Es war das kultur-politische Ereignis Ende November 1971 in der DDR. Seit Tagen kündigte die Presse die XIV. Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche an. Das Neue Deutschland warb, mehr als 300 Filme aus annähernd 40 Ländern seien eingegangen; 75 Kino- und Fernsehstreifen würden in der Messe-Stadt gezeigt werden. Zuletzt präsentierte eine internationale Jury unter Vorsitz von Karl-Eduard von Schnitzler, dem Chef-Kommentator des DDR-Fernsehens, verschiedene Preisträger. Und vor dem Hintergrund der Ereignisse in Lateinamerika und Südostasien hatte es zweifellos symbolischen Gehalt, als die Hauptpreise der Filmwoche – in Gestalt an die „Friedenstaube“ von Picasso angelehnter „Goldener Tauben“ – an chilenische und einen vietnamesischen Filmemacher gingen.
Ein im Wortsinn „kultur-politisches“ Ereignis war die Leipziger Filmwoche, weil sie Künstlern, Politikern und Kommentatoren eine öffentliche Bühne bereitete, ostdeutsche Orientierungen wie Weltoffenheit, Solidarität, Humanismus, Sozialismus, Kultur und Frieden zu präsentieren. Für solches Sendungsbewusstsein sprachen beispielsweise ein Filmbeitrag und eine Resolution zur Freilassung der in den USA inhaftierten Kommunistin Angela Davis, oder ein dem persönlich anwesenden US-amerikanischen Schauspieler und „Friedenssänger“ Dean Reed gewidmeter Film.
Für den 27jährigen Lutz-Peter Naumann bedeutete die Leipziger Filmwoche 1971 zunächst einmal berufliche Beschäftigung und später vor allem den Abschied aus einer DDR, wie er sie bis dahin kannte. Diese DDR war ein über die Maßen widersprüchlicher Staat. Denn zu Beginn der 1970er Jahre öffentlich präsentierte Orientierungen kontrastierten Stigmatisierung und Markierung Einzelner und ganzer Gruppen jenseits der Mehrheitsgesellschaft.
Unbenommen vom Streben nach internationaler Anerkennung, damit verknüpften Trends stärkerer Verrechtlichung von Politik und Gesellschaft – oder auch nur der Imitation dessen – blieben staatliche Willkür und politische Repression gegenwärtige Phänomene der ostdeutschen Wirklichkeit. Am biographischen Beispiel von Lutz-Peter Naumann und mit besonderem Augenmerk auf zwei spezielle Quellentypen – Vernehmungsprotokolle und Haftbriefe – nähert sich dieser Text dem historischen Verstehen eines spezifischen Refugiums staatlicher Willkür und politischer Repression: der Untersuchungshaft beim Ministerium für Staatssicherheit.
Geheimpolizeiarbeit im historischen Kontext und Biographie
Bereits im Sommer 1969 hatte die Staatssicherheit – genauer: der für Kultur und Medien zuständige Arbeitsbereich der Abteilung XX in der Bezirksverwaltung Potsdam – eine Gruppe junger Erwachsener im Großraum Potsdam-Berlin in den Blick genommen. Die Namenstaufe auf „Gesellschaft zur Erlangung nichtverbreiteter Kenntnisse“, ein Mitgliedsbeitrag und unregelmäßige Treffen von einem knappen Dutzend Personen definierten die Gruppe, die man schlicht für eine zeitgenössische Philosophenrunde hätte halten können. Nicht so sehr, dass sich die Gruppe philosophischen Fragestellungen widmete, trieb die Geheimpolizei um. Schwerwiegend aber war deren Markierung als „revisionistische Plattform“. Themen wie „Freiheit und Notwendigkeit“, „Biermann heute“ oder Gespräche zu Robert Havemann provozierten bei der Staatssicherheit den Reflex, die „Liquidation“ – also die Zerstreuung – der Gruppe anzustreben.
Zusammenschlüsse zum Meinungs- und Gedankenaustausch jenseits staatssozialistischer Strukturen schienen anrüchig, zumal mit Blick auf den Prager Frühling, dessen Niederschlagung im August 1968 und wenn der Personenkreis einer wie auch immer gearteten „Demokratisierung“ bzw. „Liberalisierung“ der DDR nachzuhängen schien. Typischerweise schloss die Staatssicherheit dann – so auch im konkreten Fall, die Philosophenrunde müsse „Instrument der Konterrevolution“ sein. Eben in Lutz-Peter Naumann erblickte die Staatssicherheit eine Leitfigur der Gruppe. Sie verdächtigte ihn der „staatsfeindlichen Hetze“ bzw. der Beteiligung an „staatsfeindlicher Gruppenbildung“, laut DDR-Strafgesetzbuch drohte darauf eine Freiheitsstrafe bis zu zwölf Jahren. Verhaltensweisen wie Besitz und Weitergabe westdeutscher Zeitschriften, Verulkungen staatssozialistischer Persönlichkeiten und des SED-Parteilebens sowie der Besitz nationalsozialistischer Literatur galten der Geheimpolizei als Beweise.
All das stand für die zeithistorische Konstellation, als unmittelbar vor dem Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honecker konservative Positionen innerhalb der SED-Führung an Einfluss und die Staatssicherheit an deren Seite politische Macht gewannen. Die Geheimpolizei profitierte seinerzeit von einem bis dahin nicht gekannten und in den 1970er Jahren fortwährend anhaltenden Ressourcenausbau. Der Verrechtlichung der Herrschaft beispielsweise in Gestalt des DDR-Strafgesetzbuches von 1968, der Deutschlandpolitik und dem Beitritt zu internationalen Vertragswerken Anfang der 1970er Jahre, stellte die Staatssicherheit im Sinne der SED-Führung eine „Sicherheitsdoktrin“ zur Seite, deren Umsetzung einen Zuwachs an Personal, Mitteln und Aufgaben bedeutete.
Lutz-Peter Naumann, 1944 geboren, lebte in einer Kleinstadt unweit von Potsdam, hatte eine Lehre als Viehzüchter abgeschlossen, studierte in Potsdam Archivwesen und arbeitete bis 1968 als Archivar in einem Landwirtschaftsbetrieb. Im August 1968 wechselte Naumann als Archivar ans DEFA-Spielfilmstudio, Anfang 1971 wurde er für einige Monate Leiter des Filmarchivs im Deutschen Fernsehfunk. Als Angehöriger der ersten in die DDR hineingeborenen Generation erschien der junge Naumann keinesfalls als nicht linientreu: 1957 ging er den Weg in die FDJ, 1960 in den FDGB und die DSF, 1962 in die SED, war dort zwischenzeitlich Parteigruppenorganisator. Seinen dreijährigen Grundwehrdienst absolvierte Naumann beim Wachregiment der Staatssicherheit in Berlin.
Ausgerechnet während seiner Zeit im Wachregiment und beim Besuch einer FDJ-Schule knüpfte Naumann Freundschaften, die ihn zur inneren Haltung inspirierten, im ostdeutschen Staat gebe es keine Meinungsfreiheit. Die ostdeutschen Herrscher stellte das vor eine besondere Herausforderung: Kritische Reflektion, Renitenz und Opposition wurden keinesfalls ausschließlich jenseits der Mehrheitsgesellschaft, in Restbeständen bürgerlicher Milieus oder in Gestalt intellektuell-künstlerischer Dissidenz kultiviert, sondern bisweilen auch in den Nachwuchsstuben der künftigen Funktionselite.
Der vormaligen Gruppe um Naumann schrieb die Geheimpolizei Anfang 1971 derweil kaum mehr eine Relevanz zu. Das hatte nicht unwesentlich mit ihrem eigenen Agieren zu tun: Zwischenzeitlich spickte die Staatssicherheit die Gruppe mit mehreren Informanten. Vernehmungen und Verhaftungen ebenso wie interne Offenbarungen einzelner Informanten verunsicherten, provozierten Misstrauen und auf die eigene Sicherheit abzielende Verhaltensstrategien.
Im Frühjahr 1971 fokussierte sich die Staatssicherheit dafür auf einen anderen Aspekt. Nicht aus bloßer Willkür, sondern auf einen Hinweis vom sowjetischen „Bruderorgan“ verdächtigte die ostdeutsche Geheimpolizei Naumann nunmehr der „Spionage“ und der „Sammlung von Nachrichten“, weil er private Kontakte zu sowjetischen Armeeangehörigen unterhielt und seine kritische Einstellung nun mit einer besonders brisanten Akteursgruppe teilte. Insbesondere mit erstgenanntem Vorhalt waren drastische Strafen nicht unter fünf Jahren Haft verbunden, in besonders schweren Fällen bis zu Lebenslänglich oder der Todesstrafe. Im Jahresverlauf verschärfte die Geheimpolizei ihre Gangart und provozierte fachliche und politische Konflikte an Naumanns Arbeitsplatz.
Als „verdeckte Repression“ praktizierte die Staatssicherheit hier im Wesentlichen bereits das, was sie in einer Richtlinie Anfang 1976 dann als „Maßnahmen der Zersetzung“ ausformulieren sollte. Nach kurzer Tätigkeit beim Deutschen Fernsehfunk arbeitete Lutz-Peter Naumann in der zweiten Jahreshälfte 1971 bei der Leipziger Filmwoche. Ironischerweise trug er hier seinen Anteil zur eingangs beschriebenen Inszenierung des ostdeutschen Staates bei, unterdessen die Potsdamer Bezirksverwaltung der Staatssicherheit eine konzertierte Aktion mehrerer Schrittfolgen gegen ihn plante: Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens ohne Haft, Zuführung und Vernehmung sowie gleichzeitige Hausdurchsuchung und abschließende „Verwarnung“. Ursprüngliches Ziel waren Disziplinierung des Delinquenten und administrativer Abschluss des gegen ihn angelegten Aktenvorgangs. Die Dinge entwickelten sich allerdings anders.
Vernehmungen und ihre Protokolle
Am 3. Dezember 1971, sechs Uhr früh nahm die Staatssicherheit Lutz-Peter Naumann am Rande des Filmfestivals in Leipzig fest. Drei Stunden später begann in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Potsdam seine erste Vernehmung. Mit einstündiger Unterbrechung um die Mittagszeit zog sich die bis in den späten Nachmittag. Am nächsten Vormittag folgte eine mehrstündige Fortsetzung. Zu Naumanns Konterpart im denkbar asymmetrischen Machtverhältnis von Vernehmer und Verhörten wurde Gerhard Schmidt – ein gelernter Mechaniker, der seine Karriere in der Geheimpolizei als 20-Jähriger im Jahr 1957 angetreten hatte. Vom einfachen operativen Mitarbeiter einer Kreisdienststelle hatte sich Schmidt bis zum Sachbearbeiter der Abteilung IX im Rang eines Oberleutnants hochgearbeitet, stand damit für die allgemeine Personalentwicklung bei der Staatssicherheit vom Typen des Quereinsteigers hin zum professionell ausgebildeten Geheimpolizisten – als personelles Abbild der „Transformation zur modernisierten Repressionsbürokratie“.
Während der ersten Vernehmung erhielt der Offizier kaum eine Information, um die die Geheimpolizei nicht ohnehin schon wusste. Darum ging es ihm auch gar nicht. Entscheidend war ein anderer Aspekt: Im Ergebnis des Verhörs verfügte die Staatssicherheit mit dem Vernehmungsprotokoll über ein strafprozessrechtlich relevantes Mittel gegen Lutz-Peter Naumann. Aus der blindschattigen Arena der operativen Arbeit der Geheimpolizei hatte sich die Angelegenheit mit der Dokumentation des persönlichen Gesprächs zwischen Vernehmer und Verhörten zu einem Fall für die Justiz entwickelt. In großer Klarheit zeigte sich hier die Funktion der Staatssicherheit als „Vermittler der ‚sozialistischen Gesetzlichkeit‘, gewissermaßen als Element des ‚Normenstaates‘ in der Kerninstitution des ‚Maßnahmestaates‘“. Noch am Abend des Festnahmetages erließ das Kreisgericht Potsdam-Stadt auf Antrag des Bezirksstaatsanwalts Haftbefehl.
Die Geheimpolizei etikettierte Lutz-Peter Naumann als „Häftling Nr. 52“. Die folgenden Vernehmungen begannen in aller Regel vormittags gegen acht Uhr und dauerten – eingestreut von Unterbrechungen um die Mittagszeit – bis zu acht Stunden. Sie kreisten zuerst um ein privates Archiv aus Tonbändern, Zeitschriften und Westliteratur als den wesentlichen Momenten des formalen Strafvorhalts. In einer nächsten Etappe ging es der Geheimpolizei ums Verstehen des vermeintlichen Straftäters entlang solcher Kategorien wie sozialer Herkunft, Erziehung, Bildungs- und Berufsweg, Wehrdienst und gesellschaftlichem Engagement. Zuletzt rückte der formale Strafvorhalt – im Falle Naumanns „staatsfeindliche Hetze“ – in den Mittelpunkt der Verhöre.
Auffällig scheint der geradezu technische Charakter sämtlicher Vernehmungsprotokolle. Jenseits einiger Schilderungen zu persönlichen Prägungen, Motiven und inneren Einstellungen dokumentieren die Protokolle fast ausnahmslos Informationen, die der Staatssicherheit von vorausgegangenen Beobachtungen, Informanten-Berichten oder anderen Vernehmungen bekannt und im geheimpolizeilichen Schriftapparat bereits dokumentiert gewesen sind.
Offensichtich konzentrierte sich die Funktion der Vernehmungen und ihrer Protokolle im vorliegenden Fall darauf, bereits vorhandene Informationen und deren Zusammenhänge in ein juristisch relevantes Mittel zu transformieren. Der Wissensvorsprung des Vernehmers bzw. die Unkenntnis des Verhörten zu diesem Umstand gestalteten sich zum wesentlichen Merkmal der Asymmetrie ihres Beziehungsverhältnisses. Denn während Lutz-Peter Naumann seine inneren Einstellungen und zurückliegenden Verhaltensweisen aus einer ethischen Position reflektierte, dokumentierte Gerhard Schmidt das Gesagte nicht aus verstehendem, sondern aus strafrechtlichem Interesse.
In soziologischer Hinsicht glich das Prozedere jedenfalls dem, was Michel Foucault in seiner „Geburt des Gefängnisses“ als „Prüfung“ beschrieben hat: Ihre Disziplinartechniken, Machtverhältnisse und Wissensbeziehungen auf den Delinquenten angewandt ging es der Staatssicherheit in einem ritualisierten Verfahren jetzt um die „Wahrheit“ – eine „Wahrheit“, die nicht ethisch, sondern vordergründig juristisch und letztlich politisch gegründet war.
Selbstvergewisserung durch Haftbriefe: „Ich sitze und denke, sitze und schreibe […].“
Die Monate seiner Untersuchungshaft nutzte Lutz-Peter Naumann, um sein Denken und Handeln auf den Prüfstand zu stellen. Die Zeit hier gab ihm ausreichend Freiraum zur Selbstvergewisserung. Über die regelmäßigen Haftbriefe, deren Übermittlung und Kontrolle im Normalvollzug die Strafvollzugsordnung regelte, lassen sich innere Auseinandersetzungen und persönliche Entwicklung Naumanns nachzeichnen. „Ich sitze und denke, sitze und schreibe, sitze und lese.“, wie er die Umstände im April 1972 gegenüber seiner Mutter beschrieb.
Eine Rechtssicherheit zur Gewährung von Haftbriefen bestand seinerzeit nicht. Obgleich die Strafvollzugsordnung vom 7. April 1977 die Anzahl der möglichen Briefe von einem auf drei im Monat erhöhte und die Gewährung de jure stärkte, blieben die Haftbriefe dem Willkürsystem der Vollzugsbediensteten unterworfen. Dies gilt in besonderem Maße für die Untersuchungshaft der Staatssicherheit, in denen der Untersuchungsführer den Briefverkehr aus taktischen Gründen beeinflussen konnte. Die im Falle Naumanns überlieferten Briefe, teils schnell, teils akribisch notiert, richteten sich mit einer Mischung aus Instruktionen, Informationen und Beruhigungen an die ihm durchgängig wichtige „Außenwelt“.
Die sogenannten Termin- oder Monatsbriefe liefern einerseits Hinweise zum Alltag der Untersuchungshaft in den frühen 1970er Jahren. Wie sie auf der anderen Seite als eine der wenigen Möglichkeiten des zwischenmenschlichen Austausches, einen Blick auf die Gedanken eines weggeschlossenen Menschen ermöglichen. Haftbriefe werden so zu einem Gegenstück des eher technischen Schriftguts der staatlichen Institutionen und sind als – freilich normierte – zeitgenössische Ego-Dokumente eine oft fehlende Ergänzung, um ein repressives Regime aus den Überlegungen und Wahrnehmungen der Beherrschten zu verstehen.
Unter den Selbstzeugnissen von Personen, die in den Fokus der Geheimpolizei gerieten, nahmen Haftbriefe durch ihre besondere Entstehungssituation eine Sonderposition ein. Die quantitative Normierung (mögliche Sonderbriefe bei guter Führung oder zu Feiertagen sind für Lutz-Peter Naumann nicht nachweisbar) bewirkte eine ausgesuchte und im Vorfeld gegenüber der Anstalt zu definierende Briefbeziehung. Das Verfassen von Haftbriefen stellte eine der wenigen noch möglichen interaktiven Handlungen im Vollzug dar und war zudem (eingeschränkt) individuell. Die Briefe aus der Haft entstanden im Wissen um eine tatsächliche Kontrolle durch staatliche Institutionen. In ihrer Hauptfunktion sollte die Haftkorrespondenz informieren, instruieren und beruhigen.
Prioritäten setzen
Ein Blick in den ersten Brief Lutz-Peter Naumanns aus der Untersuchungshaft in Potsdam vom 8. Dezember 1971 wenige Tage nach seiner Festnahme belegt diese Funktionen. Es erscheint charakteristisch für einen ersten Brief, dass er mit einer Fülle an Details aufwartet, die als Instruktionen an die „Außenwelt“ zu verstehen sind. Nach der plötzlichen Verhaftung galt es, die wichtigsten Bezugspersonen in Kenntnis über das eigene Verbleiben zu setzen sowie offene Angelegenheiten zu klären. Naumann widmete seiner Mutter die Mehrheit der verfassten Briefe und einige Kassiber. Sie solle bezüglich ausstehender Gehälter aktiv werden, Kontakt zu Freunden aufnehmen oder den Bezug von Zeitschriften abbestellen. Gleichzeitig blieb sie es, die ihn zu den wenigen Besuchsterminen und in Form von Haftpaketen mit dem Notwendigen versorgte: Tabak, Zahnpasta, Einlegesohlen oder im Vorfeld zu beantragende Bücher.
Die exklusive Briefbeziehung Naumanns zu seiner Mutter verwundert kaum, im Vertrauen an die familiäre Bindung wurden Mütter nicht selten zum bevorzugten Dreh- und Angelpunkt für eine Welt jenseits der Gefängnismauern. So schrieb Naumann nach dreieinhalbmonatiger Untersuchungshaft: „Du hast Ihnen (sic!) [den Söhnen] eine Grundlage gegeben, auf der sie, jeder nach seiner Art, ihren Weg gehen.“
Die wichtigsten Funktionen der Kontakte: emotionaler und organisatorischer Halt sowie Kommunikation mit den noch bestehenden Netzwerken. Gleichzeitig spiegelt der erste Brief charakteristisches für Haftbriefe in den verschiedenen Phasen der DDR wider und was als ein abrupter Verlust der Normalität gewertet werden kann: Lutz-Peter Naumann widmete gut die Hälfte seines zweiseitigen Briefes der Wertung und Beschreibung des letzten greifbaren Zustandes vor der Verhaftung. In seiner Funktion als Verwaltungsleiter der Leipziger Filmwoche, so resümierte er, habe er dazu beigetragen, dass das Festival „wie jedes Jahr ein großer Erfolg“ werden konnte. Einen Teil dieser zuletzt durchlebten Normalität war er bemüht, in den noch unbekannten Haftalltag zu integrieren. Dass er sich „recht gut [fühlt], seit Montag auch nicht mehr so allein [ist]“ berichtete Naumann an späterer Stelle und schloss damit alle wichtigen Grundinformationen ab.
Chiffre formulieren
Zusätzlich – und das verdeutlicht die Ambivalenz dieser Art von Briefen –, liegen (versteckte) Kritik, (kalkulierte) positive Meinung gegenüber staatssozialistischen Positionen und Informationen zum Haftalltag eng nebeneinander. Beide Anschauungen, so scheint es, ließen sich im Denken Lutz-Peter Naumanns verbinden. Positive Äußerungen zum Auftritt des „amerikanischen Protestsängers Deen (sic!) Reed“, welchen er als „einen letzten Höhepunkt“ beschrieb, finden sich ebenso, wie Würdigungen von Kurzfilmen aus der Sowjetunion und der DDR. Sehr viel kritischer positionierte sich Naumann in manchem Verhör, wo er gegenüber seinem Vernehmer vehement gegen die ostdeutsche Pressepolitik und das Informationsmonopol der Partei auftritt.
Die ersten fünf Tage seiner Untersuchungshaft in Potsdam verblieb Naumann in Einzelhaft. Ob er sein Denken mit dem im ersten Brief nicht weiter erwähnten späteren Zellengenossen austauschen konnte, bleibt fraglich. Es blieb die kritische Auseinandersetzung mit dem Regime, die Naumann im Wissen um staatliche Mitleser und trotz der begrenzten Möglichkeiten in seinen Haftbriefen fortsetzte. Was wollte Naumann mit diesem Vorgehen bezwecken?
Seine Haftbriefe waren nicht nur Lebenszeichen nach außen, sie schufen Ordnung und Orientierung für den „Häftling Nr. 52“. „Denn zu schreiben ist an sich schon eine elementare Form des Selbstbezuges. Es ist ein Lebenszeichen an sich: Ich schreibe, also bin ich.“ Obwohl Naumann in geheimen Kassibern Informationen zu Haftumständen, Verhören sowie zur emotionalen Grundverfassung verschriftlichte und geschmuggelt bekam, konnte er nie sicher sein, dass diese Zeilen erhalten blieben. Die Haftbriefe übernahmen hier eine legale Scharnierfunktion zwischen der Untersuchungshaft und der „Außenwelt“. Naumann vermittelte mit stilistischer Raffinesse, in Hyperbeln, mit starkem Sarkasmus sowie durch Gedichte und Essays seine (chiffrierte) persönliche Sichtweise auf Herrscher und Beherrschte. Die Briefe bildeten ihm Anlass zu einer inneren Auseinandersetzung und waren zugleich ordnende Struktur: „Jeder Gruß, jeder Brief von daheim ist ein langersehnter Lichtblick. Es ist ja ein interessantes seelisches Training, mit sich selbst fertig zu werden.“
Lutz-Peter Naumann nutzte das Spiel mit literarischen Formen während seiner gesamten Korrespondenz aus der Untersuchungshaft. Er entwickelte sie zu seiner Art der verschlüsselten Kommunikation. In Bezugnahme auf „Können Tiere denken?“, einem sowjetischen Beitrag der Leipziger Filmwoche, nimmt Naumann die dort behandelte Thematik auf, „warum sich nicht alle Arten zu vernunftbegabten Wesen entwickeln konnten.“ Als Parabel wurde eine Szene des Kurzfilms veranschaulicht – kleine Enten würden einem Spielzeugfuchs als Mutterersatz „in Reih und Glied [hinterherlaufen], ohne zu merken, welchem Tobak sie aufgesessen sind.“
In der Haftkorrespondenz findet sich ein zweigeteiltes fiktives Streitgespräch, in dem Gott gegenüber seinem biblischen Antagonisten die Hoffnung äußert, „die Spur einer Ahnung vom Guten und Wahrhaftigen [in die Menschen] zu säen.“ Eine Hoffnung, die Satan mit Verweisen auf die menschliche Eitelkeit, Unwissenheit und Verblendung für nur wenige Menschen sieht. In einem früheren Brief hatte Naumann reflektiert: „Wer sich in kleinem Spießertum und moralischer Erbärmlichkeit genügt, ist selbst schuld.“ Sah sich Naumann selbst als einer jener Wenigen, die den durch Fehlinformationen gelenkten sozialistischen Staat durchschauten?
Lutz-Peter Naumann schrieb viel. Er nummerierte zur eigenen Kontrolle seine Briefe und notierte den Postein- und Postausgang zusätzlich auf einen kleinen Kassiber. Er wollte den Überblick behalten und auch später seinen Überlegungen Struktur entnehmen können. Er nutzte den normierten Briefraum stets vollständig aus und schwankte zwischen der inneren Welt im Selbstbezug und den vertrauten Orten seiner Heimatstadt.
Im Sommer 1972, kurz bevor Naumann von Potsdam über Cottbus in den Strafvollzug nach Brandenburg-Görden überführt wurde, resümierte er die Zeit in der Untersuchungshaft und beschrieb sie als die „bildsamsten Monate“ seines Lebens. Er zeichnete dennoch ein allgemein düsteres Menschenbild von jenen, die in „dumpfer Arglosigkeit vor sich hindämmern.“ Bewusstsein, so notierte er in einem seiner letzten Haftbriefe aus Potsdam, dürfe nicht vorsätzlich sein und müsse über nur eine gesellschaftliche Ebene hinausgehen. Der Mensch solle das Außergewöhnliche, das ihn ausmache, begreifen. Doch sei es entsetzlich, „daß wir als Menschheit immer noch auf einer Stufe des Zusammenlebens laborieren, die den Grad unserer Erkenntnis und Einsicht Hohn spricht.“
Schluss
In der Potsdamer Untersuchungshaft der Staatssicherheit blieb Lutz-Peter Naumann in mehrfacher Hinsicht ein ungewöhnlicher Fall. Während der Zeit seines Aufenthalts hier war unter den übrigen knapp 60 Inhaftierten bloß ein weiteres SED-Mitglied. Gegen gerade einmal sieben weitere Personen ermittelte die Staatssicherheit seinerzeit wegen „staatsfeindlicher Hetze“, gegen 45 Personen bzw. in 75 Prozent aller Fälle wurde sie dagegen wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“ aktiv. Letzter Befund entsprach dem DDR-weiten Trend, dass der „ungesetzliche Grenzübertritt“ die übergroße Zahl der geheimpolizeilichen Ermittlungsverfahren bestimmte. Mit Blick auf den Bezirk Potsdam und den ostdeutschen Staat insgesamt ungewöhnlich streng erschien dagegen die gegen Naumann ausgesprochene Strafe. Knapp drei Monate nach seiner Festnahme schloss die Geheimpolizei ihre Untersuchung ab, es folgte ein für politische Strafverfahren in der DDR typischer Ablauf: Offizier Schmidt gab sich überzeugt, Naumann der „staatsfeindlichen Hetze“ überführt zu haben.
Neben seiner Empfehlung zum Ausschluss der Öffentlichkeit vom Prozess stand sein Hinweis, Tonbandaufnahmen und westliche Literatur einzukassieren. Der Bezirksstaatsanwalt übernahm in seiner Anklage die Arbeit der Geheimpolizei. Am 14. Juni 1972 verurteilte das Bezirksgericht Lutz-Peter Naumann wegen „staatsfeindlicher Hetze“ und „Staatsverbrechen gegen ein anderes sozialistisches Land“ zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Als Strafe hinzu kam die Einziehung von Tonbändern, Zeitschriften und Büchern.
Besondere Wirkung hinterließ bei Naumann die Vernichtung von Teilen seines über Jahre hinweg angelegten Tonband-Archivs, dem er einen besonderen Sinn und die Eigenschaft eines „zeitgeschichtlichen Bestand(es)“ zuschrieb. Naumann selbst kam nach relativ kurzer Zeit mit einer DDR-weiten Amnestie im Dezember 1972 gen Bundesrepublik frei. Vom Obersten Gericht der DDR als „Staatsfeind“ markiert, wirkte er später in West-Berlin als Journalist beim Axel-Springer-Verlag. Er ging dort seinen Neigungen des Recherchierens, Archivierens und Schreibens nach – was ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederholt in den Fokus der ostdeutschen Geheimpolizei rückte.
Die Vernehmungsprotokolle und Haftbriefe des „Falls“ Lutz-Peter Naumann helfen uns heute, die Untersuchungshaft der Staatssicherheit zu verstehen. Der damaligen Gegenwart entstammend, geben sie uns als Quellen jenseits des normativen Regelwerks oder autobiographischer Erinnerungen ex-post einen spezifischen Zugang zum Verstehen staatssozialistischer Funktionen von und individuellen Verhaltensweisen gegenüber politischer Repression. Zunächst wird die Vermittlerrolle der Staatssicherheit zwischen ostdeutschem „Maßnahmestaat“ und „Normenstaat“ ersichtlich.
Gleichzeitig wird deutlich, dass es der Staatssicherheit mit ihren Instrumenten des „Maßnahmestaates“ nur sehr bedingt gelang, den „Normenstaat“ durchzusetzen. Vielmehr zeigt sich am Beispiel der Geschichte von Lutz-Peter Naumann das Scheitern des ostdeutschen Staates, Menschen mit abweichenden Sozialismusvorstellungen zu integrieren. Darüber hinaus zeigt sich in der Haftkorrespondenz Naumanns, wie er trotz stärkster Reglementierung die vom Staatssicherheitsdienst ins Werk gesetzten Maßnahmen aufweichte. So schuf sich Lutz-Peter Naumann individuelle Freiräume in den staatlichen Hafträumen.
Zitierweise: Sebastian Stude / Markus Mirschel, "Stasi-Hafterfahrungen: Selbstvergewisserung und Renitenz“, in: Deutschland Archiv, 08.04.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/330959. Der Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsverbunds "Landschaften der Verfolgung" und wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Weitere Texte und Interviews über Forschungsprojekte in Gedenkstätten folgen. Alle Texte sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend zum Thema:
- Wenn die Stasihaft zum Tod führt. Interner Link: Der Fall Domaschk in Gera 1981.