Das Jahr 1980 ist als „braunes Terrorjahr“ in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen: Von Januar bis Mitte Dezember waren bei rechtsterroristischen Anschlägen – darunter das Oktoberfestattentat von München – 18 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Für die Todesopfer 19 und 20 dieses Terrorjahres sorgte am Heiligabend 1980 der deutsche Neonazi Frank Schubert. Bei einem missglückten Waffenschmuggel erschoss er an der Grenze zu Deutschland den Schweizer Grenzwachtgefreiten Josef Arnold und den Kantonspolizisten Walter Wehrli, bevor er sich nach einem Feuergefecht mit der Polizei selbst richtete.
Ein Neonazi aus der DDR Auf den Spuren eines Polizistendoppelmords
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Vor rund 41 Jahren, am 24. Dezember 1980, erschoss ein ehemaliger DDR-Flüchtling, der damals 23 Jahre alte Neonazi Frank Schubert, bei einem illegalen Grenzübertritt an der deutsch-schweizerischen Grenze zwei Beamte des Schweizer Grenzschutzes und beging danach Selbstmord. Schubert galt als fanatischer Einzeltäter, jetzt ausgewertete Geheimdienstakten zeichnen ein anderes Bild. Eine Recherche von Andreas Förster.
Ausschnitt aus dem Titelblatt des "Badener Tagblatts" vom 27. Dezember 1980 mit einem Bericht über die Morde und die Selbsttötung des deutschen Neonazis Frank Schubert. (© Archiv des Badener Tagblatts)
Der Fall Schubert ist bis heute eines der rätselhaftesten Verbrechen deutscher Neonazis. Da der Täter sich selbst erschossen hatte, legten die Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik damals keinen großen Elan in die Aufklärung der Tathintergründe. Schubert, der Monate zuvor abgetaucht war und bei den Ermittlern als eine Art „einsamer Wolf“ galt, wurde als fanatischer Einzeltäter abgetan, die Akte schon bald geschlossen. Aus bislang unbekannten Schweizer Ermittlungsakten und Informationen des Verfassungsschutzes, die hier erstmals ausgewertet werden, ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Demnach gehörte Schubert im Jahre 1980 einer rechten Terrorzelle in der Bundesrepublik an, die Attentate auf hochrangige Politiker und Strafverfolger plante. Auf seiner Reise in die Schweiz kurz vor dem Weihnachtsfest wollte er Waffen nach Deutschland holen, mit denen ein Anschlag auf einen hessischen Spitzenpolitiker durchgeführt werden sollten. Auffällig ist im Rückblick, dass die Mitglieder der terroristischen Vereinigung, der Schubert angehörte, wegen ihrer Anschlagsplanungen nie zur Verantwortung gezogen wurden. Was möglicherweise daran gelegen haben könnte, dass der Verfassungsschutz einen Informanten in diese Terrorzelle eingeschleust hatte. Wären dessen Informationen in Polizei- und Gerichtsakten aufgetaucht, hätte man ein Auffliegen der hochrangigen Quelle riskiert.
Indizien dafür finden sich in einer Ermittlungsakte der Schweizerischen Bundesanwaltschaft, die im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern (BAR) aufbewahrt wird. Zur Auflösung der Fußnote[1] Nach dem Polizistenmord vom Heiligabend 1980 hatten Strafverfolger und Geheimdienste aus Deutschland und der Schweiz über Jahre hinweg ihre Erkenntnisse über Schubert und dessen Komplizen in der rechtsterroristischen Szene von Deutschland, Frankreich und der Schweiz ausgetauscht. Zuständig für den Informationsaustausch mit den ausländischen Geheimdiensten war auf Schweizer Seite das Kommissariat IV der Bundespolizei. In deren Berichten finden sich umfangreiche Angaben, die Bern vom deutschen Bundeskriminalamt, aber vor allem auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln – in den Akten als „Verbindung XVI“ anonymisiert – erhalten hatte. Die Informationen von „Verbindung XVI“ basieren dabei überwiegend auf den Berichten des eingeschleusten Informanten, bei dem es sich um eine Art Verdeckten Ermittler des Geheimdienstes gehandelt haben dürfte.
Flüchtling aus der DDR
Frank Schubert, 1957 in Ostberlin geboren, war 1977 über die Berliner Mauer aus der DDR in den Westen geflüchtet. Schon mit 17 Jahren hatte er eine Flucht wagen wollen, war mit einem Freund aber bei der Zugfahrt in die CSSR geschnappt worden, bevor er sich nach Österreich durchschlagen konnte. Zurück in der DDR begann er eine Lehre als Koch und arbeitete zuletzt in den damaligen Wernesgrüner Bierstuben an der Karl-Liebknecht-Straße am Alexanderplatz. Damals wohnte er noch bei seinen Eltern, mit denen er schon lange über Kreuz lag. Sein Vater war Lehrer an der Erweiterten Oberschule – so hießen Gymnasien in der DDR – „Heinrich Hertz“ in Friedrichshain, seine Mutter Erzieherin in einem Pankower Kinderheim. Zur Auflösung der Fußnote[2] Im Westen kam der 20-Jährige als erstes bei Verwandten in Berlin-Spandau unter. Seine Lehre als Koch setzte er zunächst fort, aber dann schmiss er hin. Westberlin war ihm zu eng und die rechte Szene, in die der Karatekämpfer mit Schnauzbart und streng gescheiteltem Haar schon bald nach seiner Flucht über die Mauer eingetaucht war, wohl auch nicht radikal genug. Er ging nach Frankfurt am Main, jobbte als Kellner und Gärtnergehilfe, bezog eine Wohnung in der Hanauer Landstraße 497. Im Nazi-Buchladen einer Firma namens „Verlag Volk und Kosmos GmbH“ im Stadtteil Bornheim, die damals das Zentrum der braunen Frankfurter Szene war und mit dem Rechtsextremisten Meinolf Schönborn in Verbindung stand, geriet er mit radikalen Gesinnungsgenossen in Kontakt. Einer von ihnen war der damals erst 16-jährige Elektrolehrling Walther Kexel. Kexel war 1977 bereits ein führender Funktionär in der von Friedhelm Busse gegründeten Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands – Partei der Arbeit (VSBD/PdA). Bei der VSBD handelte es sich um eine unter dem Deckmantel einer Partei agierende terroristische Organisation, in der sich vor allem versprengte Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann und Aktivisten der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen Nationalsozialistischen Kampfgruppe Großdeutschland gesammelt hatten.
Über seinen Freund Kexel fand auch Schubert den Weg zur Busse-Partei und deren militanter Jugendgruppe „Junge Front“ (JF). Der junge Mann aus dem Osten wurde bald zum Vertrauten von Parteichef Busse, der nach eigenen Worten „an die Zukunft dieses sympathischen Jungen geglaubt“ hatte. Zur Auflösung der Fußnote[3] Die Zukunft, wie sie sich Busse und Schubert ausmalten, war ein nationalsozialistisches Deutschland, ein „Viertes Reich“. Der Ostdeutsche versteckte seine Gesinnung dabei nicht. Er prügelte mit rechten Kameraden in der Frankfurter Innenstadt auf Passanten ein und lief mit Totenkopf und Hakenkreuz auf Helm und Kampfjacke durch Paris. Allein im Jahr 1980 nahm ihn die Polizei fünfmal fest. In einem polizeiinternen Bericht vom September 1980 heißt es, dass der Karatekämpfer Schubert „im Streitfall seine Körperkraft und auch Waffen brutal und rücksichtslos einsetzt“. Zur Auflösung der Fußnote[4]
Während sich die VSBD nach außen als gewaltfreie Organisation gab, die sich auf die Verteilung von NS-Propagandamaterialien konzentrierte, fanden sich einige ihrer Mitglieder mit Duldung von Parteichef Busse zu kleinen Terrorzellen zusammen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat forcieren wollten. Eine dieser Zellen wurde angeleitet von dem 1931 geborenen Wolfgang Koch, einem arbeitslosen Portier und mehrfach unter anderem wegen Brandstiftung und unerlaubten Waffenbesitzes vorbestraften VSBD-Mitglied aus Frankfurt am Main. Kexel, der Kochs Gruppe bis etwa 1981 angehörte, hatte seinem Anführer den neuen Freund aus dem Osten vorgestellt. Koch fand sofort Gefallen an Schubert und dessen Gewaltbereitschaft. Der Quelle, die der Verfassungsschutz Anfang der 1980er-Jahre in die Gruppe eingeschleust hatte, sagte Koch, Schubert sei seine „rechte Hand und Adjutant“ gewesen. Mehrfach seien sie zusammen in die Schweiz und nach Frankreich gefahren und hätten dabei auch Waffen und Geld über die Grenzen geschmuggelt. Zur Auflösung der Fußnote[5]
Die Gruppe Koch verstand sich als Teil eines militanten Netzwerks, das ab Ende der 1970er-Jahre von der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands/Aufbau- und Auslandsorganisation (NSDAP/AO) aufgebaut wurde. Die von dem amerikanischen Neonazi und Holocaustleugner Gary Lauck geführte Organisation mit ihrem Parteibüro in Lincoln (US-Bundesstaat Nebraska) bekannte sich zum Nationalsozialismus, zu Adolf Hitler und einem „Freiheitskampf für Deutschland“. Ziel war die Wiederzulassung der NSDAP in Deutschland. Zur Auflösung der Fußnote[6] Dazu unterstützte man rechtsextreme Gruppen in der Bundesrepublik wie die VSBD mit Geld und Propagandamaterialien, etwa den Untergrundzeitungen „NS-Kampfruf“ und „Völkischer Beobachter“, mit Hakenkreuzaufklebern, Armbinden und anderen NS-Devotionalien. Hitlers Schrift „Mein Kampf“ galt als ideologische Grundlage der Organisation, „der bewaffnete Kampf unter dem Zeichen des Werwolfes“ wurde als eine logische Fortsetzung der Propaganda legitimiert. Daher half die NSDAP/AO in dieser Zeit auch bei der Beschaffung von Geld und Waffen, mit denen Terrorzellen Banküberfälle und Anschläge verüben sollten. Eine wichtige Rolle als konspirative Anlaufpunkte insbesondere für die neofaschistischen Kader in Deutschland spielten dabei die NSDAP/AO-Verbindungsbüros in der Schweiz, in Madrid, Brüssel, Antwerpen, Paris und Marseille. Zur Auflösung der Fußnote[7]
Politiker als Anschlagsziele
Die Gruppe Koch nutzte als Rückzugsraum Wohnungen in Paris, die Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Fasceaux Nationalistes Européens (FNE) gehörten. In einer davon, gelegen in der Rue de Douni, hatte die Terrorzelle ein „Sicherheitsbüro“ eingerichtet und Unterlagen mit konkreten Anschlagsplänen versteckt. Wie der deutsche Verfassungsschutz den Schweizer Ermittlern mitteilte, hatte der vom BfV eingeschleuste Informant diese Unterlagen einsehen können. Demnach war von der Terrorzelle spätestens 1979 eine sogenannte Todesliste mit potenziellen Attentatszielen erarbeitet worden. Darauf standen etwa der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) sowie seine Länderkollegen aus Hessen und Bayern – Ekkehard Gries (FDP) und Gerold Tandler (CSU) – sowie Heinz Galinski, damals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und mehrere Staatsanwälte und Richter aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Gruppe hatte bereits die Lebensumstände der potenziellen Opfer penibel ausgekundschaftet. In den vom V-Mann eingesehenen Unterlagen fanden sich etwa Angaben über Wohnorte, Fahrzeuge und Gewohnheiten der betroffenen Personen, aber auch Grundrissskizzen von Wohnungen und Büros sowie Karten mit Arbeitswegen der Zielpersonen und Schulwegen ihrer Kinder. Zur Auflösung der Fußnote[8]
Ausschnitt aus den Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv (BAR) in Bern, die der Autor sichten durfte. Auf dem mittleren Blatt stehen unter Quelleninfo Informationen, die damals eine Quelle des deutschen Verfassungsschutzes weitergegeben hat, dazu zählen die Namen potenzieller Anschlagsopfer der Neonazi-Gruppe Koch. (© BAR)
Bis Ende 1980 gehörte der Gruppe Koch neben Kexel und Schubert auch der Frankfurter Neonazi Ludwig Uhl an. Zur Auflösung der Fußnote[9] Uhl und Schubert sollten im September 1980 den ersten Mordanschlag verüben, und zwar auf den hessischen FDP-Politiker Gries. Durch einen Verkehrsstau schlug die Aktion allerdings fehl, berichtete der Verfassungsschutzagent unter Berufung auf die von ihm eingesehenen Unterlagen. Als das Mordkommando am ausgewählten Tatort eintraf, sei der Innenminister bereits weg gewesen. Zur Auflösung der Fußnote[10]
Um die Jahreswende 1980/81 herum wollte die Gruppe Koch einen zweiten Anlauf unternehmen, um ihre Anschlagspläne umzusetzen. Aber vorher sollten Waffen beschafft werden – eine Maschinenpistole, ein Gewehr mit Zielfernrohr, eine Pistole mit Schalldämpfer. „Sauber“ mussten die Waffen sein, sie durften also noch nicht bei früheren Straftaten eingesetzt worden sein. Um die Waffen zu bezahlen, sollte zunächst eine Bank überfallen werden. Den Job übernahm Frank Schubert, der neue Mann in der Gruppe Koch. Am 15. Oktober 1980 raubte er eine Sparkasse im hessischen Zwingenberg bei Bensheim an der Bergstraße aus. Dabei feuerte er mit einer Maschinenpistole in die Luft, ein Querschläger verletzte ihn leicht am Bein. Einen Teil der Beute, 3.000 D-Mark, übergab Schubert dem VSBD. Anschließend sei er, so erzählte es sein Freund Walter Kexel später den Ermittlern, in den Untergrund gegangen. Schubert habe seine Wohnung und Arbeitsstelle nicht mehr aufgesucht und stattdessen in einem Zelt im Odenwald und im Taunus kampiert. Zur Auflösung der Fußnote[11]
Offenbar aber unternahm er in dieser Zeit gemeinsam mit Wolfgang Koch auch mehrere Reisen in die Schweiz und nach Frankreich, zu den Verbündeten von der FNE. Mindestens viermal besuchten Schubert und Koch dabei auch den Schweizer Rechtsextremisten und Waffenhändler Marcel R. in dessen Wohnort Ossingen (Kanton Zürich), der enge Beziehungen zu der Terrorzelle unterhielt. Der 1964 geborene R., wie seine deutschen Besucher ebenfalls eingeschriebenes Mitglied der NSDAP/AO, unterhielt seit Jahren enge Beziehungen zu Neonazis in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten. Er hatte nach eigenen Angaben an mehreren paramilitärischen Ausbildungslagern teilgenommen, in denen Überfälle und das lautlose Töten geübt wurden. Auch verfügte er über mehrere eigene Waffen und galt in der Szene als Waffenbeschaffer. Zur Auflösung der Fußnote[12]
Bei einem der Besuche von Schubert übergab R. ihm einen Karabiner Mod. 98 mit Zielfernrohr. Zuvor hatte die Gruppe Koch schriftlich bei R. noch weitere Waffen bestellt, darunter einen Karabiner der Marke TOZ, Kaliber 22, und eine Pistole Kaliber 7.65 mit Schalldämpfer. Ob diese Waffen von dem Schweizer beschafft wurden, konnten die Ermittler zunächst nicht klären. Zur Auflösung der Fußnote[13] Der Quelle des Verfassungsschutzes erzählte Koch jedoch später, R. habe der Gruppe über einen längeren Zeitraum hinweg mehrere Waffen besorgt, die von Schubert wasserdicht verpackt und in einem See im Kanton Aargau versenkt worden seien. Er, Koch, habe daher eine Taucherausrüstung für Schubert besorgt, damit er die Waffen später bergen und nach Deutschland schmuggeln könne. Dass Schubert kurz vor Weihnachten 1980 in die Schweiz fuhr, um für den geplanten Anschlag auf Innenminister Gries das Waffenversteck zu heben, sei jedoch ein Alleingang gewesen. Eigentlich habe er, Koch, den Zeitpunkt zum Holen der Waffen bestimmen wollen. Zur Auflösung der Fußnote[14]
Im Taucheranzug durch den Rhein
Die Reise in die Schweiz unternahm Schubert nicht allein. Am 20. Dezember, vier Tage vor seinem Tod, traf er sich an der Bergstraße mit Walter Kexel von der Gruppe Koch. Kexel hatte in Frankfurt am Main einen VW Jetta mit dem Kennzeichen F-DM 925 angemietet. In den Kofferraum des Autos packten sie eine Reisetasche und einen Rucksack mit dem von Koch beschafften Taucheranzug sowie ein kleines, noch zusammengefaltetes Schlauchboot samt Blasebalg. Dann ging es zur Schweizer Grenze an den Rhein. Schubert stieg aus, zog den Taucheranzug an und schwamm durch den Fluss an das Schweizer Ufer. Kexel passierte ganz legal die Grenze und sammelte seinen Freund an einem vorher verabredeten Treffpunkt wieder ein. Am nächsten Tag – die Nacht hatten die beiden im Auto verbracht – fuhren sie weiter nach Ossingen, zu Marcel R. Der hatte in den Tagen zuvor noch eine Bestellung über eine weitere Pistole mit Schalldämpfer von der Gruppe Koch erhalten. In Ossingen aber trafen sie R. nicht an, der sich zu dieser Zeit vergeblich bei der Fremdenlegion in Frankreich bewarb. Zur Auflösung der Fußnote[15] Offenbar, so erzählte es später Koch dem Verfassungsschutz-Agenten, erhielt Schubert dennoch eine Pistole ausgehändigt, vermutlich von R.s Mutter. Zur Auflösung der Fußnote[16]
Die darauffolgende Nacht verbrachten Schubert und Kexel wieder im Auto, weil sie am nächsten Tag – einem Montag – in Basel noch Munition für die Pistole kaufen wollten. Die Geschehnisse der nächsten beiden Tage bleiben auch in den Ermittlungsakten unklar. Nach Kexels Darstellung seien sie von Basel nach Genf an die französische Grenze gefahren. Hier hätten sich beide wieder trennen wollen. Schubert sollte mit der in einer wasserdichten gelben Stofftasche versteckten Pistole durch den Grenzfluss schwimmen, während Kexel mit dem VW Jetta über den Grenzübergang nach Frankreich fahren wollte, um den Freund wieder aufzunehmen. Ziel sei es gewesen, die Pistole in das Pariser „Sicherheitsbüro“ der Gruppe zu schaffen, behauptete Kexel. Er sei aber an der Grenze mehrere Stunden lang aufgehalten und von der Polizei vernommen worden, so dass er deshalb verspätet am Treffpunkt anlangte. Für den Fall hatten beide verabredet, sich auf getrennten Wegen nach Paris zu begeben, sagte Kexel. Da er aber angeblich die Adresse des „Sicherheitsbüros“ dort nicht kannte, sei er schließlich wieder zurück nach Deutschland gefahren und am 23. Dezember spätabends in Frankfurt angekommen. Zur Auflösung der Fußnote[17]
Die Darstellung Kexels ist mit Vorsicht zu bewerten. Denn er dürfte bei seiner Aussage 1984, vier Jahre nach dem Polizistenmord an der Schweizer Grenze, kein Interesse daran gehabt haben, in das Verbrechen als Mittäter hineingezogen zu werden. Deutlich wahrscheinlicher ist daher ein anderes Szenario: Schubert und Kexel kamen aus Vorsicht überein, auf den Schmuggel der Pistole nach Paris zu verzichten. Da Kexel an der Grenze von der Polizei vernommen worden war, lag die Möglichkeit nahe, dass die Behörden seinen weiteren Reiseweg durch Frankreich im Blick behalten würden. Es ist daher zu vermuten, dass sich die beiden für den 24. Dezember auf deutscher Seite verabredeten, wo Schubert schon auf dem Hinweg durch den Rhein schwimmend die Grenze überquert hatte. Sollte das so gewesen sein, ist es durchaus möglich, dass Kexel von der deutschen Uferseite aus Augenzeuge des Geschehens an jenem Nachmittag an Heiligabend 1980 wurde.
Gegen 14.30 Uhr an diesem Tag war Schubert offenbar dabei, die in der Schweiz in einem See versteckten Waffen in einem Schlauchboot zu verstauen, um sie über den Rhein nach Deutschland zu schaffen. Auf dem Rheinuferweg nahe dem Dorf Koblenz im Kanton Aargau, wo die Aare in den Rhein mündet, muss es zu dieser Zeit zu der verhängnisvollen Begegnung mit dem 38-jährigen Schweizer Grenzwachtgefreiten Josef Arnold gekommen sein. Offenbar entdeckte der Beamte auf seinem Streifengang Schubert mit Schlauchboot und Taucheranzug und wollte ihn zur Rede stellen. Der Deutsche streckte ihn mit zwei Schüssen in Kopf und Oberkörper nieder, zerrte die Leiche in ein Gebüsch und deckte sie mit Tannenzweigen zu.
Arnold hatte vor der Kontrolle Schuberts über Funk seinem Grenzposten die verdächtige Beobachtung gemeldet. Als er dann nicht mehr erreichbar war, fuhren zwei weitere Grenzposten – der 31-jährige Walter Wehrli und der zwei Jahre jüngere Josef Weibel – mit dem Auto zum Rheinuferweg. Eine Viertelstunde war nach den Todesschüssen vergangen, als ihnen am Dorfrand von Koblenz ein Fußgänger auffiel. Es war Schubert. Als der Polizeiwagen anhielt, eröffnete der Rechtsterrorist sofort das Feuer. Wehrli, der am Steuer saß, wurde tödlich getroffen; sein Begleiter Weibel konnte aus dem Auto springen und sich – von drei Schüssen in die Beine getroffen – einen Abhang hinunterrollen. Schubert zerrte den tödlich getroffenen Wehrli aus dem Auto und raste mit dem Fahrzeug davon.
Selbstmord im Gebüsch
Die Polizei löste eine kantonweite Fahndung aus, an den Grenzübergängen nach Deutschland wurden die Kontrollen verstärkt. Aber erst zwei Stunden nach den tödlichen Schüssen auf Arnold wurde das Fluchtfahrzeug mit der zerschossenen Heckscheibe gefunden – im Wald bei Böttstein, keine sieben Kilometer entfernt vom Tatort. Rund 200 Polizisten riegelten das Gebiet ab. Schubert war inzwischen an einem Bach entlang ins Dorf Böttstein gelaufen. Dort stoppten ihn zwei Polizisten. Wieder eröffnete der Terrorist sofort das Feuer, traf einen der beiden Beamten in die Schulter. Er lief weiter in den Schlosspark und versteckte sich in einem Gebüsch am Weiher. Als ein weiterer Schuss fiel, stürmten schließlich herbeigerufene Einsatzkräfte das Versteck. Dort fanden sie die Leiche Schuberts, der sich mit einem Kopfschuss selbst gerichtet hatte. Der Terrorist hatte eine Pistole bei sich mit mehr als 500 Schuss Munition sowie zwei Ausweise, von denen einer gefälscht war. Zur Auflösung der Fußnote[18]
Ungeklärt blieb allerdings der Verbleib einer gelben wasserdichten Reisetasche, die Schubert bei seiner Konfrontation mit den beiden Polizeibeamten Wehrli und Weibel noch bei sich hatte. Es ist zu vermuten, dass darin die Waffen versteckt waren, die der Terrorist zuvor aus einem See geborgen hatte, um sie im Schlauchboot über den Rhein nach Deutschland zu schaffen. Eine großangelegte Suche in den Wäldern rings um die Tatorte führte zu nichts. Möglicherweise hatte Schubert die Tasche auf seiner Flucht in die Aare geworfen. Zur Auflösung der Fußnote[19]
Kexel gab in seiner Vernehmung von 1984 an, erst am darauffolgenden ersten Weihnachtsfeiertag im Radio von dem Doppelmord und Schuberts Selbstmord gehört zu haben. Er habe daraufhin die Tragetasche und den Rucksack seines Freundes, die er noch im Auto hatte, in den Müll geworfen. Anschließend sei er – und das ist ein bemerkenswertes Detail – nach Ermreuth in Franken gefahren, in das Schloss von Karl-Heinz Hoffmann. Er habe ihn um Rat fragen wollen, wie er sich weiter verhalten solle, sagte Kexel aus. Zur Auflösung der Fußnote[20]
Der Anführer der Anfang 1980 von den Behörden verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann hielt sich zu dieser Zeit mit einigen seiner Kameraden jedoch im Libanon auf, wo er eine Art deutsche Söldnerarmee aufbauen wollte, die an der Seite der Palästinenser gegen Israel und die USA kämpfen sollte. Deshalb konnte Kexel lediglich mit Hoffmanns Partnerin Franziska Birkmann sprechen, die aber zusagte, den WSG-Chef in der Sache zu kontaktieren. Bemerkenswert ist dieser Vorgang deshalb, weil er einmal mehr die führende Rolle Hoffmanns im Netzwerk der deutschen Terrorzellen in jener Zeit unterstreicht und seine Verbindung zu den Attentaten des Jahres 1980 in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Nur wenige Tage nach Schuberts Tod reiste VSBD-Chef Busse in die Schweiz und sprach bei den Behörden vor, damit der Leichnam seines Parteimitglieds alsbald überführt und „in deutscher Erde“ beigesetzt werden kann. Auf Schuberts Beerdigung, organisiert von der ultrarechten, im Jahr 2011 verbotenen Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG), beschwor der Trauerredner unter „Sieg Heil“-Rufen den Kampfeswillen der rechten Kameraden: „Wir müssen bereit sein, zu sterben, zu retten die Ehr’“, rief er laut einem Zeugen auf der nur für Gesinnungsfreunde zugelassenen Trauerfeier am 12. Januar 1981 auf dem Waldfriedhof Frankfurt-Oberrad. Zur Auflösung der Fußnote[21]
In die Szene eingebunden
Einige Jahre danach noch wurden regelmäßig am 24. Dezember Blumen an dem Ort niedergelegt, wo Schubert sich das Leben genommen hatte. Wer das Gedenken organisierte, blieb ungeklärt. Zudem besuchten zwei Abgesandte des VSBD aus Westberlin in unregelmäßigen Abständen die Eltern Schuberts in Ostberlin. Bei ihren Besuchen, die sich bis Februar 1983 fortsetzten, übergaben sie Fotos von der Beisetzung Frank Schuberts sowie von dessen Grab und der Gedenkfeier des VSBD anlässlich seines ersten Todestages. Auch Briefe der Anführer von HNG und VSBD übermittelten die Besucher aus Westberlin. Zur Auflösung der Fußnote[22] All das belegt, dass der Rechtsterrorist Schubert kein Einzelgänger, sondern als Kampfgefährte fest in die bundesdeutsche rechtsextreme Szene eingebunden war.
1980 hatte es mehrere Anschläge durch Neonazis in der Bundesrepublik gegeben. Insgesamt 18 Menschen starben. Spurensuche nach einem Sprengstoffanschlag auf eine Auschwitz-Ausstellung im Landratsamt in Esslingen am 21. Februar 1980. Hierfür verantwortlich war die neonazistische Organisation "Deutschen Aktionsgruppen (DA). (© picture-alliance, Albert Ostertag)
Die Gruppe Koch machte weiter. Den Platz von Schubert übernahm der Schweizer Neonazi Marcel R., der vorher schon der Waffenlieferant der Gruppe war. Koch wollte ihn als Leiter des „Sicherheitsbüros“ in Paris einsetzen. Zur Auflösung der Fußnote[23] Der Posten war vakant geworden, nachdem Ludwig Uhl bei einer Schießerei in München von der Polizei getötet worden war. Auch Kexel hatte die Gruppe Koch verlassen und zusammen mit seinem Freund Odfried Hepp – einem früheren Mitglied der WSG Hoffmann und Stasi-IM24 – eine neue Organisation gegründet, die sich vom „Hitlerismus“ der NSDAP/AO abwandte, einen nationalrevolutionären Befreiungskampf verkündete und fortan Anschläge auf die in Deutschland stationierten US-Streitkräfte verübte. Die deutschen und schweizerischen Behörden, die die Aktivitäten der Rechtsterroristen weiterhin überwachten, gingen gleichwohl von gemeinsamen Aktionen der Gruppe Koch und der Hepp-Kexel-Gruppe aus.
Im Februar 1983 wurde die Hepp-Kexel-Gruppe zerschlagen, fünf Mitglieder mussten sich wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung, Banküberfällen und versuchtem Mord vor Gericht verantworten. Zur Auflösung der Fußnote[24] Auch mehrere Mitglieder der Gruppe Koch – darunter der Anführer Wolfgang Koch – wurden verhaftet. Auffällig ist allerdings, dass ihnen die Vorbereitung terroristischer Straftaten nicht zur Last gelegt wurde. Was vermutlich daran lag, dass der Verfassungsschutz die Informationen seiner in die Gruppe eingeschleusten Quelle – und möglicher weiterer V-Leute in deren Umfeld – als nicht gerichtsverwertbar einstufte. Koch kam schon bald wieder auf freien Fuß, blieb aber im Visier der deutschen Behörden. So informierte etwa im Januar 1985 das Kölner BfV die Schweizer Bundespolizei, dass Koch plane, den flüchtigen Hepp in der Schweiz zu treffen.
Obwohl sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Schweiz um den Jahreswechsel 1981/82 herum die Todesermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Polizisten-Doppelmord vom Heiligabend 1980 ohne Anklageerhebung eingestellt worden waren, lief der Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz („Verbindung XVI“) und dem Kommissariat IV der Schweizer Bundespolizei weiter. Im Mittelpunkt standen dabei die gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe Koch und der Hepp-Kexel-Gruppe. Am Ende eines Vermerks vom 16. August 1983, in dem neue Informationen aus Köln wiedergegeben werden, wird das BfV mit der Bitte zitiert, „diese zum großen Teil schutzbedürftigen Informationen nicht an dritte Stellen weiterzugeben und nicht zum Vorhalt zu nutzen“. Zur Auflösung der Fußnote[25] Erst jetzt wurde eine Akteneinsicht möglich. Zur Auflösung der Fußnote[26]
Zitierweise: Andreas Förster, "Ein Neonazi aus der DDR - Auf den Spuren eines Polizistendoppelmords“, in: Deutschland Archiv, 06.08.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/326830. Der Beitrag erschien in einer kürzeren Fassung am 25.7.2021 auch in der Berliner Zeitung. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend zum Thema:
- Interner Link: "Die Neonaziszene ist wie eine Sekte", ein Gespräch mit dem Szene-Aussteiger Ingo-Hasselbach, Deutschland Archiv 24.4.2020