Die offene Staatlichkeit des Grundgesetzes
Von Anfang an zielte das Grundgesetz auf eine enge Einbindung der Bundesrepublik in die europäische Staatengemeinschaft. Die Präambel proklamierte den Willen des deutschen Volkes, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Und Art. 24 Abs. 1 ermächtigte dazu, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Damit befasste sich das Grundgesetz als eine der ersten Verfassungen Europas mit einer fortgeschrittenen Form der internationalen Zusammenarbeit, bei der "supranationale" Einrichtungen Hoheitsgewalt auf dem Gebiet ihrer Mitgliedstaaten ausüben. Ihre Maßnahmen sind dort ohne staatliche Umsetzungsakte unmittelbar rechtlich bindend. Wegen dieser Öffnung des Staates für fremde Hoheitsgewalt wurde schon früh von der "offenen Staatlichkeit" des Grundgesetzes gesprochen.
Zunächst beteiligte sich die Bundesrepublik gestützt auf Art. 24 Abs. 1 an der europäischen Integration. Im Jahr 1992 wurde mit dem neuen Artikel 23 eine speziellere Grundlage geschaffen. Dieser erklärt die Verwirklichung eines vereinten Europas zum Staatsziel. Er erteilt den Verfassungsauftrag, bei der Entwicklung einer Europäischen Union mitzuwirken, die den "demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet". Artikel 23 regelt zudem Verfahren und Grenzen der deutschen Beteiligung an den Reformen der Union sowie die Grundzüge der Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat in den Angelegenheiten der Union.
Die supranationale europäische Integration
Die europäische Integration beruht bis heute auf dem von Jean Monnet und Robert Schuman im Jahr 1950 entwickelten Konzept einer langsamen, prozesshaften Integration auf dem Wege einer immer intensiveren und umfangreicheren supranationalen Zusammenarbeit. Das Wort "supranational" bedeutet aber nicht, dass die Europäische Union hierarchisch über den Mitgliedstaaten stände. Es steht lediglich für eine staatenübergreifende Erfüllung öffentlicher Aufgaben und Ausübung öffentlicher Gewalt, die im geographischen Sinne eine höhere als die nationale Ebene betrifft. Sie erfolgt in erster Linie durch den Erlass von supranationalem, das heißt staatenübergreifend geltendem Recht.
Die supranationale ist eine schonende aber komplizierte Form der Integration. Die Europäische Union bleibt ein völkerrechtlicher Verband, bis sie - vielleicht - eines Tages durch einen neuen Vertrag in einen europäischen Bundesstaat umgewandelt wird. Innerhalb der EU behalten die Mitgliedstaaten formal ihren Status als Staaten im Sinne des Völkerrechts und damit ihre uneingeschränkte Souveränität, unterliegen aber weitgehenden rechtlichen Bindungen. Die Union ist existenziell darauf angewiesen, dass ihr Recht in allen Mitgliedstaaten einheitlich gilt und angewendet wird. Nur so kann sie ihre Aufgaben erfüllen und im gemeinsamen Wirtschaftsraum gleiche Bedingungen schaffen. In der marktwirtschaftlich ausgerichteten Union können schon kleine Abweichungen in einzelnen Mitgliedstaaten schwere Wettbewerbsverzerrungen verursachen, die das gesamte Integrationsprojekt in Frage stellen.
Der Vorrang des Europarechts - auch vor dem Grundgesetz
Schon 1964 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass europäisches Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat. 1970 stellte er klar, dass dies auch gegenüber dem Verfassungsrecht gilt. Der Vorrang auch vor den nationalen Verfassungen ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass das Europarecht einheitlich gelten und angewendet werden und damit effektiv wirken kann. Da die Verfassungen der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sind, kann sich die Europäische Union ihnen nur sehr begrenzt anpassen. Praktisch bedeutet das vor allem: Das Recht der Union untersteht nicht den nationalen Grundrechten, sondern muss selbst für einen angemessenen - europäischen - Grundrechtsschutz sorgen. Divergenzen können zur Folge haben, dass staatliche Behörden bei der Ausführung von Unionsrecht nationale Grundrechte missachten müssen. Da europäisches und nationales Recht verschiedene Rechtsordnungen bilden, werden die verdrängten nationalen Vorschriften allerdings nicht nichtig, sie werden lediglich nicht angewendet. Dieser Anwendungsvorrang ist eine Spielregel der supranationalen Integration, die jeder, der mitspielen will, akzeptieren muss.
Das ist nicht unproblematisch: Im souveränen Verfassungsstaat bildet stets die Verfassung die höchste Rechtsquelle; dies ist eine der Grundideen moderner Verfassungsstaatlichkeit. Auch ein Anwendungsvorrang des Europarechts vor der Verfassung ist daher nur möglich, wenn die Verfassung ihn erlaubt bzw. sich dies aus ihr herauslesen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies für das Grundgesetz schon 1971 angenommen. Es konnte sich dabei auf den innovativen Art. 24 Abs. 1 stützen.
2000 entschied der Europäische Gerichtshof, dass ein Grundgesetzartikel nicht mehr angewendet werden durfte, der Frauen in der Bundeswehr vom Dienst mit der Waffe ausschloss. Der Artikel wurde daraufhin geändert und verbietet heute nur noch, dass Frauen zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden. Solche Anpassungen und Modernisierungen des Verfassungsrechts bringt die supranationale europäische Integration zwangsläufig mit sich.
Die Grenzen des Vorranges - keine Eingriffe in die Verfassungsidentität
Aber schon bald stellte sich die Frage nach den Grenzen des Vorranges des Europarechts. Darf die Beteiligung an der europäischen Integration bis zur faktischen Aufgabe der verfassungsrechtlichen Ordnung gehen? Was ist mit den unverletzlichen Menschenrechten, der unantastbaren Menschenwürde, den Grundprinzipien der Verfassung? 1973 stellte der italienische Verfassungsgerichtshof klar: Er werde die italienische Zustimmung zu den Gründungsverträgen der Gemeinschaften auch nachträglich für verfassungswidrig erklären, sollten jemals Rechtsakte der Gemeinschaften grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung oder unveräußerliche Rechte des Menschen verletzen. Das Bundesverfassungsgericht formulierte 1974 und 1986 einen ähnlichen Vorbehalt. Demnach ermächtigt die Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten nicht dazu, "die Identität der geltenden Verfassungsordnung ... durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben". Diese mehrfach bekräftigte Auffassung hat sich auch bei den Verfassungsgerichten anderer Mitgliedstaaten als vorherrschende (aber nicht einhellige) Position durchgesetzt.
Heute lässt sich festhalten: Die europäische Integration darf nicht zu Eingriffen in die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten führen. Es dürfen keine tragenden Grundwerte und Leitideen berührt werden, die zum Kern der Verfassung gehören. Für das Grundgesetz sind dies die Unantastbarkeit der Menschenwürde einschließlich des grundsätzlichen effektiven Schutzes der Grundrechte, die Grundsätze der Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sowie die Bundesstaatlichkeit. Im Einzelnen sind viele Fragen offen. Möglichen Konflikten beugt das Unionsrecht heute allerdings vor - mit einer eigenen Grundrechtecharta, einer europäischen Grundwerteklausel und einem Grundsatz der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, "die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen ... zum Ausdruck kommt".
Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassungsidentität und Gegenspieler des Europäischen Gerichtshofes
Das Bundesverfassungsgericht befasste sich in einigen seiner wichtigsten Entscheidungen mit der europäischen Integration. Da der Text des Grundgesetzes nur an wenigen Stellen auf die Integration eingeht, spielte das staatsphilosophische Vorverständnis der Richter die entscheidende Rolle. Das Gericht leistete dabei einerseits wertvolle Pionierarbeit aber verunsicherte andererseits auch durch einen Schlingerkurs zwischen Integrationsoffenheit und Misstrauen. Insbesondere bleibt sein Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof unklar: Sieht es sich und den EuGH als Weggefährten in einem rechtsstaatlich geordneten Integrationsprozess? Oder betrachtet es den EuGH als Gegenspieler in einem Machtkampf? Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Fragen der Integration begegnet nicht der gewohnten hohen Akzeptanz, sondern stößt vor allem in der Wissenschaft auf eine breitere, schärfere und grundsätzlichere Kritik [siehe dazu: Externer Link: Nachweise in der Literaturübersicht (C.I. - C.III.) bei Schmitz, Rechtsprechung zur europäischen Integration, 2010 (Internetkompendium)]
Der Schutz der Grundrechte in der Integration
1974 erklärte das Gericht in der "Solange I"-Entscheidung, es werde selbst die Grundrechte des Grundgesetzes schützen, solange das Gemeinschaftsrecht keinen von einem Parlament beschlossenen Grundrechtskatalog enthalte, der dem Grundgesetz adäquat sei. Und zwar, indem es über die Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht in der Bundesrepublik entscheide. Damit reagierte es wie vor ihm die italienischen Kollegen auf den damals unzureichenden Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht. Nachdem der Europäische Gerichtshof diesen Schutz ausgebaut hatte, kehrte es seinen Vorbehalt 1986 in der "Solange II"-Entscheidung um: Solange die Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs, generell einen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleisteten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen im Wesentlichen gleichzuachten sei, werde das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben. 1993 wollte es im Maastricht-Urteil den Gerichtshof in einem "Kooperationsverhältnis" quasi seiner Aufsicht unterstellen, kehrte aber 2000 zu der in den meisten Mitgliedstaaten favorisierten "Solange II"-Position zurück. Heute ist unter der Grundrechtecharta der Union eine Intervention nicht mehr zu erwarten.
Das letzte Wort zu den Kompetenzen der Union
Nach den Gründungsverträgen obliegt die Durchsetzung der Grenzen der Kompetenzen der Union allein dem Europäischen Gerichtshof. Als sich dessen Rechtsprechung als tendenziell unionsfreundlich erwies, kündigte das Bundesverfassungsgericht 1993 im Maastricht-Urteil an, künftige europäische Rechtsakte im Einzelfall selbst zu überprüfen. Die Verträge unterschieden zwischen Vertragsauslegung und -erweiterung, und zu letzterer seien die Gemeinschaftsorgane nicht befugt. Dies löste in der Wissenschaft eine heftige Debatte über die Rolle des Verfassungsgerichts aus: Ist es ein Fachgericht für Verfassungsfragen oder der oberste Hüter der Rechtsstaatlichkeit? Der Dänische Oberste Gerichtshof und das polnische Verfassungsgericht schlossen sich 1998 bzw. 2005 der Position der deutschen Richter an, während der französische Verfassungsrat 2004 erklärte, ohne einen ausdrücklichen Vorbehalt in der Verfassung sei die Kompetenzkontrolle allein Aufgabe der Unionsgerichtsbarkeit.
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte seine Haltung 2009 im Lissabon-Urteil. Neben die allgemein anerkannte Kontrolle auf Wahrung der Verfassungsidentität Deutschlands ("Identitätskontrolle") soll eine "Ultra-vires-Kontrolle" treten: also die Kontrolle, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen vom zugrunde liegenden Vertragswerk gedeckt sind. Im Gegensatz zu den dänischen und polnischen Kollegen beanspruchte das Bundesverfassungsgericht dieses Recht exklusiv für sich. Ein "Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit" soll es nicht ihm, aber den anderen deutschen Gerichten verwehren, sich über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes hinwegzusetzen.
Demokratie in der Integration
Das Grundgesetz fordert Demokratie auch in der Integration. Die Europäische Union muss demokratisch ausgestaltet sein und die Beteiligung an der Integration darf nicht das demokratische Leben in der Bundesrepublik aushöhlen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Maastricht-Urteil keine Bedenken gegen die schwache Stellung des Europäischen Parlamentes und die Machtkonzentration bei dem von den Regierungen kontrollierten Rat: Im "Staatenverbund" Europäische Union erfolge die demokratische Legitimierung zuvörderst durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten über die nationalen Parlamente und die von diesen gewählten Regierungen. Das Europäische Parlament spiele eine zwar zunehmende aber eben nur ergänzende Rolle. Das Lissabon-Urteil hielt an dieser Linie ungeachtet der umfangreichen Kritik in der Wissenschaft fest. Auch mit dem Vertrag von Lissabon entsteht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kein europäisches Unionsvolk im Sinne eines Staatsvolkes, welches die Völker der Mitgliedstaaten als Quellen der demokratischen Legitimation ersetze. Für die Richter bleibt das Europäische Parlament damit eine Vertretung von 27 Staatsvölkern. Das Gericht setzte sich nicht mit der Möglichkeit auseinander, dass die Bürger der Mitgliedstaaten als Bürger der Union eine eigene Gemeinschaft bilden könnten, die auch ohne Staatsvolk zu sein, die erforderliche Legitimation spenden kann.
Das hat Konsequenzen. Im Europäischen Parlament haben die kleinen Staaten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl mehr Sitze als die großen und die Stimmen ihrer Bürger haben dementsprechend ein (bis zum Zwölffachen) größeres Gewicht. Dies widerspricht der Gleichheit der Wahl, die gleiche Erfolgschancen für die Stimmen aller Bürger fordert. Das Bundesverfassungsgericht arbeitete zwar heraus, wie schwerwiegend dieses demokratische Defizit ist und dass sich im Europäischen Parlament kein europäischer Mehrheitswille (ab)bilden kann, der etwa eine europäische Regierung tragen könnte. Dennoch nahm es das Defizit in Kauf: Die demokratische Grundregel der gleichen Erfolgschancen bei der Wahl soll nur innerhalb eines Volkes, nicht aber in dem Vertretungsorgan der 27 Völker der Mitgliedstaaten gelten.
Begrenzte Einzelermächtigung und Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat
Das Grundgesetz erlaubt die Übertragung einzelner, fest umrissener Kompetenzen, aber keine unbestimmten Generalermächtigungen oder die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz (der politischen Entscheidungsbefugnis darüber, wem welche Kompetenz zusteht). Das Bundesverfassungsgericht kritisierte deswegen einige Regelungen im Vertrag von Lissabon, die dem Rat oder Europäischen Rat begrenzte einstimmige Veränderungen des Vertragsrechts ohne Ratifizierung in den Mitgliedstaaten erlauben. Zur Ratifizierung des Vertrages verlangte es ein Begleitgesetz, nach welchem die Bundesregierung solchen Entscheidungen nur bei einer gesetzlichen Ermächtigung zustimmen darf, die denselben Anforderungen wie für die Übertragung von Hoheitsrechten genügt. Dies soll sicherstellen, dass Bundestag und Bundesrat ihre innerstaatliche Integrationsverantwortung wahrnehmen. Praktisch werden die betreffenden Regelungen damit einseitig für Deutschland außer Kraft gesetzt.
Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten
Nach dem Lissabon-Urteil setzt das Demokratieprinzip der Übertragung von Hoheitsrechten Grenzen. In den Mitgliedstaaten muss ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Das Bundesverfassungsgericht nannte eine Vielzahl von Materien, die zu den "wesentlichen Bereichen [staatlicher] demokratischer Gestaltung" gehören sollen: das Staatsbürgerschaftsrecht, das Strafrecht, der Einsatz von Polizei und Streitkräften, fiskalische Grundentscheidungen, wesentliche sozial-politische Entscheidungen und kulturell besonders bedeutende Entscheidungen, etwa zur Sprache, zum Schul- und Bildungssystem und zum Familienrecht. Das Gericht zeigte damit erstmals Grenzen der supranationalen Integration auf, die sich nur durch die Gründung eines europäischen Bundesstaates überwinden lassen. Die neuen Kompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon halten sich nach der Auffassung der Richter nur bei restriktiver Auslegung und zurückhaltender Ausübung in diesen Grenzen.
Das tschechische und lettische Verfassungsgericht erklärten ebenfalls, dass die Verfassung der Übertragung von Hoheitsrechten Grenzen setze, erachteten dies aber beim Vertrag von Lissabon nicht für problematisch. Die lettischen Richter standen Kompetenzübertragungen grundsätzlich positiver gegenüber. Die tschechischen Richter betonten, es sei für das Verfassungsgericht nicht möglich, einen Katalog unübertragbarer Kompetenzen im Voraus festzulegen. Diese Grenzen zu spezifizieren, obliege in erster Linie dem Verfassungsgesetzgeber.
Das Grundgesetz, das Bundesverfassungsgericht und die Grenzen der supranationalen Integration
Das Lissabon-Urteil erweckt den Eindruck, dass das Grundgesetz kaum noch weitere Integrationsschritte erlaubt. Doch zieht wirklich das Grundgesetz diese Grenzen oder ist es ein staatsphilosophisches Vorverständnis, das seine Auslegung bestimmt? Das Lissabon-Urteil entspricht eher einem Staatsverständnis des 19. als des 21. Jahrhunderts. Das hat es zur meistumstrittenen Entscheidung in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gemacht [siehe dazu: Externer Link: Nachweise in der Literaturübersicht (C.II.) bei Schmitz, Rechtsprechung zur europäischen Integration, 2010 (Internetkompendium)]. Die Europarechtswissenschaft lehnt es nahezu einhellig, die Staatsrechtslehre weit überwiegend ab. Die Lissabon-Urteile anderer Verfassungsgerichte zeigten eine andere Perspektive oder bezogen sogar Gegenposition. Bei dieser Lage ist nicht davon auszugehen, dass ausgerechnet dies die letzte Wendung im jahrzehntelangen Schlingerkurs zwischen Integrationsoffenheit und Misstrauen (s.o.) bleiben wird.
Allerdings ist das Lissabon-Urteil differenziert zu würdigen. Es erinnerte auch an Missstände in der Europäischen Union, die seit langem bekannt aber auch mit dem Vertrag von Lissabon nicht behoben worden waren. Im Übrigen richtete sich die Kritik des Bundesverfassungsgerichts nicht gegen die europäische Einigung an sich, sondern die weit fortgeschrittene supranationale Form der Integration. Das Gericht rief eine Alternative in Erinnerung, mit der sich die Grenzen der supranationalen Integration demokratie- und freiheitswahrend in den Bahnen freiheitlich-demokratischer Verfassungsstaatlichkeit überwinden lassen: die Gründung eines europäischen Bundesstaates.
Literatur
Armin Hatje; Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.): Grundgesetz und europäische Integration. Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2010
Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS): Ausgabe 4/2009 (Beiträge zum Lissabon-Urteil)