikins Teresa Bremberger Daniel Gyamerah Muna AnNisa Aikins
/ 17 Minuten zu lesen
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Der Afrozensus, die erste umfassende Studie zu Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Lebensrealitäten in Deutschland, zeichnet Muster des Anti-Schwarzen Rassismus nach und zeigt, wie diese in verschiedenen Lebensbereichen zusammenwirken.
"Black Lives Matter – Schwarze Leben zählen!" – unter diesem Motto gingen auch in Deutschland 2020 tausende Menschen auf die Straße. In Medien und Politik wurde wochenlang über Rassismus diskutiert. Schnell etablierten sich jedoch bekannte Muster: Schwarze Menschen wurden aufgefordert, von persönlichen Rassismuserfahrungen zu berichten. Im öffentlichen Diskurs gab es aber wenig Bereitschaft, die darin sichtbar werdenden Muster von Anti-Schwarzem Rassismus (ASR) sowie dessen Einbettung in institutionelle und strukturelle Verhältnisse in Deutschland anzuerkennen, geschweige denn, den Fokus auf notwendige institutionelle Veränderungen zu legen.
Die beständige Reinszenierung immer gleicher Fragen erzeugte innerhalb der Schwarzen Communities vielfach den Eindruck einer bekannten, kräftezehrenden Dynamik: Am Ende der Debatten stehen meist allgemeine Appelle und Bekundungen, in denen Anti-Schwarzer Rassismus meist nicht einmal mehr benannt wird. In krassem Kontrast dazu steht der Handlungsbedarf zur Sicherung von Menschenrechten, Grundfreiheiten und der Menschenwürde von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen, die in Deutschland weit verbreitetem Rassismus ausgesetzt sind.
Die gemeinsame Reflexion von Anti-Schwarzem Rassismus ist zwar schon lange Bestandteil Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Wissenspraxen, dennoch fehlte bisher eine empirische Diskussionsgrundlage mit differenzierten Daten, obwohl weit mehr als eine Million Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland leben und die Bundesregierung diese neben Sinti*zze und Rom*nja, Jüdinnen und Juden sowie Muslim*innen als eine von vier Gruppen benennt, die in Deutschland in besonderer Weise von Rassismus betroffen sind.
Der Afrozensus, eine Onlineerhebung zu Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland, soll das ändern: Im Sommer 2020 nahmen knapp 6000 Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen an einer Befragung zu ihren Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen, zu Anti-Schwarzem Rassismus, aber auch zu ihrem Engagement und ihrem Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen teil. Diese Daten lenken den Blick auf das Ausmaß, die Muster und die Folgen der Diskriminierungserfahrungen und machen in den Erfahrungen Einzelner die institutionelle und strukturelle Verankerung des Anti-Schwarzen Rassismus in Deutschland sichtbar. Für Schwarze Menschen ist wegen der häufigen Leugnung der Existenz von ASR die Validierung der eigenen Diskriminierungserfahrung von besonderer Bedeutung.
Anti-Schwarzer Rassismus
In der Onlinebefragung des Afrozensus wurde Anti-Schwarzer Rassismus wie folgt definiert: "Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) ist eine spezifische Form des Rassismus und hat in Europa und Deutschland seit der Zeit der Versklavung Tradition. Bei ASR handelt es sich um eine spezifische Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassistische Diskriminierung von Schwarzen Menschen afrikanischer Herkunft. Ungeachtet der Realität von Diskriminierung oder Hierarchisierung nach ‚Hautschattierung‘ (Colorism), ist ASR nicht auf Diskriminierung in Bezug auf die ‚Hautfarbe‘ reduzierbar, da spezifische Dynamiken bei Anti-Schwarzer Diskriminierung existieren und diese von Menschen afrikanischer Herkunft mit unterschiedlichen ‚Hauttönen‘ erlebt werden." Diese Definition basiert auf theoretischen und historischen Arbeiten zu ASR sowie auf einem seit Generationen transnational geteilten und für unterschiedliche Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Erfahrungen in Deutschland und der Welt ausdifferenzierten Erfahrungswissen. Auf Basis dieser Definition identifiziert der Afrozensus zentrale Muster des ASR. Die quantitative Onlinebefragung sowie die qualitative Vertiefung der Analyse durch Interviews und Fokusgruppen in den Bereichen Gesundheit und Bildung ermöglichen eine empirische Überprüfung und Präzisierung der Wirkungsweise dieser Muster.
Sowohl die Vertiefung der Themenbereiche Gesundheit und Bildung als auch die auf Alltagssituationen basierende Abfrage von ASR-Mustern sind aus Konsultationen mit Vertreter*innen Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Communities in Deutschland entstanden – dieses Vorgehen verweist ebenso wie die Durchführung des Afrozensus durch die Selbstorganisation Each One Teach One (EOTO) in Zusammenarbeit mit Citizens For Europe (CFE) auf eine in Deutschland in dieser Form – und mit diesem Methodenmix – neue, communities-basierte und zivilgesellschaftlich verankerte Forschung. Diese war vor dem Hintergrund historischer und gegenwärtiger Erfahrungen wichtig, um das Vertrauen der Mitwirkenden zu gewinnen – Schwarze Menschen waren im Afrozensus-Projekt nicht die passiven Objekte einer vornehmlich weißen Forschungsperspektive, sondern die Subjekte einer Wissensproduktion, die Fragestellungen auf die Bedarfe der Communities fokussiert.
Methoden und Stichprobendemografie
Der Afrozensus besteht aus einer quantitativen Online-Befragung sowie qualitativen Interviews und Fokusgruppengesprächen. Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland waren per Selbstidentifikation zur Teilnahme an der Online-Befragung in deutscher, englischer und französischer Sprache eingeladen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Da es keine genauen Erkenntnisse über die Größe dieser Gruppe in Deutschland gibt – und aufgrund historischer Erfahrungen mit dem Missbrauch von Forschungsdaten für rassistische Diskriminierung –, handelt es sich um eine eher versteckte und nur schwer zu erreichende Grundgesamtheit. In Verbindung mit forschungsökonomischen Faktoren macht dies eine völlig zufällige Stichprobenziehung unmöglich. Wir haben daher ein Schneeball-Sampling-Verfahren angewendet. Mit Hilfe von EOTO und weiteren, insbesondere Schwarzen Selbstorganisationen und Unterstützer*innen haben wir dazu aufgerufen, sich auf der Projektwebsite für eine Teilnahme anzumelden.
Insgesamt sind die Antworten von 5793 Teilnehmenden in die Analyse eingegangen. Aufgrund der Corona-Pandemie konnten Menschen vor Ort, etwa in Geflüchtetenunterkünften, Afroshops, Kirchen, Moscheen und anderen Treffpunkten nicht persönlich angesprochen werden – die Beteiligung einiger Teilgruppen ist daher geringer ausgefallen als erhofft.
Die Stichprobendemografie zeigt, dass wir im Afrozensus häufiger cis-weibliche Befragte mit überdurchschnittlichen Bildungsabschlüssen erreicht haben, die in Relation zum Durchschnitt aller Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund in Deutschland etwas älter sind und ein höheres Einkommen haben. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind sie jedoch im Durchschnitt jünger und verdienen weniger. Die Befragten sind in 144 unterschiedlichen Ländern geboren, der Großteil jedoch in Deutschland (71,0 Prozent). Etwa ein Viertel der Befragten hat statistisch gesehen keinen Migrationshintergrund, gehört aber zur Gruppe Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, in Befragungen nicht nur nach dem Migrationshintergrund zu fragen, um eine Unsichtbarmachung zu vermeiden.
Ergebnisse
Die Teilnehmenden wurden zu Diskriminierungserfahrungen in 14 Lebensbereichen befragt. Dabei werden einerseits Unterschiede in den Erfahrungen verschiedener Teilgruppen deutlich. Andererseits erlebt selbst im Bereich mit der geringsten Diskriminierungserfahrung (Banken und Versicherungen) immer noch fast die Hälfte der dazu Befragten (46,8 Prozent) Diskriminierung. Am häufigsten mit jeweils mehr als 85 Prozent geben die Befragten an, in den vergangenen beiden Jahren in den Bereichen "Öffentlichkeit und Freizeit", "Medien und Internet", "Geschäfte und Dienstleistungen" und "Arbeitsleben" diskriminiert worden zu sein. Die Angabe, "sehr häufig" diskriminiert worden zu sein, machen die meisten Befragten in den Lebensbereichen "Medien und Internet" (24,4 Prozent), "Wohnungsmarkt" (17,5 Prozent) und "Polizei" (16,2 Prozent).
Die Befragten sollten zunächst angeben, mit welchen der 14 Lebensbereiche sie in den vergangenen beiden Jahren Kontakt hatten. Im Anschluss konnten sie angeben, ob beziehungsweise wie häufig auf einer 5er-Skala von "nie" bis "sehr häufig" sie Diskriminierung erlebt haben. Gaben die Befragten an, in einem Lebensbereich diskriminiert worden zu sein, konnten sie aus einer Liste von 22 Diskriminierungsmerkmalen auswählen. Mehrfachantworten waren dabei möglich.
In der Analyse werden über alle Lebensbereiche hinweg für Diskriminierungen am häufigsten rassistische Gründe oder "ethnische Herkunft" (93,9 Prozent) und Hautfarbe (91,5 Prozent) genannt, gefolgt von den Merkmalen Geschlecht (52,5 Prozent), Name (44,8 Prozent), Haare/Bart (38,1 Prozent) und sozialer Status (33,5 Prozent). Auffällig ist, dass sich die Rangfolge der am häufigsten genannten Diskriminierungsmerkmale je nach Teilgruppen verändert. So nimmt beispielsweise das Merkmal "Geschlecht" bei Cis-Frauen (Rang 3) einen deutlich höheren Rang ein als bei Cis-Männern (Rang 11). Obwohl die Befragten an dieser Stelle der Umfrage noch allgemein nach ihren Diskriminierungserfahrungen und nicht explizit nach Rassismuserfahrungen gefragt wurden, spielt rassistische Diskriminierung schon hier eine relevante Rolle. Die Verschränkungen mit zahlreichen weiteren Diskriminierungsmerkmalen wie etwa Geschlecht und sozialer Status bis hin zum Körpergewicht spiegeln die Bedeutung intersektionaler Diskriminierungserfahrungen.
97,3 Prozent der Afrozensus-Befragten geben an, dass sie persönlich ASR erleben, fast die Hälfte (42,9 Prozent) "oft" oder "sehr häufig". ASR wirkt spezifisch über wiederkehrende Mechanismen. Dabei werden häufig Ideen von einer angeblich "wesenhaften Andersartigkeit" Schwarzer Menschen mobilisiert: 99,1 Prozent der Befragten berichten davon, gefragt worden zu sein, wo sie wirklich herkommen, wobei geographische Antworten häufig so lange nicht zufriedenstellen, wie die Fragenden davon ausgehen, dass die genannten Orte mehrheitlich von weißen Menschen bewohnt werden. 78,6 Prozent sind schon mindestens einmal aufgefordert worden, "dahin zurückzukehren wo sie hergekommen sind". Dieses Muster der Fremdverortung spricht Schwarzen Menschen die Zugehörigkeit zu Deutschland ab, was sich in Äußerungen bis hin zu Abschiebe- und Deportationsfantasien als Teil rassistischer Beleidigungen und Übergriffe zeigt.
Mit dem Überschreiten persönlicher geht häufig auch ein Überschreiten körperlicher Grenzen einher: 90,4 Prozent der Befragten geben an, dass ihnen ungefragt in die Haare gegriffen wird. Hier werden Ideen von der Verfügbarkeit Schwarzer Körper wirkmächtig. In diesem Zusammenhang ist auch die Sexualisierung Schwarzer Menschen eine häufige Erfahrung. Insgesamt geben fast 80 Prozent an, auf Dating-Apps sexualisierte Kommentare bezüglich ihres Aussehens beziehungsweise ihrer "Herkunft" zu erhalten.
Auch die Kriminalisierung ist eine geteilte Erfahrung. Über 56 Prozent geben an, gefragt zu werden, ob sie Drogen verkaufen, und ebenfalls über 56 Prozent bekunden, ohne erkennbaren Grund von der Polizei kontrolliert zu werden.
In den Daten zeigen sich darüber hinaus Mechanismen wie die Aberkennung von Kompetenzen, die Entindividualisierung und die Homogenisierung Schwarzer Menschen. Diese sind insbesondere in den Fokusgruppeninterviews für die Bereiche Gesundheit und Bildung thematisiert worden. So benennen etwa Schwarze Ärzt*innen die Muster der Fremdmachung, die ihnen in den Bereichen Forschung, Diagnostik, Versorgungsstrukturen und auch bereits in der Ausbildung und Qualifizierung begegnen. Sie beschreiben intersektionale Diskriminierung, in der sich Rassismus, Sexismus und Klassismus überschneiden: "(…) da gibt es irgendwie so einen Knick in der Logik für ganz viele Leute, die können es [Schwarz sein/Afrikanisch sein und ein Medizinstudium] irgendwie schwer zusammenbringen und dann halt kommen immer (…) noch so Classicism dazu, (…) das haben mich total viele im Studium immer gefragt, ‚du musst adoptiert sein‘, das können die gar nicht verstehen." Dies setzt sich im Arbeitsalltag fort, wenn Schwarze Ärzt*innen routiniert für Krankenpfleger*innen oder das Reinigungspersonal gehalten werden. In diesem Zusammenhang beobachten sie auch, dass die Aberkennung von Fachlichkeit nach Zuschreibungen zu Sprache und afrikanischer Herkunft so nuanciert wird, dass etwa togolesische oder kenianische Kolleg*innen noch einmal deutlich andere Diskriminierungserfahrungen machen als afrodeutsche, in Deutschland sozialisierte Ärzt*innen mit einem weißen Elternteil.
Intersektionale Analyse
Auf Basis der unterschiedlichen Vielfaltsdimensionen, die für den Afrozensus mithilfe der soziodemografischen Angaben der Befragten operationalisiert wurden, war es uns möglich, für die verschiedenen Lebensbereiche und für in Communities-Konsultationen entwickelte Situationsbeschreibungen zu konkreten Ausprägungen von Anti-Schwarzem Rassismus Teilgruppenanalysen durchzuführen. Dabei haben wir untersucht, zwischen welchen Teilgruppen (zum Beispiel Cis-Frauen, Cis-Männern und TIN*-Befragten ) einer Vielfaltsdimension (etwa Geschlechteridentität(en)) sich signifikante Unterschiede in den Angaben zu Diskriminierungserfahrungen feststellen lassen. Die differenzierte Erfassung von ASR im Erleben von Teilgruppen ermöglicht es, differenzierte Gefährdungsprofile herauszuarbeiten, die unterschiedliche Schutzbedürfnisse sichtbar werden lassen. Es zeigt sich, dass in den meisten Fällen gesellschaftlich tendenziell deprivilegierte Teilgruppen signifikant häufiger angeben, diskriminiert worden zu sein, als die gesellschaftlich tendenziell privilegierten Teilgruppen.
Auf diese Weise differenzieren und ergänzen die Afrozensus-Daten den Wissensstand zu Diskriminierungsrealitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen um Einblicke in spezifische Effekte der Mehrfachdiskriminierung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen. Diese sind zum Beispiel neben und in Verschränkung mit den bekannten Diskriminierungsdynamiken im deutschen Bildungssystem, die etwa Menschen mit Beeinträchtigung und mit einem niedrigen Einkommen benachteiligen, von weiteren Diskriminierungsformen betroffen, wobei sich alle dargestellten Formen mit Anti-Schwarzem Rassismus verschränken.
Eine Teilgruppe, die sich als besonders gefährdet herausgestellt hat, sind Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen. Die Operationalisierung dieser Teilgruppe gründete auf unserer Vermutung, dass Schwarze Menschen im Kontext von ASR nach zugeschriebenen phänotypischen und kulturellen "afrikanischen" Merkmalen hierarchisiert, bewertet und diskriminiert werden. Je "afrikanischer" eine Person wahrgenommen wird, desto intensiver ist ihre ASR-Erfahrung. Diese Vermutung wird über fast alle Lebensbereiche hinweg bestätigt: In 12 von 14 Lebensbereichen geben Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen signifikant häufiger an, in den vergangenen beiden Jahren diskriminiert worden zu sein, als Befragte mit einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil.
Über die Hälfte der Befragten mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen (57,7 Prozent) geben an, dass ihnen in der Schule davon abgeraten wurde, Abitur zu machen, und stattdessen geraten wurde, einen Ausbildungsberuf zu erlernen oder im Bereich Sport und Entertainment zu arbeiten. Bei Befragten mit nur einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil war das nur bei knapp der Hälfte der Fall.
Dieses Muster und die Intensivierung von ASR über eine Nähe zu zugeschriebenen "afrikanischen" Merkmalen bestätigt sich ebenfalls in der vertieften qualitativen Analyse der Studie, in der unter anderem Ärzt*innen und Eltern von Kindergarten- und Schulkindern diese Dynamiken beschreiben. Die größten Unterschiede in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen zwischen Befragten mit einem und solchen mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen finden sich in den Lebensbereichen "Wohnungsmarkt", "Ämter und Behörden" und "Sicherheitspersonal". Lediglich im Bereich Privatleben geben Befragte mit einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil häufiger an, Diskriminierung zu erleben als Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen. Der Unterschied ist signifikant. Gestützt auf die Antworten auf die offenen Fragen der Analyse vermuten wir, dass Schwarze Menschen mit einem weißen oder People-of-Color-Elternteil auch durch eigene Familienmitglieder im Privatleben vermehrt rassistische Diskriminierung erleben.
Weitere Abweichungen vom Muster, dass die gesellschaftlich eher deprivilegierte Teilgruppe häufiger von Diskriminierung berichtet als die privilegierte Teilgruppe, zeigen sich in den Ergebnissen zur Teilgruppenanalyse der Vielfaltsdimension "Geschlechteridentität(en)". So geben in den Lebensbereichen "Wohnungsmarkt", "Polizei", "Sicherheitspersonal" sowie "Geschäfte und Dienstleistungen" cis-männliche Befragte signifikant häufiger als cis-weibliche Befragte an, Diskriminierung erlebt zu haben. Dies verdeutlicht, warum wir prinzipiell und vor allem im Kontext von Anti-Schwarzem Rassismus von tendenziell gesellschaftlich deprivilegierten und privilegierten Gruppen sprechen: Schwarze Cis-Frauen sind in vielen der abgefragten Bereiche zwar gegenüber Schwarzen Cis-Männern benachteiligt – gleichzeitig ergeben sich durch die Intersektion von rassistischer und sexistischer Diskriminierung für Schwarze Männer in bestimmten Kontexten Diskriminierungsdynamiken, die sie gegenüber Schwarzen Cis-Frauen benachteiligen.
Besonders deutlich wird das im Kontakt mit der Polizei. Insgesamt geben mehr als die Hälfte der Afrozensus-Befragten (56,7 Prozent) an, bereits ohne für sie erkennbaren Grund von der Polizei kontrolliert worden zu sein. Cis-Männer geben mit 78,0 Prozent signifikant häufiger an, von der Polizei kontrolliert zu werden als Cis-Frauen (47,9 Prozent).
Dieses Ergebnis bestätigt das ASR-Muster von angeblicher Kriminalität, das vor allem bei der Diskriminierung von Schwarzen Männern in Form von Racial Profiling zum Tragen kommt. 63,3 Prozent der befragten Personen, die sich als trans*, inter* oder non-binär identifizieren, werden regelmäßig von der Polizei kontrolliert, sie geben signifikant am häufigsten an, Polizeigewalt zu erleben. 58,3 Prozent von ihnen sind von Polizeigewalt betroffen, bei Cis-Männern und -Frauen sind es 45,6 und 27,3 Prozent.
Die Erfahrungen Schwarzer Menschen mit der Polizei unterscheiden sich grundlegend von den Erfahrungen der Gesamtbevölkerung: Zwar liegen bisher keine vergleichenden Daten für Diskriminierung im direkten Kontakt mit der Polizei vor, ein erster Hinweis könnte allerdings die Frage nach dem Vertrauen in die Polizei sein: Während in der Gesamtbevölkerung nur 2 Prozent "gar kein Vertrauen" in die Polizei haben, sind es unter Afrozensus-Befragten mehr als ein Viertel (28,0 Prozent). Darüber hinaus gibt fast die Hälfte der Befragten an, in den vergangenen beiden Jahren den Kontakt zur Polizei aus Angst vor Diskriminierung gemieden zu haben.
Leugnung von Rassismus
Die Bagatellisierung und Ableugnung von ASR ist eine Erfahrung, die viele Befragte teilen: Fast alle Befragten (93,3 Prozent) geben an, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie Rassismus ansprechen.
Zudem erleben viele Befragte, wenn sie Diskriminierung melden, einen unsachgemäßen oder gar diskriminierenden Umgang damit. Das hat zur Folge, dass viele Befragte Institutionen oder Lebensbereiche meiden, um sich vor Diskriminierung zu schützen.
Aus diesen Angaben und den in der qualitativen Analyse vertieften Betrachtungen der Umgangsweisen mit ASR konnten wir das Dilemma identifizieren, mit dem sich die Befragten konfrontiert sehen: Das Ansprechen oder Melden von ASR kann Ableugnung oder sogar weitere und verstärkte rassistische Diskriminierung zur Folge haben. Wenn ASR jedoch nicht angesprochen wird, ist klar, dass die Betroffenen – und potenziell viele andere nach ihnen – im jeweiligen Kontext weiterhin ASR ausgesetzt sein werden. Die Tatsache, dass 45,7 Prozent der Befragten angeben, die Polizei zu meiden, während 22,3 Prozent die Justiz und 21,4 Prozent Ämter und Behörden meiden, dokumentiert die gravierende Einschränkung von gesellschaftlicher Teilhabe als eine Folge von Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland. Ein Teilnehmer beschreibt folgende Situation: "Ich wurde, ohne erkennbaren Grund, extrem aggressiv von Türstehern aus [einer] Studi-Party geschmissen und getreten. Die Anzeige bei der Polizei wurde am Ende für mich gefährlich, da ich eine Gegenanzeige bekam, der nach Aussage der Polizei eher geglaubt [werden würde] vor Gericht. Als Hauptproblem meiner Anzeige benannte der Polizist, dass ich erwähnte, dass ich die Vermutung hatte, dass die Situation aufgrund rassistischer Vorurteile (ich als Schwarzer Mann als besonders gefährlich wahrgenommen) so eskaliert ist. Im Anschluss wurde mir von einem Chirurgen noch gesagt, dass er es nicht mehr hören kann, dieses ’Rassismus’[-Thema]. Ich solle einfach eingestehen, dass ich daran Schuld habe."
Die Erfahrung, dass auf Meldungen entsprechender Vorfälle unsachgemäß reagiert wird, ist eine naheliegende Erklärung dafür, weshalb 77,8 Prozent der Befragten Diskriminierung nicht melden. Dies ist jedoch nicht mit einem rein passiven Umgang gleichzusetzen. Denn gleichzeitig sind die Befragten überdurchschnittlich engagiert, etwa in der Empowermentarbeit: 46,8 Prozent geben an, ehrenamtlich aktiv zu sein, die meisten davon im sozialen Bereich. Damit liegt die Engagement-Quote unter den Teilnehmenden deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Handlungsempfehlungen an Politik, Verwaltung und Communities
Vor diesem Hintergrund wird der dringende Handlungsbedarf zur gezielten Zurückdrängung von ASR und zur Etablierung eines angemessenen Umgangs mit Rassismus deutlich. Daher haben wir im Afrozensus auf Basis der erhobenen Daten und der qualitativen Analysen detaillierte Handlungsempfehlungen zusammengestellt, die sich sowohl an Politik und Verwaltungen in Bund und Ländern als auch an Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Selbstorganisationen richten.
Eine zentrale Handlungsempfehlung zielt auf die Professionalisierung des Umganges mit Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland: Anstelle der Leugnung des Problems und der Wahrnehmung der gemeldeten Fälle als Anschuldigungen müssen Beschwerdestellen und Verfahren treten, die ASR kompetent und mit einem Verständnis für dessen strukturelle Einbettung und Intersektionalität untersuchen und bearbeiten.
Zur Anerkennung der Realität von ASR und einem professionellen Umgang damit gehört zudem das Ausarbeiten einer Definition, die Eingang in Verwaltungshandeln findet, ASR in seiner Spezifik fasst und Politik und Verwaltungen dazu befähigt, präventiv, aber auch ahndend tätig zu werden. Die im Afrozensus vorgelegte Definition und die empirisch herausgearbeiteten ASR-Muster können dafür ein Anhaltspunkt sein.
Aufgrund der gesellschaftlichen Verankerung des ASR muss auch dessen Zurückdrängung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, sie kann nicht in der alleinigen Verantwortung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen liegen. ASR muss zu einem Problem derer werden, die ihn ausüben, und darf nicht länger vornehmlich mit denen assoziiert werden, die ihn erleben. Gleichzeitig ist die wichtige Arbeit von Selbstorganisationen aus rassismuserfahrenen Gemeinschaften anzuerkennen und zu stärken, da auch im Afrozensus Aktivitäten von Schwarzen Menschen selbst als diejenigen benannt werden, die Anti-Schwarzen Rassismus am effektivsten vermindern. Communities-basierte Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit sind daher zentrale Bausteine der Zurückdrängung von ASR, die entsprechende Anerkennung und Unterstützung verdienen sowie einer gezielten und langfristigen Förderung bedürfen. Dafür sind substanzielle Aktionspläne notwendig, die durch eine unabhängige Expert*innenkommission flankiert werden sollten. Zur Schließung der Schutzlücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), insbesondere in den Bereichen Bildung und Polizei, gehört zudem die (Weiter-)Entwicklung von Landesantidiskriminierungsgesetzen sowie des AGG zu einem Bundesantidiskriminierungsgesetz, das auch bei Diskriminierung durch staatliche Stellen Anwendung findet. Die Stärkung der Antidiskriminierungsinfrastruktur insgesamt, etwa durch unabhängige Beschwerdestellen mit ASR-Fachkompetenz, muss die genannten Maßnahmen flankieren.
Für Selbstorganisationen bieten die Afrozensus-Daten eine Gelegenheit, ihre wichtige Arbeit für Betroffene von intersektional intensiviertem ASR zu vertiefen. Die Tatsache, dass der erste Afrozensus im Jahr 2020 von zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführt wurde, verweist auf die Notwendigkeit der Etablierung von universitären Departments für Schwarze Studien/Black Studies – in Deutschland gibt es bisher kein einziges.
Der Afrozensus selbst kann nur der Anfang weiterer Forschung zur Lebenssituation Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland sein. Er wurde ausführlich in den Medien rezipiert und hat Diskussionen in Sozialverbänden, in Politik und Verwaltung sowie in den vielfältigen Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Selbstorganisationen angestoßen. Nun gilt es, die Einblicke interdisziplinär – und ausgehend von Schwarzen kollektiven Erfahrungen und Wissenstraditionen – weiter zu vertiefen. Der Afrozensus ist technisch so angelegt, dass Folgebefragungen möglich sind, um die Entwicklung der Perspektiven, Erfahrungen, Verhältnisse und Einschätzungen der Beteiligten im Zeitverlauf betrachten zu können. Sollte sich diese Möglichkeit eröffnen, verweisen die Ergebnisse des Afrozensus auf Kernthemen, die wir in einer Folgebefragung fokussieren würden: Im Auswertungsprozess wurde immer wieder deutlich, wie wichtig die Resilienz der Befragten, aber auch Empowermentaktivitäten von und für die Communities sind. Resilienz- und Empowermentstrategien wären daher Schwerpunkte für eine zweite Runde des Afrozensus.
Der Afrozensus ist im Volltext unter www.afro- zensus.de/reports/2020 verfügbar, die Creative Commons Lizenz (CC-BY-NC) für Text und Grafiken ermöglicht die Verwendung der Analyse in der Presse, in Lehre, Forschung und der politischen Bildung sowie der Advocacy Arbeit.
ist Politikwissenschaftler und gehört als Senior Researcher bei Citizens For Europe zum Kernteam des Afrozensus. Er ist außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Kassel.
ist Sozialwissenschaftlerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Citizens For Europe und war zuvor bei EOTO e.V. als eine der Projektleiterinnen im Afrozensus tätig.
ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler. Er ist Bereichsleiter bei Citizens For Europe und ehrenamtlich im Vorstand von EOTO e.V. tätig.
ist Sozialwissenschaftlerin und Dozentin mit dem Schwerpunkt auf Menschenrechten und leitet bei EOTO e.V. die Praxisforschung im Kompetenzzentrum Anti-Schwarzer Rassismus (KomPAD).
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