Auch wenn die AfD bei der Bundestagswahl im September 2021 bundesweit Verluste von 2,3 Prozent hinnehmen musste, blieb sie Im Osten vielerorts stärkste Kraft. In Sachsen errang sie sogar 25,7 Prozent der Erststimmen und 24,6 Prozent der Zweitstimmen, in Thüringen 23,7 der Erst- und 24,0 Prozent der Zweitstimmen. In Sachsen-Anhalt wurde sie mit 19,6 Prozent der Zweitstimmen zweitstärkste Partei, ebenso in Brandenburg (18,1) und Mecklenburg-Vorpommern (18,0). Ihre im Osten vergleichsweise geringfügigen Verluste und nur noch wenige Wählerinnenwanderungen deuten dort auf einen inzwischen relativ festen Wählendenstamm hin.
1. Rechtspopulismus, nur ein Problem des Ostens?
Die vorangegangene Bundestagswahl im September 2017 hatte für die rechtspopulistische und in Teilen rechtsradikale Alternative für Deutschland (AfD) ihren Durchbruch auf nationaler Ebene gebracht. Damals erhielt sie landesweit 12,6 Prozent der Stimmen und wurde mit 94 Sitzen drittstärkste Partei im Parlament, zuletzt waren es nach einem Parteiausschluss und Austritten aus der AfD-Fraktion noch 88.
Die Debatte über den Aufstieg der AfD wird in Deutschland überwiegend als eine Ost-West-Debatte geführt, was vor dem Hintergrund der systematisch höheren Stimmanteile, die die Partei in den neuen Bundesländern erringt, nicht überrascht (Holtmann 2019). Legen wir die Bundestagswahl 2017 als Ausgangspunkt dieser Betrachtung zugrunde, so beträgt der „Basiseffekt“ des Ost-West-Unterschieds mindestens 10 Prozent.
Im Deutungsschema einer „nachholenden Modernisierung“ wurden und werden solche Unterschiede häufig als klare Hinweise dafür angesehen, dass der Osten in der Demokratie noch nicht „angekommen“ sei, dass seine Bürgerinnen und Bürger mit den neuen politischen Freiheiten noch „fremdeln“ würden und so weiter. Die Auseinandersetzung wird überwiegend als Defizitdiskurs geführt, dem ein mal offener, mal versteckter paternalistisch-therapeutischer Unterton anhaftet. Abzuhelfen sei dem wahlweise mit mehr Zuwendung, „Anerkennung der Lebensleistung“ oder einer schnelleren Angleichung der Renten. Das war immer schon und ist immer noch eine Deutung des Geschehens, die wie eine Reprise der Sonderweg-These anmutet. Sie kommt unter Absehung von ihren unzähligen Problemen einfach noch einmal zur Anwendung, weil man sie so praktisch findet: Das, was unter dem Titel „Der lange Weg nach Westen“ (Winkler 2014a, 2014b) zuletzt nur noch als bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte erzählt wurde, wird dem beigetretenen Osten als eine noch vor ihm liegende Wegstrecke verordnet.
Aber was, wenn im Osten nur etwas zum Vorschein gekommen ist, was mit einiger Verzögerung bald auch im Westen zu beobachten sein wird? Zunehmend geringes Politikinteresse, schwindende Mitgliederzahlen in den Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Vereinen – daher auch eine höhere Volatilität der Wahlergebnisse und des politischen Verhaltens – als Vorwegnahme der kommenden Entwicklungen auch im Westen (Holtmann 2019)? Und was, wenn jene neuen politischen Angebote, die zuerst von rechtspopulistischen Parteien Osteuropas formuliert wurden, nämlich die Verbindung sozio-ökonomisch linker und sozio-kulturell rechter Politikinhalte (Marks et al. 2006), nun auch in den Parteisystemen Westeuropas Einzug hielten und dort politisch zunehmend attraktiv werden würden, wofür es ja bereits hinreichende empirische Evidenz gibt (vgl. Manow 2018)? Was, wenn der liberale Westen gerade im Begriff ist, seine visionäre Kraft und seinen moralischen Kredit vollständig einzubüßen (Krastev/Holmes 2019)?
Zu den verzerrenden Effekten einer thematischen Rahmung „nachholende Modernisierung“ der sich in Deutschland vollziehenden Ereignisse gehört auch, dass die Ost-West-Perspektive den Blick auf eine auffällige Nord-Süd-Variation hinsichtlich des Erfolgs der AfD verstellt, die sich nicht so recht in die vorherrschende Interpretation einfügen will: Warum sind es in Deutschland eher die prosperierenden, hochgradig außenwirtschaftlich verflochtenen und nicht strukturschwachen Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen, also der Süden des Westens und der Süden des Ostens, in denen die AfD überdurchschnittlich hohe Zustimmung erzielen konnte?
Dieses regionale Muster, das auch nicht zu den gängigen Befunden über „abgehängte“ Regionen passen will (Deppisch et al. 2019, Franz et al. 2018, Schröder 2018), demonstriert beispielsweise der Vergleich von Abbildung 1, das die Stimmenanteile der AfD bei der Bundestagswahl im September 2017 zeigt, mit Abbildung 2, das die geografische Verteilung wirtschaftlicher und sozialer „Entbehrung“ oder „Deprivation“ illustriert.
Geografisches Muster der Deprivation in Deutschland (© Schwander/Manow 2017 a)
Geografisches Muster der Deprivation in Deutschland (© Schwander/Manow 2017 a)
Komplementär zu diesem erklärungsbedürftigen regionalen Muster verhält sich der Befund, dass bei allen uneinheitlichen Forschungsergebnissen hinsichtlich der Gründe für die AfD-Wahlerfolge es bislang keine starke Evidenz dafür gibt, dass das Wählerreservoir der Rechtspopulisten sich vor allem aus „Abgehängten“, prekär Beschäftigten, Arbeitsmarkt-Outsidern oder anderweitig Benachteiligten speist (Arzheimer 2015, Berbuir et al. 2015, Bermann et al. 2017, Betz/Habersack im Erscheinen, Frank 2015, Franz et al. 2018, Goerres et al. 2018, Hambauer/Mays 2018, Lux 2018, Manow/Schwander 2018, Niedermayer/Hofrichter 2016, Tutic/von Hermanni 2018). Der Aufstieg der Partei fällt zudem in eine langanhaltende Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, nicht des Abschwungs. Die pauschale Einschätzung, „rarely does populism rise in economic good times“ (Eichengreen 2018), ist daher wesentlich am Phänomen vorbei getroffen – und Deutschland ist in dieser Hinsicht auch kein Ausnahmefall, weil Vergleichbares etwa auch für die skandinavischen und die ost- und mitteleuropäischen Länder gilt.
Generell sieht sich die Forschung aber auch mit einer nicht ganz einfachen Datenlage konfrontiert, wobei – wie gesagt – sich wenigstens im negativen Sinne ein Forschungskonsens herauszubilden scheint, welche Faktoren sich eher nicht als erklärungskräftig erweisen. Da es sich bei der AfD um eine relativ neue Partei handelt, verfügen wir bislang nur über relativ wenige Beobachtungen zum Stimmenerfolg von Rechtspopulisten in Deutschland, auch wenn es mit den Republikanern in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren einen Vorläufer gab. Hinzu kommt, dass die Partei sich in der kurzen Zeit ihrer Existenz ideologisch-programmatisch stark gewandelt hat, eine Veränderung, die man pointiert auf die Formel „Von Lucke zu Höcke“ bringen könnte.
Aus einer ordoliberal angehauchten „Professorenpartei“, die den eher bürgerlichen Protest gegen die Eurorettungspolitik der Bundesregierung bündelte, wurde innerhalb weniger Jahre eine stramm national-konservative, teilweise rechtsextreme Partei, die seit dem Sommer 2015 insbesondere gegen die Flüchtlingspolitik der Merkel-Regierung mobilisiert. Wir müssen also davon ausgehen, dass es parallel zum Aufstieg der AfD auch eine erhebliche Veränderung ihrer Wählerschaft gegeben hat. Das würde die Aussagekraft früherer Studien für die gegenwärtige Lage einschränken.
In der Tat ergibt ein Vergleich der Faktoren, die 2013 und dann 2017 ausschlaggebend für die Wahl der AfD waren, deutliche Unterschiede. Es handelt sich bei der AfD also, nicht untypisch für eine Partei in einer Früh- und programmatischen Findungsphase, zu einem gewissen Maße noch um ein moving target (Schmitt-Beck 2017). Des Weiteren spielt eine Rolle, dass Umfragen zum Wahlverhalten generell und zu extremem Wahlverhalten im Besonderen notorisch unzuverlässig sind. Extremes Wahlverhalten wird in Umfragen systematisch unterberichtet – hier spielen regelmäßig normative Erwartungen, beispielsweise die „Erwünschtheit“ bestimmter Antworten in der Interviewsituation eine Rolle.
Damit ist noch gar nichts gesagt hinsichtlich der Qualität der sozio-ökonomischen Daten, die wir ja zusätzlich benötigen würden, um gesicherte Aussagen über die wirtschaftliche Lage des typischen AfD-Wählers, der typischen AfD-Wählerin treffen zu können. Das heißt, wir bräuchten nicht nur – idealerweise verlässliche – Angaben zum Wahlverhalten, sondern diese müssten sich kombinieren lassen mit möglichst präzisen Informationen zur jeweiligen wirtschaftlichen Situation, also zu Einkommen und Beschäftigungsverhältnis, zu Arbeitsmarktstatus, Beruf, Bildungsstand, Haushaltsgröße und so weiter sowie natürlich zu Basisdaten wie Alter und Geschlecht. Es gibt keine Datenquelle, die alle diese Wünsche erfüllt. Führt man qualitative Interviews, generiert das Probleme ganz eigener Art, vor allem solche der Repräsentativität.
Angesichts dieser Ausgangslage spricht viel dafür, weniger auf Umfragedaten zu setzen, sondern offizielle Daten der Wahl- und der Regionalstatistik auszuwerten, um die Determinanten des Wahlerfolgs der rechtspopulistischen AfD zu identifizieren. Beide Datenquellen bieten in ihrer Kombination reichhaltige, verlässliche und durch hohe Fallzahlen auch relativ robuste Informationen, die durch bisherige Studien noch nicht voll ausgeschöpft wurden. Sie sollen hier im Hinblick auf den unterschiedlichen Erfolg dieser rechtspopulistischen Partei in Ost und West genutzt werden.