Konkurrenz und Kontrolle: horizontale Gewaltenteilung
Josef Braml
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Das politische System der USA kennzeichnet auf einzel- wie gesamtstaatlicher Ebene eine horizontale Machtkontrolle. Legislative, Exekutive und Judikative konkurrieren und kontrollieren einander.
Der zentrale Unterschied zwischen dem US-amerikanischen (präsidentiellen) System der checks and balances und parlamentarischen Regierungssystemen wie dem der Bundesrepublik Deutschland liegt in der unterschiedlichen Beziehung zwischen Legislative und Exekutive begründet. Anders als der US-Präsident, der durch einen landesweiten Wahlakt persönlich gewählt wird und damit eine eigene Legitimation beanspruchen kann, wird die deutsche Kanzlerin oder der deutsche Kanzler mittelbar von der Mehrheit im Bundestag, dem deutschen Parlament, gewählt. Auch in der politischen Auseinandersetzung muss die Spitze der deutschen Exekutive darauf vertrauen können, dass ihre politischen Initiativen von ihrer Fraktion bzw. Koalition im Bundestag mitgetragen werden. Die Stabilität sowohl der Regierung, also der Exekutive, als auch jene der Parlamentsmehrheit, also der Legislative, hängt von einer engen und vertrauensvollen Kommunikationsbeziehung zwischen beiden ab. Diese "Gewaltenverschränkung" charakterisiert parlamentarische Regierungssysteme.
Legislative und Exekutive sind im politischen System der USA nicht nur durch verschiedene Wahlakte stärker voneinander "getrennt". Das System der checks and balances ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass die politischen Gewalten miteinander konkurrieren und sich gegenseitig kontrollieren. Der US-amerikanische Kongress übernimmt somit nicht automatisch die politische Agenda der Exekutive/des Präsidenten, selbst wenn im Fall des unified government das Weiße Haus (Sitz des Präsidenten) und Capitol Hill (Sitz des Kongresses) von der gleichen Partei "regiert" werden. Noch weniger ist dies der Fall, wenn bei einem divided government Präsident und Kongress von unterschiedlichen Parteien "kontrolliert" werden.
Während im US-System die Legislative als Ganzes mit der Exekutive um Machtbefugnisse konkurriert, ist "Opposition" im parlamentarischen System auf die Minderheit im Parlament beschränkt, die nicht die Regierung trägt. Insbesondere für die Regierungspartei/-koalition sind Partei- bzw. Fraktionsdisziplin grundlegend erforderlich, um die Funktionsfähigkeit der eigenen Regierung, ja des parlamentarischen Regierungssystems insgesamt zu gewährleisten. Da Exekutive und Parlamentsmehrheit in einer politischen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, haben einzelne Abgeordnete ein Eigeninteresse, bei wichtigen Abstimmungen nicht von der Parteilinie abzuweichen und sich der Fraktionsdisziplin zu fügen. Wahlverfahren, Parteienfinanzierung, Kandidatenrekrutierung und die hohe Arbeitsteilung im Parlament geben weitere Anreize für parteidiszipliniertes Verhalten.
Dagegen ist in den USA die politische Zukunft einzelner Abgeordneter bzw. Senatorinnen und Senatoren weitgehend unabhängig von der des Präsidenten; ihre (Wieder-)Wahlchancen hängen vorrangig vom Rückhalt im eigenen Wahlkreis bzw. Einzelstaat ab. Aufgrund des Wahlsystems und der Politikfinanzierung sind sie als "politische Einzelunternehmer" (political entrepreneurs) in den USA primär selbst für ihre Wiederwahl verantwortlich und haften gegebenenfalls auch persönlich für ihr Abstimmungsverhalten im Kongress, weil sie gegenüber Interessengruppen und Wählerschaft nicht die Notwendigkeit zur Befolgung einer Parteidisziplin geltend machen können. Den US-Parteien fehlen in der legislativen Auseinandersetzung Ressourcen und Sanktionsmechanismen, um den Gesetzgebungsprozess im Sinne einer Parteidisziplin zu gestalten.
Die Legislative und ihre Befugnisse sind in der US-Verfassung – noch vor dem Präsidenten und dessen Aufgaben – an erster Stelle angeführt. Artikel I, Absatz 1 bestimmt: "Die gesetzgebende Gewalt ruht im Kongress der Vereinigten Staaten, der aus einem Senat und einem Abgeordnetenhaus besteht." Im Sinne der Verfassungsväter, dargelegt 1788 von James Madison in den Federalist Papers, Nr. 63, galt die Senatskammer seinerzeit schon als "gemäßigte und angesehene Körperschaft von Bürgern" (temperate and respectable body of citizens), die die Verfassungsväter als nötig ansahen, um etwaige von ihnen befürchteten "regelwidrige Leidenschaften" (irregular passions) der Abgeordneten der zweiten Kammer zu zügeln.
Senat und Repräsentantenhaus …
Der Statusunterschied zwischen beiden ist enorm: Ein Senator vertritt einen ganzen Bundesstaat, sein Bekanntheitsgrad ist dementsprechend viel größer. Seine längere Amtszeit von sechs Jahren und Exklusivrechte in der Gesetzgebung (zum Beispiel die Blockademöglichkeit des filibuster), mithilfe derer er den ganzen Gesetzgebungsprozess aufhalten kann, verleihen ihm ein größeres Machtpotenzial.
Dagegen repräsentiert ein Abgeordneter nur eine sehr viel kleinere Teileinheit eines Bundesstaates; er muss sich alle zwei Jahre zur Wahl stellen und ist über seinen Wahlkreis hinaus nur wenigen bekannt, es sei denn, er hat eine Führungsposition inne. Mehr noch als im Abgeordnetenhaus in der Hierarchie aufzusteigen, träumen die meisten Abgeordneten insgeheim davon, irgendwann auch einmal Senator zu werden. Hingegen gab es in der Parlamentsgeschichte der USA noch keinen Senator, der nach seinem Ausscheiden aus dem "Oberhaus" (Senat) für das "Unterhaus" (Repräsentanten-/Abgeordnetenhaus) kandidierte.
Ihre unterschiedlichen konstitutionellen Eigenschaften begünstigen die Konkurrenz zwischen den beiden Kammern und bedingen damit eine weitere Form der Gewaltenkontrolle. Ein langjähriger Insider bringt die Rivalität zwischen Repräsentantenhaus (House of Representatives) und Senat (Senate) auf den Punkt: Für Christopher Matthews, den ehemaligen Stabschef des langjährigen Sprechers des Abgeordnetenhauses, Tip O’Neill, existiert eine Art unsichtbare Trennwand zwischen beiden Kammern. Senatorinnen und Senatoren könnten Jahre auf dem Kapitol-Hügel zubringen, ohne je die andere Seite des Kapitols betreten zu haben – wenn es nicht die Reden des Präsidenten zur Lage der Nation (State of the Union) gäbe, zu der sich Senatorinnen und Senatoren und Abgeordnete im Plenum des größeren Abgeordnetenhauses versammeln. Es gäbe keinen anderen wirklich wichtigen Grund, als Senator hinüber zum Abgeordnetenhaus zu gehen. Andererseits würde es ein Abgeordneter aus Angst vor einer Demütigung nie wagen, die ehrwürdigen Hallen des Senats zu betreten.
Doch die Verfassung zwingt beide zur Zusammenarbeit. Damit eine Gesetzesvorlage (bill) dem Präsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt werden kann, muss sie in beiden Kammern in identischer Form verabschiedet werden. Der dafür notwendige intensive Austausch findet häufig über den Mitarbeiterstab (congressional staff) der Senatorinnen und Senatoren sowie Abgeordneten statt; in vielen Fällen auch erst später, in einem ad hoc für eine bestimmte Gesetzesvorlage einberufenen Gremium: Im Vermittlungsausschuss (conference committee) verhandeln dann die von den Parteiführungen beider Kammern bestimmten Vertreterinnen und Vertreter in kleinerer Runde, um einen Kompromiss zu finden.
… bilden den Kongress
Der Kongress ist das zentrale Verfassungsorgan bei der Gesetzgebung – auch wenn die beiden anderen politischen Gewalten mitwirken: der Supreme Court durch die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und der Präsident durch sein Vetorecht. Der Präsident hat zwar selbst kein Initiativrecht und kann nur mittelbar über gleichgesinnte Abgeordnete sowie Senatorinnen und Senatoren Gesetzesvorlagen auf den Weg bringen. Er hat jedoch das "letzte" Wort: Damit eine Vorlage (bill) zum Gesetz (law) wird, ist diese von ihm zu unterzeichnen. Er kann auch auf den laufenden Gesetzgebungsprozess Einfluss nehmen, indem er sein suspensives (aufschiebendes) Veto ausspricht oder damit droht. Denn sein Einspruch kann nur von jeweils einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses überstimmt werden – was sehr selten möglich ist.
Hingegen hat auch die Legislative Möglichkeiten, die ausführende Gewalt zu kontrollieren, sprich oversight auszuüben: Bei schweren Verfehlungen, sogenannten high crimes and misdemeanors, kann der Senat (nach Aufnahme eines Verfahrens durch das Abgeordnetenhaus) sogar den Präsidenten seines Amtes entheben (impeachment). Völkerrechtlich bindende Vertragsunterzeichnungen des Präsidenten gelten erst, wenn sie vom Senat ratifiziert worden sind. Der Senat muss ferner präsidentiellen Personalernennungen für höhere Ämter wie Richter, Botschafter, Minister und weitere Spitzenbeamte zustimmen.
Zwar kann der Präsident den Rat und die Zustimmung (advice and consent) des Senats umgehen, indem er Kandidierende außerhalb der Sitzungsperiode, das heißt über ein recess appointment, ernennt. Doch deren Amtszeiten enden dann mit der jeweiligen Legislaturperiode, und sie bekommen bei ihrer Amtsausübung den Unmut der Senatorinnen und Senatoren zu spüren. Denn das wirksamste politische Kontrollmittel ist die Macht der Geldbörse (power of the purse), das heißt, der Kongress muss bzw. darf die Haushaltsmittel insbesondere auch jene für Exekutivorgane bewilligen. Nicht nur bei der alljährlichen Haushaltsbewilligung, sondern ebenso bei budgetrelevanten Gesetzen geht es auch um die institutionelle Kraftprobe zwischen dem Weißen Haus und Capitol Hill, dem Sitz des Parlaments.
Die unterschiedlichen Wahlzyklen des Präsidenten und des Kongresses ermöglichen unter Umständen eine weitere Facette der Machtkontrolle, nämlich eine "geteilte Regierung". Die Regierungskonstellation des divided government liegt dann vor, wenn die Partei, die den Amtsinhaber im Weißen Haus stellt, nicht über Mehrheiten im Kongress verfügt. Während der Präsident im Falle eines unified government (Amtsinhaber und Kongressmehrheit gehören derselben Partei an) im Sprecher des Abgeordnetenhauses (speaker of the house) einen Verbündeten hat, der ihm hilft, Mehrheiten für seine politischen Initiativen zu organisieren, ist dieser im Falle des divided government sein schärfster Widersacher.
Zwar verfügt der Sprecher des Abgeordnetenhauses wegen der fehlenden Partei- und Fraktionsdisziplin nicht über die enormen Sanktionsmittel, die ein Fraktionschef in einem parlamentarischen Regierungssystem wie in Deutschland hat. Der US-Präsident kann sich mit entsprechenden Hilfen für die Wahlkreise oder Einzelstaaten der umworbenen Abgeordneten bzw. Senatorinnen und Senatoren sogar Kongressmitglieder der anderen Partei "kaufen".
Doch hat auch der speaker Mittel zur Verfügung, um die Mehrheit seiner Parteifreunde auf Linie zu halten: Er kann die für Interessengruppen und deren Zuwendungen besonders attraktiven Vorsitzenden von Ausschüssen und Unterausschüssen bestimmen, er kann über einen Verfahrensausschuss, das rules committee, regeln, ob und in welchen Ausschüssen bzw. Unterausschüssen ein Gesetz behandelt wird, und er kann festlegen, inwieweit Änderungsanträge (amendments) zulässig sind und welche Prozeduren dabei zu erfolgen haben. Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses gibt dem Sprecher also wirksame Machtinstrumente an die Hand.
Erheblich schwieriger ist es, den Senat zu führen. In dieser Kammer kann ein einziger Senator mit Dauerreden, einem sogenannten filibuster, den Geschäftsbetrieb aufhalten – solange ihm nicht eine qualifizierte Dreifünftelmehrheit von mindestens 60 Senatorinnen und Senatoren den Mund verbietet. "To invoke cloture" lautet das Manöver, um ein filibuster abzuwenden. Seitdem die Demokraten im November 2013 mit ihrer einfachen Mehrheit kurzerhand die Geschäftsordnung des Senats veränderten – sich für die von den Republikanern wegen der weitreichenden Konsequenzen für die zukünftige Kooperation so genannte "nukleare Option" entschieden –, können Blockademanöver bei Personalbenennungen nunmehr bereits mit einer einfachen Mehrheit aufgehoben werden. Im April 2017 nutzten die Republikaner dann wiederum ihre Senatsmehrheit, um die Kontrollmöglichkeit des filibuster auch bei Nominierungen für das Oberste Gericht auszuhebeln.
Ausgenommen bleibt jedoch das normale Gesetzgebungsverfahren. Hier sind weiterhin 60 Stimmen nötig, um eine Blockade aufzuheben. Deshalb gilt es im Senat, Anreize zu geben, um möglichst alle 100 Senatorinnen und Senatoren zufriedenzustellen. Die Ausübung von Druck würde hingegen wenig bewirken.
Der Präsident kann also wenig Macht auf die Senatorinnen und Senatoren ausüben, von denen nicht wenige eine Kandidatur für das Präsidentenamt erwägen. Der amtierende Präsident Joe Biden war selbst langjähriger Senator, bevor er nach mehreren Anläufen erfolgreich für die Präsidentschaft kandidierte. Anders als die Legislative in parlamentarischen Regierungssystemen hat der Kongress im politischen System der Vereinigten Staaten allgemein eine sehr starke, institutionell fundierte Machtstellung gegenüber der Exekutive – insbesondere auch durch seine Aufsicht (oversight) und Organisationsgewalt gegenüber der Administration, also dem Verwaltungsapparat des Präsidenten.
QuellentextKongressmitarbeiter und externe Expertise
Die Arbeit der Abgeordneten und Senatoren wäre ohne das Zutun ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (congressional staff) nicht denkbar. Für einen Abgeordneten arbeiten im Schnitt 15 bis 20 Mitarbeiter; manche Senatoren haben gar einen Stab von über 100 Fachkräften. Insbesondere die staffer im Senat verfügen über enorme informelle Machtbefugnisse. Sie wurden von dem Politikwissenschaftler Michael J. Malbin 1980 deshalb auch schon als "Volksvertreter ohne Mandat" (unelected representatives) bezeichnet. Abgeordnete und Senatoren beschäftigen Personal in ihrem Wahlkreis und in Washington. Doch selbst in ihren Parlamentsbüros sind neben der legislativen Arbeit viele Helferinnen und Helfer in der Wahlkreisarbeit (case work) tätig.
Case Worker: Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von ihrem Senator oder Abgeordneten, dass er sich auch um ihre persönlichen Anliegen kümmert. Die für die case work eingeteilten Mitarbeiter helfen etwa bei Problemen mit Rentenbescheiden, Krankenversicherungen, Studienplätzen oder Steuerangelegenheiten.
Legislative Staff: Die legislativen Mitarbeiter bereiten ihren Abgeordneten oder Senator inhaltlich auf Ausschuss- oder Plenumssitzungen vor, schreiben Reden und Pressemitteilungen, verfassen Vorlagen und Änderungsanträge im Gesetzgebungsprozess, bereiten Statements und Fragen für öffentliche Anhörungen vor. Um die Interessenlage vor wichtigen Abstimmungen einschätzen zu können, treffen sie sich mit Regierungsvertretern, Unternehmern, Lobbyisten und Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Professional Staff: Die Vorsitzenden der Ausschüsse und Unterausschüsse, die von der Regierungspartei bestimmt werden, sowie deren Stellvertreter (ranking members) von der Minderheitspartei verfügen darüber hinaus über erfahrene, meist ältere Fachleute, die sogenannten professional staffer, die die inhaltliche Arbeit in den Ausschüssen koordinieren sowie externe Sachverständige, Interessengruppen und Regierungsvertreter zu den öffentlichen Anhörungen (hearings) einladen.
Wissenschaftliche Dienste: Um sich gegen die umfangreiche Expertise des Weißen Hauses und der Regierungsbürokratie zu rüsten, können Senatoren, Abgeordnete und deren Mitarbeiterstab auf sehr professionelle wissenschaftliche Hilfsdienste wie den Congressional Research Service (CRS), das Government Accountability Office (GAO), eine Art Rechnungshof des Kongresses, oder in Haushaltsfragen auf das Congressional Budget Office (CBO) zugreifen.
Externe Ideen- und Personalagenturen: Schließlich leisten auch Expertinnen und Experten politikorientierter Forschungsinstitute, sogenannter Think Tanks, und Professoren an Universitäten Politikberatung. Insbesondere die vom amerikanischen Politikwissenschaftler Kent Weaver so genannten advokatischen Think Tanks (advocacy tanks), die Partei für bestimmte Partikularinteressen oder ein politisches Lager ergreifen, kultivieren seit den 1980er-Jahren intensive Personalkontakte mit Kongressmitgliedern, pflegen gar eine Personaldatenbank und leisten tatkräftige Unterstützung bei der Rekrutierung. Viele Think Tanker haben praktische Erfahrung im Kongress gesammelt; umgekehrt arbeiten auf dem Capitol Hill zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zuvor in einem Think Tank beschäftigt waren.
Josef Braml
Zwischen Legislative und Exekutive: die Verwaltung
Im Kontrast zur überschaubaren und hierarchisch organisierten deutschen Ministerialbürokratie erscheint die US-Behördenstruktur als unübersichtlicher Wildwuchs von Organisationseinheiten. Während der deutsche Kanzler an der Spitze des Kabinetts steht, ihm damit auch die Ministerien und deren Bürokratie untergeordnet sind, hat der US-Präsident viel größere Schwierigkeiten, seine Exekutive zu leiten. Enorme Anstrengungen, um die eigene Linie in einem Interessengeflecht rivalisierender Ministerien und Regierungsstellen durchzusetzen, gehören zum mühsamen Tagesgeschäft des sogenannten Chefs der Bundesverwaltung.
Kompetenzgerangel und Reformversuche
Die einzelnen Behörden wurden oftmals ad hoc, aus politischen Anlässen oder zur Krisenbewältigung gegründet und nicht etwa in das bestehende Organigramm eingegliedert, sondern hinzugefügt. Die daraus entstandene fragmentierte Struktur ist gewollt, denn sie bietet Außenstehenden, nicht zuletzt auch den Kongressausschüssen, vielfältige Möglichkeiten der Einflussnahme.
Die US-Verwaltung ist geprägt durch intensives Kompetenzgerangel zwischen Exekutive und Legislative, wenn es darum geht, wichtige Positionen zu besetzen, die Behörden finanziell auszustatten sowie deren Aufgaben vorzugeben bzw. zu kontrollieren. Zwar liegt die exekutive Gewalt beim Präsidenten. Laut Verfassung (Artikel III, Absatz 1) muss er dafür sorgen, dass die Gesetze "gewissenhaft" vollzogen werden. Er kann zudem unter anderem die Führungsspitzen der Ministerien (departments) und Bundesbehörden (federal agencies) nominieren.
Doch müssen diese von der Legislative, namentlich vom Senat, gebilligt werden. Dem Kongress obliegt auch die Organisationsgewalt, sprich die Befugnis, die Bundesbehörden zu errichten und zu finanzieren. Die power of the purse führt seit jeher zu (informellen) Absprachen zwischen den Geldgebern im Kongress und den Empfängern in der Verwaltung. Insbesondere die für die Finanzierung verantwortlich zeichnenden Abgeordneten bzw. Senatorinnen und Senatoren zuständiger Kongressausschüsse bewachen mit Argusaugen ihre Einflussbereiche, die auch helfen, ihre Wiederwahl zu sichern. Denn ihr politisches Schicksal hängt letztlich davon ab, wie sehr sie die Partikularinteressen in ihren Wahlkreisen bzw. Einzelstaaten bedienen können, und insbesondere jene der ihnen nahestehenden Interessengruppen, die ihre immer teurer werdenden Wahlkämpfe finanzieren.
Mittlerweile haben sich zu den Vertretern von Partikularinteressen, Kongressausschüssen und der Exekutive auch noch Experten von Think Tanks, das heißt politikorientierte und häufig auch interessengebundene Forschungsinstitute, Universitäten und Journalisten gesellt. Ihre etwas lockeren themenspezifischen Verbindungen wurden 1978 vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Hugh Heclo "issue networks" genannt: Mittels dieser "Themennetzwerke" versuchen sie mit vereinten Kräften bestimmte Interessen und politische Ideen durchzusetzen, weshalb sie vom US-Politikwissenschaftler Paul Sabatier 1993 als "Tendenzkoalitionen" (advocacy coalitions) bezeichnet wurden.
Aufgrund dieser Interessensgeflechte sind bislang alle Vorhaben misslungen, den Verwaltungsapparat merklich zu verkleinern. So scheiterte Anfang der 1970er-Jahre Präsident Richard Nixon (1969–1974) mit seinem Versuch, durch einen radikalen Umbau "anti-präsidiale Nischen" in der Exekutive zu eliminieren. Mit seinem Dezentralisierungsprogramm des "New Federalism" wollte eine Dekade später Präsident Ronald Reagan (1981–1989) das "big government" in Washington verkleinern – ohne nachhaltigen Erfolg.
Auch Joe Biden war bereits als Präsident Barack Obamas Vize bemüht, den Regierungsapparat schlanker und effizienter zu machen. Im Januar 2012 ersuchte Präsident Obama den Kongress, die handelspolitischen Aufgaben von sechs Regierungseinheiten, darunter des Handelsministeriums und des Büros des Handelsbeauftragten, in einer neuen Behörde zusammenzufassen. Doch die symbiotischen Dreiecksbeziehungen, das "eiserne Dreieck", zwischen den betroffenen Einheiten der Exekutive, der Wirtschafts- und Handelslobby und den federführenden Ausschüssen im Kongress, haben auch Obamas ehrgeizige Neuorganisation vereitelt.
Besonders zielstrebig ging der ehemalige Leiter der rechtspopulistischen Website Breitbart News Stephen "Steve" Bannon während seiner Zeit als Donald Trumps Chefstratege von Januar bis August 2017 vor. Zuvor hatte er bereits den "Rückbau des Verwaltungsstaates" (deconstruction of the administrative state) angekündigt. Dazu wurde vom Weißen Haus so etwas wie ein Schattenkabinett eingerichtet und vertraute Mitarbeiter wurden eingesetzt, die auf höchster Ebene in die Arbeitsabläufe der Ministerien eingebunden waren. Sie waren aber nicht dem jeweiligen Minister, sondern nur einem Aufsichtskoordinator weisungsgebunden, zunächst dem damaligen stellvertretenden Stabschef im Weißen Haus, Rick Dearborn.
Der Präsident und sein Stab
Dass Trumps Regierungsmaschine nicht reibungs- und geräuschlos lief, belegte Bob Woodward in seinem Buch "Fear" (deutsch: Furcht: Trump im Weißen Haus, 2018): Demnach arbeiteten selbst hochrangige Kabinettsangehörige, etwa der damalige Stabschef im Weißen Haus, John Kelly, sowie Verteidigungsminister James Mattis, gegen die "Neigungen" des Präsidenten, um Schlimmeres zu verhüten. Trump sah sich von vermeintlichen "Verrätern" und "Spionen" umgeben. Ende Mai 2018 verlangte er vom Justizministerium eine Untersuchung, ob der Geheimdienst FBI oder das Ministerium selbst sein Wahlkampfteam "aus politischen Gründen infiltriert oder überwacht" hätten.
Trumps Misstrauen wurde noch größer, als ein Unbekannter – unter dem Pseudonym "Anonymous" – in einem Gastbeitrag in der New York Times am 5. September 2018 schrieb: "Ich bin Teil des Widerstands innerhalb der Regierung Trump. Ich arbeite für den Präsidenten, aber gleichgesinnte Kollegen und ich haben gelobt, Teile seiner Agenda und seine schlimmsten Neigungen zu vereiteln."
Schnell war bei Trumps Anhängern von einer Verschwörung die Rede – Mutmaßungen, die Trump selbst öffentlichkeitswirksam beförderte. Er sprach den eigenen Geheimdiensten öffentlich sein Misstrauen aus, bezeichnete sie als "deep state", als unkontrollierten Staat im Staate mit der Absicht, ihm das Handwerk zu legen, weil er zum Wohle seiner Bewegung gegen das Washingtoner Establishment und die Bürokratie vorgehe.
Jeder Präsident, nicht nur der durch seine Verhaltensweisen besonders auffällige Donald Trump, war bislang gut beraten, einen eigenen, nur ihm gegenüber loyalen Beraterstab um sich zu scharen. Denn nur so konnte er in einem institutionell angelegten Geflecht widerstreitender Interessen seine politische Linie durchsetzen – nicht zuletzt auch gegenüber der Verwaltung "seiner" Exekutive. Denn die Auseinandersetzungen in den Reihen der Exekutive sind nicht minder heftig. Auf der einen Seite versuchen die "Männer und Frauen des Präsidenten", das presidential government, die Politikinitiativen des Weißen Hauses voranzutreiben. Auf der anderen Seite bremst sie das permanent government immer wieder aus.
Die relativ autonomen Ministerien und Behörden versuchen unabhängig vom jeweiligen Präsidenten und von der jeweiligen parteipolitischen Konstellation ihre eigenen institutionellen Besitzstände zu wahren. Dabei berücksichtigen sie die Absichten der ihnen nahestehenden Kongressausschüsse und die Anliegen der von ihnen repräsentierten Interessengruppen. Hinzu kommen noch jene unabhängigen Behörden (independent agencies), deren Leiter bzw. Leiterinnen der Präsident zwar nominieren kann, wofür er aber wiederum die Zustimmung des Senats benötigt. Die independent regulatory agencies, die häufig auch als independent regulatory commissions bezeichnet werden, sind überdies ausschließlich dem Kongress verantwortlich. Die meisten von ihnen werden massiv von Interessengruppen beeinflusst. Die von Regulierungen Betroffenen regulieren sich mehr oder weniger selbst. Regulation by the regulated lautet das Prinzip, das dem Präsidenten kaum Einwirkungsmöglichkeiten lässt.
Die persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Präsidenten – die er ohne Zustimmung des Senats frei auswählen kann – sind seine engsten Vertrauten in den Machtkämpfen, die mit dem Begriff bureaucratic politics verharmlosend umschrieben werden. Die Getreuen und einflussreichsten Berater des Präsidenten sind im White House Office zu finden. Sie genießen auch ein "exekutives Privileg" (executive privilege), das heißt, sie sind der Legislative keine Rechenschaft schuldig und dürfen vor Kongressausschüssen nicht verhört werden.
Die anderen, dem Präsidenten ebenso nahestehenden Leiterinnen und Leiter der Einheiten (federal agencies) des Executive Office of the President müssen jedoch vom Senat abgesegnet werden und auch nach ihrer Bestätigung der Legislative laufend Rede und Antwort stehen. Ebenso wie bei diesen Personalentscheidungen muss der Präsident auch bei der Besetzung der Ministerämter die Machtkalküle der "anderen politischen Gewalt", sprich die Interessen des Kongresses, berücksichtigen.
Revolving Doors
Die große Fülle politischer Berufungen in die Ministerien und Behörden geht nicht nur auf Kosten des öffentlichen Dienstes (civil service); sie ist zeitraubend und erschwert nach Wahlen den Übergang von einer Regierungsmannschaft zur nächsten. Mit jedem neuen Präsidenten wechseln in den USA etwa 7000 Fachleute ihre Position: entweder von außen nach innen oder, im Falle der ausscheidenden Administration, von innen nach außen. In diesem Drehtürsystem der revolving doors, des ständigen in-and-out, spielen neben Interessengruppen auch Think Tanks eine wichtige Rolle als "Ideenagenturen", so der Politologe Winand Gellner 1995.
Dementsprechend politisch ist das Selbstverständnis im Verwaltungsapparat. Während die meisten auf Lebenszeit dienenden deutschen Beamtinnen und Beamten sich für ihr Fortkommen nicht politisch engagieren müssen und sich auf ihre Aufgabenbereiche und nächste "Verwendung" konzentrieren können, arbeitet die US-amerikanische Bürokratie im Zentrum der Auseinandersetzung um den politischen Machterhalt. Das Gros der oft nur für eine Amtszeit beschäftigten Verwaltungseliten beteiligt sich mehr oder weniger sichtbar an der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.
Diese policy maker sind indes keine inkompetenten Parteigänger, sondern ausgewiesene Expertinnen und Experten mit politischer Orientierung. Ihre Fachkenntnisse haben sie zumeist über mehrere Jahre in verschiedenen Arbeitsbereichen erworben, sei es in der Exekutive, der Legislative, einem Think Tank, einer Universität oder einem Privatunternehmen. Sie wechseln häufig ihre Arbeitgeber, bleiben aber ihrem Themenschwerpunkt (issue) treu. Damit sind sie auch in ihrem issue network gut vernetzt, was wiederum ihren nächsten Arbeitsplatz sichern hilft.
Diese "Wanderarbeiter" haben mittlerweile die auf Lebenszeit Beschäftigten des civil service verdrängt. Zwar genießen auch einige US-amerikanische Staatsbedienstete noch Privilegien wie eine mehr oder weniger sichere Anstellung. Schlechte Bezahlung und mangelnde Aufstiegschancen haben aber zur Demoralisierung und permanenten Krise des civil service geführt. Nicht zuletzt spiegelt das geringe Ansehen des Staatsdienstes auch die historisch begründete, institutionell begünstigte und politisch verstärkte Skepsis großer Teile der US-Bevölkerung gegenüber dem Staat und dessen Machtapparat wider.
Macht und Ohnmacht der Exekutive
Geprägt durch die historische Erfahrung mit den Monarchien der "Alten Welt" wollten die Verfassungsväter die Machtbefugnisse des Präsidenten beschneiden. Doch die Bedrohung durch das Königreich Großbritannien und die Persönlichkeit des ersten amerikanischen Präsidenten George Washington (1789–1797) sorgten dafür, dass das Amt mit mehr Handlungsspielraum, also zusätzlichen Machtbefugnissen gegenüber dem Kongress und gegenüber den Einzelstaaten, ausgestattet wurde.
Washington, ehemaliger Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee der 13 nordamerikanischen Kolonien im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) gegen die britische Kolonialmacht, beanspruchte als Präsident und Hüter der neu gewonnenen "independence" vom Mutterland auch im Inneren größere Gestaltungsmacht.
Diese wuchs im Laufe der weiteren Geschichte: In Reaktion auf nationale Krisen, wie die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, den Zweiten Weltkrieg in den 1940er-Jahren und die Anschläge vom 11. September 2001, wurden die Bundeskompetenzen, vor allem jene des Präsidenten, erheblich erweitert. Als Staatsoberhaupt, Regierungschef, Chef der Bundesverwaltung, höchster Diplomat, militärischer Oberbefehlshaber und Parteiführer kann der Präsident heute umfangreiche, in der Verfassung garantierte Aufgaben und Funktionen beanspruchen.
Dennoch ist im politischen System der checks and balances seine Macht beschränkt. Je nach Politikbereich verfügt der Präsident über unterschiedliche Machtbefugnisse: Während diese in der Sicherheitspolitik besonders ausgeprägt sind, sodass selbst das Oberste Gericht die mangelnde Gewaltenkontrolle seitens der Legislative beklagte, sind dem Präsidenten in allen anderen Politikfeldern, etwa in der Wirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Energiepolitik, durch den Kongress oftmals die Hände gebunden.
Der US-Präsident kann selbst keine Gesetzesvorlagen einbringen und benötigt bei Initiativen gleichgesinnte Abgeordnete bzw. Senatorinnen und Senatoren. Im Gesetzgebungsprozess ist er daher laufend gefordert (und gelegentlich überfordert), im Kongress für die Zustimmung zu seiner Politik zu werben – also je nach Politikinitiative unterschiedliche und zumeist parteiübergreifende Ad-hoc-Koalitionen zu schmieden.
Zwar verfügt der seit Januar 2021 amtierende Präsident Joe Biden über 36 Jahre Erfahrung sowie persönliche Arbeitsbeziehungen im Senat und ist für seine Fähigkeit zu parteiübergreifender Zusammenarbeit bekannt. Aber seine legislativen Kooperationserfolge sind lange her – sie fielen in eine Zeit, in der Konsensfindung noch möglich war und von den Wählerinnen und Wählern und Interessengruppen honoriert wurde. Mittlerweile jedoch gefährdet die Polarisierung der beiden politischen Lager die legislative Zusammenarbeit und Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Eine von Partikularinteressen forcierte republikanische Blockade seiner Gesetzgebungsagenda könnte Präsident Biden weiterhin zwingen, mittels exekutiver Anordnungen in Form von Dekreten – also ohne die längerfristige Verbindlichkeit der Gesetzgebung – zu regieren. So handhabten es bereits seine beiden Vorgänger Barack Obama und Donald Trump.
Der Präsident muss politische Führung (leadership) demonstrieren. Wenn er nicht mehr mit Angeboten locken kann, dann muss er umso mehr öffentlichen Druck ausüben. Präsident Theodore Roosevelt (1901–1909) prägte den Begriff der "bully pulpit", das Bild der "hervorragenden" (bully) Redeplattform einer Kanzel (pulpit), welche die Präsidentschaft seiner Ansicht nach bot, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Seine exponierte Stellung als einziger landesweit gewählter Politiker kann der Präsident dazu nutzen, um über die klassischen Massenmedien und die neuen sozialen Medien die Wählerbasis der Kongressmitglieder für seine Agenda zu mobilisieren, damit die (qualifizierte) Mehrheit der Abgeordneten sowie Senatorinnen und Senatoren seiner Politik folgt. Das ist dennoch nicht einfach, da diese eine institutionelle Identität als Mitglieder des Kongresses haben, sich der "anderen Staatsgewalt" (the other branch of government) zugehörig fühlen und mit der Exekutive um Macht konkurrieren.
Dominanz des Präsidenten in der Sicherheitspolitik
Die Sorge der Legislative um die institutionelle Machtbalance tritt jedoch in den Hintergrund, wenn Gefahr droht. In Krisen- und Kriegszeiten steht der Präsident als Oberster Befehlshaber im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ihm kommt die Rolle des Schutzpatrons zu. Der patriotische Sammlungseffekt des rally around the flag (deutsch: Versammeln um die Fahne) bedeutet einen immensen Machtgewinn und Vertrauensvorsprung für den Präsidenten und die Exekutive. Nicht zuletzt symbolisiert das Präsidentenamt die nationale Einheit und gilt das Weiße Haus als Ort der Orientierung in Krisenzeiten. Präsidenten konnten nationale Krisen immer wieder dazu nutzen, die Struktur des Regierungsapparats und der Verwaltung grundlegend zu verändern, indem sie exekutive Kompetenzbereiche auf nationaler Ebene gebündelt und oftmals auch erweitert haben.
So mündete die "Große Depression" der 1930er-Jahre in den Sozialstaat, der von Präsident Franklin D. Roosevelt (1933–1945) geprägt wurde. Im Zuge der militärischen und sicherheitsdienstlichen Aufrüstung im Zweiten Weltkrieg erhielt die Bundesregierung umfangreiche Sicherheitsaufgaben. Im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion etablierte sich eine Interessenverbindung zwischen Militär, Rüstungsindustrie und politischen Eliten. In seiner Abschiedsrede im Januar 1961 warnte Präsident Dwight D. Eisenhower (1953–1961), der einst selbst Generalstabschef der Armee war, vor diesem "militärisch-industriellen Komplex".
Der Kalte Krieg und seine Nebenkriegsschauplätze, etwa in Vietnam, gingen auch im Inneren einher mit einer "imperialen Präsidentschaft", so der Buchtitel des US-Historikers und Beraters zweier US-Präsidenten, Arthur Schlesinger Jr., 1973: Das Regierungshandeln der Kriegspräsidenten Lyndon B. Johnson (1963–1969) und Richard Nixon (1969–1974) war wenig transparent und im Falle Nixons höchst kriminell. Ihm drohte ein Amtsenthebungsverfahren (impeachment) wegen "schwerster Verbrechen und Amtsvergehen" (high crimes and misdemeanors). Denn seine Machenschaften hatten das System der checks and balances aus dem Gleichgewicht gebracht. Um in der Watergate-Affäre einer formalen Amtsenthebung zu entgehen, trat Nixon schließlich am 9. August 1974 zurück. Danach schlug das Pendel wieder in die andere Richtung: In Reaktion auf die Grenzüberschreitungen der Exekutive beanspruchte der Kongress mehr Machtbefugnisse.
QuellentextDie Watergate-Affäre
Am frühen Morgen des 17. Juni 1972 verhaftete die Polizei fünf Männer, die offenkundig versucht hatten, in die Büros der nationalen Parteizentrale der Demokraten im Washingtoner Watergate Hotel einzubrechen. Was der Pressesprecher des republikanischen Präsidenten Nixon auf Anfrage als "drittklassigen Einbruch" bezeichnete, führte zwei Jahre später – und erstmals in der amerikanischen Geschichte – zum Rücktritt eines amerikanischen Präsidenten.
Dass die politischen Hintergründe des Watergate-Einbruchs ans Tageslicht kamen, ist in erster Linie zwei Journalisten der Washington Post, Bob Woodward und Carl Bernstein, zu verdanken. Sie enthüllten – mit Hilfe eines Informanten namens "Deep Throat", der sich erst 2005 zu erkennen gab (es handelte sich um den Stellvertretenden Direktor des FBI, W. Mark Felt) – nach und nach, dass der Präsident selbst von dem Einbruch wusste und dessen Vertuschung befohlen hatte.
Angesichts der Kritik seiner politischen Gegner hatte Nixon, der von Natur aus ein unsicherer und misstrauischer Mensch war, einen geheimniskrämerischen Führungsstil entwickelt und einen autoritären Apparat aufgebaut, der die Macht des vermeintlich von der Presse und den Demokraten "belagerten" Weißen Hauses konsequent ausbaute. Die Paranoia des Präsidenten reichte so weit, dass er eine geheime Spezialeinheit aufbaute, die sogenannten "Klempner", die Feindlisten erstellten, subversive Gerüchte in die Welt setzten und politische Gegner – wie die Demokraten im Watergate Hotel – ausspionierten und abhörten.
Als die illegalen Aktivitäten im Prozess gegen die Watergate-Einbrecher an die Öffentlichkeit drangen, profilierte sich der Präsident zunächst als Saubermann, während er einen seiner Vasallen nach dem anderen "opferte". Die Situation spitzte sich zu, als Nixons ehrgeiziger Mitarbeiter John Dean, der anfangs loyal hinter dem Präsidenten gestanden hatte, öffentlich erklärte, Nixon habe die Vertuschung selbst initiiert. Anfangs dementierte der Präsident die Behauptung Deans. Zum wahren Unglückstag für den Präsidenten wurde dann freilich jener Freitag, der 13. Juli 1973, an dem öffentlich bekannt wurde, dass es Tonbandaufzeichnungen aller Gespräche gab, die im Weißen Haus geführt wurden. Zwar konnte Nixon die von einem Sonderermittler geforderte Freigabe der Tonbänder über ein Jahr lang hinauszögern. Seine Glaubwürdigkeit hatte der Präsident jedoch bereits verloren, als er im sogenannten Samstagabend-Massaker vom Oktober 1973 den Justizminister und dessen Stellvertreter entließ, weil diese sich geweigert hatten, den für Nixon so unbequemen Sonderermittler seines Amtes zu entheben. Selbst als im Sommer 1974 mit der Herausgabe der Tonbänder der endgültige Beweis für seine Verwicklung in die Watergate-Affäre vorlag, zog Nixon die politischen Konsequenzen nur zögerlich. Um einer formalen Amtsenthebung zu entgehen, trat der Präsident am 9. August 1974 schließlich zurück. Damit hatte das Watergate-Spektakel, das für viele Amerikaner zur Unterhaltungsserie mit Shakespeare’scher Dramatik geworden war, ein Ende gefunden.
Christof Mauch, Die 101 wichtigsten Fragen – Amerikanische Geschichte, C.H. Beck Verlag, München 2008, S. 116 f.
Die Verunsicherung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und der von der Regierung George W. Bush so genannte Globale Krieg gegen den Terrorismus eröffneten einmal mehr Möglichkeiten, die Gestaltungsmacht des Präsidenten und der unter seiner Führung handelnden Exekutive auszuweiten. Schon unmittelbar nach Amtsantritt hatten Präsident George W. Bush, Vizepräsident Richard (Dick) Cheney und ihre Gefolgsleute deutlich gemacht, dass sie die Position der Exekutive auf Kosten der Machtbefugnisse der Legislative zu stärken beabsichtigten.
Diese offensive Strategie des Weißen Hauses, den vor allem in der Amtszeit des Vorgängers Bill Clinton (1993–2001) erstarkten Kongress wieder in eine untergeordnete Rolle zu drängen, erhielt mit den Terroranschlägen von New York und Washington ihre Legitimation – denn die US-amerikanische Bevölkerung war mehrheitlich überzeugt, dass dies angesichts der nationalen Bedrohung rechtens, ja notwendig sei. Im Globalen Krieg gegen den Terrorismus konnte der Präsident nunmehr die dominante Rolle des Oberbefehlshabers der Streitkräfte spielen. Aber auch in der nationalen Diskussion gelang es George W. Bush, seine Diskurshoheit zu etablieren und sich als Schutzpatron zu geben, der die traumatisierte Nation vor weiteren Angriffen bewahrt.
QuellentextDie Bush/Ashcroft-Doktrin …
Justizminister John Ashcroft brachte das Rechtsverständnis der Bush-Regierung im Dezember 2001 vor dem Justizausschuss des Senats deutlich zum Ausdruck: "Herr Vorsitzender, Mitglieder des Ausschusses, wir befinden uns im Krieg gegen einen Feind, der individuelle Rechte ebenso missbraucht wie Passagierflugzeuge: als Waffen zum Töten von Amerikanern. Wir haben darauf reagiert, indem wir den Auftrag des Justizministeriums neu definiert haben. Unsere Nation und ihre Bürger gegen terroristische Angriffe zu verteidigen, ist nunmehr unsere erste und vorrangige Aufgabe."
… und ihre Probleme
An den einzelnen Bereichen, in denen die Problematik der Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte vor allem auch internationale Aufmerksamkeit erregte, lässt sich erkennen, dass die Verantwortlichen zwischen zwei Klassen von Rechtsträgern unterschieden: zwischen amerikanischen Bürgern und "Nicht-Amerikanern". Ungeachtet der verfassungsrechtlichen "due process"– bzw. "equal protection"-Bestimmungen, in denen vom Schutz der individuellen Freiheitsrechte "jeder Person" (any person) die Rede ist, genossen die sich in den USA aufhaltenden Ausländerinnen und Ausländer nach Auffassung der Bush-Administration grundsätzlich nicht den gleichen Rechtsschutz wie die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Vereinigten Staaten. Wenn sie als mutmaßliche Terroristen eingestuft wurden, hatten sie zudem auch noch diesen "minderen Anspruch" verwirkt. Sie wurden gar als Outlaws (Gesetzlose) behandelt, wenn sie sich nicht auf dem souveränen Staatsgebiet der Vereinigten Staaten befanden – wie die gefangenen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba. Unter den jahrelang Inhaftierten befanden sich auch viele, die irrtümlich festgenommen wurden. Die Entscheidung, wer welche Rechte "verdiente", wurde a priori von der Exekutive getroffen. Die Bush-Administration versuchte dabei auch, sich der Kontrolle juristischer und parlamentarischer Instanzen zu entziehen.
Josef Braml
Unter dem Primat der Sicherheit konnte Präsident Bush auch innerhalb der Exekutive Organisationsstrukturen aufbrechen und Kompetenzen neu verteilen. Zahlreichen Ministerien wurden Ressourcen und Aufgabenbereiche entzogen und dem 2002 neu geschaffenen Heimatschutzministerium, dem Department of Homeland Security (DHS), zugewiesen. Eine Vielzahl von Einheiten aus anderen Ministerien wurde in dieses neue Heimatschutzministerium integriert, zwei Dutzend Bundesbehörden mit seinerzeit etwa 180.000 Bediensteten und einem jährlichen Budget von 40 Milliarden Dollar darin zusammengefasst. In Fragen der inneren Sicherheit ist das Department of Homeland Security seitdem auf horizontaler Regierungsebene federführend bei der Zusammenarbeit mit anderen Ministerien. Es ist zudem bei der vertikalen Koordination die zentrale Ansprechstelle für Behörden auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene. Seine Schaffung ist Teil des umfangreichsten Umbaus, dem die Regierungsorganisation der Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterzogen wurde.
Der 11. September und seine Folgen
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 führten den USA zudem vor Augen, dass ihre Geheimdienste versagt hatten. Dieser nationale Schock erleichterte es dem Kriegspräsidenten Bush, die Struktur der Nachrichtendienste zu verändern, um den Informationsfluss innerhalb der sogenannten intelligence community zu bündeln. Vor den Anschlägen waren die diversen Einheiten für ihre Geheimniskrämerei bekannt: Sie taten sich schwer damit, Informationen auszutauschen, auch weil sie miteinander um die knappen finanziellen Ressourcen konkurrierten. Doch die Geldknappheit endete ebenfalls mit einem Schlag: Nach den Terroranschlägen wurden die Mittelzuweisungen für die neu aufgestellten Teileinheiten massiv aufgestockt.
Dem ehemaligen technischen Mitarbeiter der US-amerikanischen Geheimdienste Edward Snowden und seinen über die Medien verbreiteten Informationen ist es zu verdanken, dass die Öffentlichkeit im Jahr 2013 nicht nur vom Ausmaß der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken erfuhr, die auch vor der Ausspähung befreundeter Regierungen nicht Halt machten.
Darüber hinaus eröffneten sich Einblicke in die neue Struktur, die Aufgaben- und Finanzzuweisungen der einzelnen Einheiten. Von den 52,6 Milliarden Dollar, die im Haushaltsjahr 2013 für die intelligence community veranschlagt wurden, erhielten die Central Intelligence Agency (CIA), die National Security Agency (NSA) und das National Reconnaissance Office (NRO) mit mehr als zwei Dritteln des Gesamtbudgets den Löwenanteil. Von den über 107.000 Mitarbeitenden des insgesamt 16 Bundesbehörden (agencies) umfassenden Gesamtapparats waren etwa 20 Prozent in militärischen Funktionen tätig (etwa zwei Drittel davon bei der NSA), der Großteil war jedoch mit "zivilen" Aufgaben betraut.
Die Nachrichtendienste wurden von der Regierung George W. Bush nicht nur finanziell aufgerüstet, sondern auch ermutigt, ihre Arbeit mit mehr Nachdruck zu verrichten. Nach Medienberichten haben in der Amtszeit George W. Bushs Mitarbeitende der CIA im Globalen Krieg gegen den Terrorismus unter anderem die Foltermethode des simulierten Ertränkens, das sogenannte waterboarding, praktiziert oder mutmaßliche Terroristen festgenommen bzw. entführt und in befreundete autoritäre Staaten geflogen, wo noch weit robustere Verhörmethoden angewendet werden. Damit verstießen die USA unter anderem gegen die Folterkonvention der Vereinten Nationen.
Im Rahmen des Globalen Krieges gegen den Terrorismus wurde Recht neu interpretiert – im nationalen wie internationalen Rahmen. Mit dem Angriffskrieg gegen den Irak und den auch von der nachfolgenden Obama-Regierung als Folter eingestuften Praktiken bei Verhören wurde Völkerrecht gebrochen. Um den inneren politischen Frieden zu wahren, scheute Präsident Obama jedoch davor zurück, die federführenden Mitarbeitenden der Bush-Administration juristisch zur Verantwortung zu ziehen. In Obamas Amtszeit wurden auch viele von der Vorgängerregierung eingeleitete Strategieänderungen weitergeführt. Die folgenden Regierungen unter dem Oberbefehl Obamas, Trumps und Bidens haben den Globalen Krieg gegen den Terrorismus mit weniger militärischem Aufwand und damit auch geringeren politischen wie ökonomischen Kosten, dafür aber mit größerem Einsatz von Drohnen, sogenannten unbemannten Luftfahrzeugen (unmanned aerial vehicles, UAV), und geheimdienstlichen Mitteln weitergeführt.
Um nach dem wenig ruhmreichen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan – vor allem auch gegenüber seinen Landsleuten – wieder mehr Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wird US-Präsident Biden den Globalen Krieg gegen den Terrorismus mit Drohnen fortführen. Ferngesteuerte unbemannte Flugsysteme können zur Aufklärung und Überwachung eingesetzt werden. Mit Raketen bestückt können diese Drohnen bei Bedarf auch für gezielte Tötungen verwendet werden. Drohnen haben den Vorteil für die Weltmacht, dass sie weniger kosten, auch politisch, weil weniger Gefahr für die eigenen "Soldaten" besteht.
Die USA werden sich künftig noch weniger um zerfallende Staaten wie Afghanistan und die davon ausgehenden Sicherheitsbedrohungen (auch für Europa) interessieren, sondern wieder mehr auf starke Staaten wie China fokussieren. Biden begründete seinen Abzug aus Afghanistan damit, die zunehmend knapper werdenden Ressourcen in der Region Asien-Pazifik zu bündeln, um dort der aufsteigenden Macht China zu begegnen, das in Ostasien Amerikas Hegemonie herausfordert.
Solange der Krieg gegen den Terrorismus andauert – und sich die USA zudem wieder von "revisionistischen Mächten" wie Russland und China bedroht sehen –, wird wohl die römische Maxime "inter arma silent leges" (Unter Waffen schweigen die Gesetze. Cicero, Rede für Milo) auch im politischen System der Vereinigten Staaten weiterhin gelten. Diese Ansicht vertrat auch William Rehnquist, bis zu seinem Tode Anfang September 2005 Chief Justice (Oberster Richter) des Supreme Court. In einer eingehenden Analyse mit dem Titel "All the Laws but One: Civil Liberties in Wartime" warnte er bereits 1998 vor der Gefahr, dass der Oberste Befehlshaber in Kriegszeiten durch zusätzliche Machtbefugnisse dazu verleitet wird, den konstitutionellen Rahmen zu überdehnen.
Sicherungsinstanz Judikative
Die Ernennung von Richterinnen und Richtern des Supreme Court ist ein hochpolitischer Akt. Vor allem das Oberste Gericht entscheidet darüber, wieviel Macht der Präsident hat und welche Grenzen ihm der Kongress setzen darf. Sie bestimmen die Kräfteverhältnisse im US-System der checks and balances, der konkurrierenden und sich damit gegenseitig kontrollierenden politischen Gewalten. Jede Neubesetzung von Richterämtern am Supreme Court kann die Mehrheitsverhältnisse des Gremiums verändern und damit auch grundlegende, für die Qualität der amerikanischen Demokratie ausschlaggebende Entscheidungen prägen. So konnten die Obersten Richter eine der größten Verfassungskrisen der jüngsten US-amerikanischen Geschichte entschärfen, indem sie im Fall Bush v. Gore am 12. Dezember 2000 den Ausgang der heftig umstrittenen Präsidentschaftswahl zugunsten des Republikaners George W. Bush entschieden. Trotz dieser fundamentalen Eingriffsrechte genießt der Supreme Court in der US-Bevölkerung höchste Autorität. Seine Zustimmungsraten übertreffen die Werte der anderen politischen Gewalten, namentlich des Kongresses und des Präsidenten.
Gleichwohl sind auch die Rechtsprechungen des Obersten Gerichts nicht in Stein gemeißelt. Im Laufe der Entwicklung der USA von einer Agrar- über eine Industrie- hin zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft mussten die Richterinnen und Richter immer wieder neue Realitäten mit den (interpretierbaren) Verfassungsgrundsätzen in Einklang bringen. Doch die Interpretationsfähigkeit des Verfassungstextes ist bis heute umstritten.
QuellentextDie amerikanischen Rechtsquellen
Häufig werden nur das geschriebene Recht und das Richterrecht als Quellen des amerikanischen Rechts unterschieden. […]
Das sog. "constitutional law" umfasst […] nach amerikanischem Verständnis nicht nur die in der Verfassung niedergelegten Normen, sondern auch deren jeweilige Interpretation durch den Supreme Court.
Unterhalb des "constitutional law" ist das sog. "statutory law" anzusiedeln, das die durch die gesetzgebenden Körperschaften beschlossenen Normen inkl. ihrer Auslegung durch die Gerichte umfasst.
Nochmals eine Stufe niedriger steht das sog. "administrative law", das weder dem "constitutional" noch dem "statutory law" entgegenlaufen darf und das als Ausfüllung der Lücken des "statutory law" durch administrative Organe umschrieben werden kann.
Letztlich ist das aus England importierte "common law" zu nennen. Das "common law" ist durch Gerichte gesetztes Recht, das in Streitfällen bei einem Fehlen gesetzlicher Normen entwickelt wird und das die spätere Rechtsprechung bei gleichgelagerten Fällen präjudiziert. Da das "common law" in seinem Rang hinter das geschriebene Recht zurücktritt, ist es leicht einsichtig, dass dieses Recht durch die vermehrten Aktivitäten der Legislativorgane im modernen Staate allmählich seine frühere Bedeutung verliert. Hierüber darf allerdings nicht vergessen werden, dass entscheidende Grundsätze des amerikanischen Rechts auf das englische "common law" zurückgehen, […] z. B. die berühmte "due process of law"-Klausel, die die wichtigsten Verfahrensgrundsätze festschreibt und die – abgesichert im V. und XIV. Amendment der US-Verfassung – u. a. Eingriffe in Leben, Freiheit und Eigentum "without due process of law" verbietet.
Während die einen den Text der Verfassung nur gemäß der "ursprünglichen Absicht" (original intent) ihrer Väter auslegen wollen, sehen die anderen im Verfassungstext ein "lebendes Dokument" (living document). Dementsprechend fordern erstere juristische Zurückhaltung (judicial restraint) und verurteilen den Standpunkt der zweiten Gruppe, die weite rechtliche Auslegung, als Aktionismus (judicial activism).
Wegen dieses Auslegungsspielraums kann jede Richterbesetzung entscheidend sein, vor allem für Unternehmen und Wirtschaftsverbände, die keine Regulierungen ihrer Geschäftsgebaren wollen. Zuletzt wurde am 26. und 27. Oktober 2020 die erzkonservative Amy Coney Barrett als Nachfolgerin der am 18. September 2020 verstorbenen liberalen Richterin Ruth Bader Ginsburg vereidigt. Alle drei der von US-Präsident Trump nominierten Richter, also auch Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh, sind eindeutig dem Lager der "Originalisten" zuzuordnen. Sie plädieren dementsprechend für juristische Zurückhaltung – auch im Sinne der Wirtschaftsverbände und Interessenvertreter, die Trump und dessen Richternominierungen massiv unterstützten.
Alle als konservativ geltenden sechs Richter des neunköpfigen Supreme Court sind Mitglied der Federalist Society, einer mächtigen wertkonservativen und in Wirtschaftsfragen staatskritischen Interessenvereinigung, die mit Argusaugen darauf achtet, dass keinesfalls im Wege der Rechtsfortbildung neue Regulierungen geschaffen werden, die dem Wortlaut der geschriebenen Verfassung ursprünglich nicht zu entnehmen waren.
Wie bereits Trumps vorherige Besetzungen stand auch der Name Amy Coney Barrett auf einer Liste von zwei Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten, die die Federalist Society Trump schon vor dessen Wahl zum Präsidenten anbot. Trump ließ sich auf diesen Deal ein: Er versprach, als Präsident nur Kandidaten dieser Liste für das höchste Richteramt zu benennen und erhielt dafür die Unterstützung der Federalist Society und ihrer finanzkräftigen Geldgeber – und nicht zuletzt auch den für seinen Wahlsieg ebenso auschlaggebenden Segen der wertkonservativen Christlich Rechten.
QuellentextNominierungen für den Supreme Court
Für Nominierungen an den Supreme Court kann der Justizausschuss im Senat die schriftliche Stellungnahme der beiden Senatoren aus dem Staat einholen, aus dem auch der Kandidat oder die Kandidatin stammt. Wegen der blauen Briefbögen, auf denen die Gutachten geschrieben werden, ist dieses Verfahren auch unter der Bezeichnung blue slip bekannt. Faktisch liegt damit das Schicksal eines Kandidaten in der Hand zweier Senatoren, die eine Anhörung von vornherein verhindern können. In diesem Netzwerk von politischen Abhängigkeiten offenbart sich das Potenzial für politisch motivierte Ernennungen. Selten wird jene Art von Personal ohne eine Abstimmung mit Kongressabgeordneten bestimmt. Das gilt umso mehr, wenn Abgeordnete oder Senatoren eine für den Präsidenten wichtige Rolle im Kongress einnehmen. Die Personalauswahl für die Bundesgerichte trägt deshalb durchaus Züge einer Patronagepolitik.
Die typische Strategie für die Personalauswahl, insbesondere für ein Amt am Supreme Court, zielt nicht darauf ab, einzelne Entscheidungen zu beeinflussen, sondern den Grundstein für eine langfristig angelegte Doktrin zu legen. Die Auswahl von Richtern wird häufig als die am stärksten politisierte Durchdringung der Judikative durch eine andere politische Gewalt wahrgenommen. […] Dies zeigten die kontrovers geführten Diskussionen um Trumps Supreme Court Besetzungen.
Allerdings ist die Geschichte des Supreme Court reich an Beispielen, die eine Kluft zwischen den Erwartungen der Präsidenten und den Urteilen der Richter belegen. Präsident Eisenhower nominierte beispielsweise den Richter Earl Warren zum Chief Justice, der in der Folge mit seiner unerwartet liberalen Rechtsprechung maßgeblich an der amerikanischen Sozialpolitik der 1950/60er-Jahre beteiligt war – sehr zum Missfallen Eisenhowers. Ähnlich unglücklich über ihre Entscheidung waren auch Truman in Bezug auf Tom C. Clark und Theodore Roosevelt mit Oliver Wendell Holmes. Auch die von Obama ernannte Richterin Elena Kagan sprach sich nur in etwa der Hälfte ihrer Entscheidungen für Obamas Positionen aus.
Laut Verfassung muss der Senat allen Kandidaten zustimmen, bevor deren Berufung rechtskräftig wird. Dafür befasst sich zunächst der Justizausschuss mit deren Anhörungen. In der Regel dauert dies mehrere Wochen. Während dieser Zeit bieten sich viele Gelegenheiten für Interessengruppen, die Senatoren zu briefen oder öffentlichkeitswirksame Kampagnen für oder gegen Kandidaten zu führen. Wenige Benennungen wurden dabei so kontrovers und medial begleitet wie jene von Justice Kavanaugh und Justice Coney Barrett.
Nach den Anhörungen spricht der Justizausschuss eine Empfehlung an den gesamten Senat aus. Bei der Abstimmung reicht eine einfache Mehrheit, um Kandidaten zu bestätigen. In parteipolitisch polarisierten Zeiten ist diese "einfache Mehrheit" mitunter nur noch schwer zu erreichen. Nominierungen werden daher im Voraus sehr gründlich vorbereitet und die Kandidaten bis in die letzten Details ihrer Vergangenheit durchleuchtet. […]
Eine seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fest verankerte Praxis im Ernennungsprozess ist die Empfehlung der American Bar Association. Sie gibt Empfehlungen als "very qualified", "qualified" und "not qualified" heraus. In der Vergangenheit galt es für Kandidaten mit der Bewertung "not qualified" als ziemlich aussichtslos, für ein hohes Richteramt benannt zu werden. Präsident Trump allerdings hat von allen Präsidenten die meisten Richter nominiert, die als "not qualified" bewertet wurden. […]
Die Qualifikation von Richtern wird vor allem dann zum entscheidenden Kriterium, wenn sie politisch vergleichsweise gemäßigt sind. Moderate, hoch qualifizierte Richter haben für die opponierende Partei kaum eine Angriffsfläche. […] Den Empfehlungen der American Bar Association folgen freilich nicht alle Präsidenten. Dennoch ist diese Bewertung ein beachtlicher Grund, wie mit einer Nominierung umgegangen wird. Die Verfassungsrichterin Coney Barrett wurde beispielsweise mit "very qualified" bewertet. […]
Michael T. Oswald, Das Regierungssystem der USA, 3., akt. und erw. Auflage, Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2021, S.171 f.
QuellentextKein Zwang zur Konsensfindung
[…] In wichtigen Fragen, vor allem in hochpolitischen Fragen des Verfassungsrechts, ergehen immer wieder Fünf-zu-vier-Entscheidungen, bei denen sich zwei innergerichtliche Fraktionen, eine liberale und eine konservative, gegenüberstehen. Viele der wichtigsten Entscheidungen der beiden zurückliegenden Jahrzehnte wurden von einer Mehrheit von fünf Richtern getroffen, die ihr Amt sämtlich einem der Republikanischen Partei angehörenden Präsidenten verdankten. […]
Die Fraktionierung des Gerichts zeigt sich auch in der Figur des Richters, der ideologisch eine mittlere Position einnimmt und sich mal auf diese, mal auf jene Seite stellt. In den Vereinigten Staaten nennt man ihn den "swing voter", den pendelnd Stimmenden. […] Das eigentlich Bemerkenswerte an der Figur des "swing voters" ist nicht, dass er seine Stimme in wechselnden Gruppierungen abgibt. Das sollte eigentlich der Normalfall sein. Bemerkenswert ist die Existenz der ideologischen Blöcke, die es erlauben, innerhalb des Kollegiums ein zwischen den Blöcken oszillierendes Mitglied überhaupt als solches zu identifizieren.
[…] Dass Richter sich mit dem Ziel, die richtige Antwort auf eine verfassungsrechtliche Frage zu finden, in eine Situation offener, gleichberechtigter Diskussion begeben, […] findet […] beim Supreme Court nicht statt. Eine Beratung, die den Namen verdient, gibt es dort nicht. Nachdem man einen Fall mündlich verhandelt hat, dauert die vertrauliche Besprechung ("conference") im Richterzimmer in der Regel eine halbe Stunde. Dabei spricht als Erster der Vorsitzende […]. Es folgen die anderen Richter in der Reihenfolge des Dienstalters. [...] Jeder, der sich äußert, gibt [...] gleich auch seine Stimme ab. Kein Richter außer dem letzten in der Reihe hat also die Argumente aller seiner Kollegen gehört, bevor er abstimmt, und spätestens dieser letzte muss sich darauf einstellen, dass sein Beitrag nicht mehr wirklich auf Interesse stößt, es sei denn, nach dem bisherigen Gang der Abstimmung stünde es vier zu vier, so dass seine Stimme den Ausschlag gibt. In der Regel ist mit dieser einen Runde die gemeinsame Erörterung des Falles beendet.
Anschließend wird bestimmt, wer für die Richtermehrheit, die sich herausgestellt hat, den Entscheidungsentwurf schreibt. Ist der Vorsitzende Teil dieser Mehrheit, liegt die Auswahl des Entscheidungsverfassers bei ihm. Wenn nicht, fällt sie dem Dienstältesten unter den in der Mehrheit befindlichen Richtern zu. Dieser Modus der Aufgabenzuteilung verschafft nicht nur dem Vorsitzenden einen größeren Einfluss auf die Entscheidung, als ihn die anderen Richter haben. Sie begünstigt auch ein – je nach Konstellation vorläufiges oder endgültiges – strategisches Stimmverhalten, das der Sicherung dieses Einflusses oder dem eigenen Zugriff auf die Verfasserschaft dient.
Hinter den Kulissen findet später noch allerhand informeller Austausch statt, teilweise auf dem Weg über die Mitarbeiter der Richter, die mit ihrer Tätigkeit sämtlich mehr Geld verdienen als die Richter, für die sie arbeiten. Dieses Geld stammt größtenteils nicht aus öffentlicher Kasse, sondern von Anwaltskanzleien. Sie werfen dafür, dass die vielversprechenden jungen Leute mit den interessanten Insiderkenntnissen nach ihrem einen Gerichtsjahr bei ihnen anheuern, fürstliche Bonuszahlungen aus. […]
Der informelle Austausch, der sich an die Konferenz der Richter anschließt, hat so wenig wie das Konferenzgeschehen selbst den Charakter einer Beratung. Es handelt sich um Kommunikation, in der zwischen einzelnen Richtern und ihrem Assistenzpersonal die Bedingungen dafür ausgehandelt werden, dass einer sich der vom anderen verfassten Meinung, sei es der Mehrheitsmeinung oder einer abweichenden Meinung, am Ende auch förmlich anschließt. [...] Eine Konferenz, in der noch einmal gemeinsam über den so produzierten Entscheidungsentwurf gesprochen und entschieden würde, findet nicht mehr statt.
[…] Zwar werden beim Supreme Court tatsächlich die in der Sache entschiedenen Fälle fast durchweg auch mündlich verhandelt. Und tatsächlich ist oft bemerkt worden, dass viele der Fragen und sonstigen Äußerungen, welche die Richter an die Bevollmächtigten der Prozessparteien richten, in Wahrheit an die eigenen Kollegen adressiert sind. Als Beratungsäquivalent sind die mündlichen Verhandlungen dennoch untauglich, allein schon weil sie dafür zu kurz sind. In der Regel ist eine Verhandlungszeit von einer Stunde angesetzt, von der je eine halbe Stunde der Kläger- und der Beklagtenseite gewidmet ist. Gelegenheit zu zusammenhängendem Vortrag haben allerdings beide Seiten nicht. Da es an einem gesonderten Zeitfenster für Fragen der Richter fehlt, fallen diese üblicherweise den Parteivertretern alsbald ins Wort. Um denen zumindest eingangs eine kurze Phase ununterbrochener Präsentation zu sichern, hat das Gericht sich im vergangenen Jahr die Leitlinie gesetzt, dass Fragen erst nach Ablauf von zwei Minuten gestellt werden. In den ersten Verhandlungen unter dieser neuen Leitlinie konnten die Anwälte vor der ersten Unterbrechung durchschnittlich 111 statt wie vorher 60 Sekunden sprechen. Oft fallen die Richter sich auch gegenseitig ins Wort.
Wie wenig Gewicht dem argumentativen Austausch im Kreis aller Richter beigemessen wird, zeigt sich unter anderem darin, dass ein Richter an der gemeinsamen Besprechung gar nicht teilgenommen haben muss, um mitstimmen zu können. […]
[...] In einem von nur zwei Parteien dominierten politischen System ist schon die Kombination von uneingeschränkt politischer Richterauswahl und ungerader Richterzahl misslich, wenn nicht noch korrigierende Faktoren eingreifen. Denn sie hat dann zur Folge, dass zwangsläufig immer die Favoriten ausschließlich einer der beiden Parteien in der Mehrheit sind. In den Vereinigten Staaten sind sie das außerdem meist einigermaßen absehbar auf viele Jahre hin, denn die Richter amtieren ohne Altersgrenze. Wenn einer ideologisch gleichgerichteten Mehrheit innerhalb des Gerichts die Perspektive fehlt, dass sie demnächst einmal in die Minderheit geraten könnte, ist das für die Entwicklung kooperativer und kollegialer Arbeitsweisen, die zur Auflösung ideologischer Fixierungen beitragen könnten, keine gute Voraussetzung. […]
Wenn sie sich auf eine gemeinsame Begründung nicht einigen können, was immer wieder einmal vorkommt, ergeht eine "plurality decision", deren Ergebnis von unterschiedlichen Richtern oder Richtergruppen, von denen keine über eine Mehrheit verfügt, unterschiedlich begründet wird […]. Dem einzelnen Richter bleibt jede Konsensfindungszumutung erspart, sei es auch um den Preis, dass eine Entscheidung ergeht, die mangels mehrheitlicher Gründe keinerlei rechtliche Klärungs- und Orientierungsleistung erbringt. […]
Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts zur Abtreibung (Roe v. Wade, 1973) wurden viele Gläubige politisiert. Die Liberalisierung des Abtreibungsrechts gilt als Geburtsstunde der politischen Bewegung der Christlich Rechten, konservativer evangelikaler und katholischer Interessengruppen und ihrer Wählerschaft, die sich seither im Sinne einer "moralischen Mehrheit" verstärkt für die Republikaner engagieren. Sogenannte moralische Themen (moral issues) wie Abtreibung spalten nicht nur die Bevölkerung in Befürworter und Gegner, sondern beschäftigen seit Jahrzehnten die Politik und die diversen Instanzen im US-amerikanischen Justizsystem.
In der Jurisprudenz herrscht das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung – zwischen der Gerichtsbarkeit des Bundes und der Einzelstaaten, die parallel existieren. Ohnehin konkurrieren die Staaten mit dem Bund um Kompetenzen – das sind historisch angelegte, permanente Auseinandersetzungen, die im Laufe der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte auch den Supreme Court immer wieder zu Grundsatzentscheidungen genötigt haben.
Dr. Josef Braml ist seit Januar 2020 Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme.
Zuvor war er von 2006 bis 2020 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als Geschäftsführender Herausgeber und Redakteur des „Jahrbuch Internationale Politik“ und Leiter des Amerika- Programms tätig. Davor war er von 2002–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Projektleiter des Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional Fellow der American Political Science Association (APSA) und legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).
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