Bei der Auseinandersetzung mit China geht es nicht nur darum, in Politik, Wirtschaft oder Technologie Antworten auf drängende Probleme zu finden. Vielmehr muss in Deutschland und Europa systematisch mehr Chinakompetenz aufgebaut werden, um langfristige Handlungsfähigkeit zu sichern. Entscheidend ist, diese Aufgabe an der Schnittstelle von Außen- und Bildungspolitik zu verorten. Für eine breite gesellschaftliche Basis an Chinakompetenz muss daher das Verständnis von "China" – seinen Akteuren, ihrem Handeln und ihren Ideen – als Bestandteil der allgemeinen Schulbildung in Deutschland und in Europa etabliert werden. Dies ist auch notwendig, damit auf der politischen Ebene komplexe Chinabilder überhaupt vermittelt werden können und die Chinadebatte nicht in einem Klima der alternativlosen politischen Bekenntnisse verharrt. China unter Staatspräsident Xi Jinping strebt danach, die Weltpolitik in einem chinesischen Sinne zu formen. Deshalb erfordert die gegenwärtige Situation eine noch intensivere Analysefähigkeit und ein Verständnis der politischen Handlungslogik Chinas. Die Bildung von Chinakompetenz – und Chinakompetenz durch Bildung – sollte daher Teil der europäischen Chinastrategie sein.
Europas Chinakritik und China unter Xi Jinping
Schon vor der Corona-Pandemie hat sich in Deutschland und Europa die politische wie gesellschaftliche Wahrnehmung der chinesischen Regierung unter Xi Jinping stark verändert. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist der "Strategic Outlook" der Europäischen Kommission vom 12. März 2019.
Im Verlauf der Pandemie hat sich die kritische Haltung in Politik, Presse und Think-Tank-Community deutlich verstärkt.
Dieser europäischen Chinakritik steht ein Land gegenüber, das immer selbstbewusster und eigennütziger auftritt. Unter der Führung von Xi Jinping hat sich die Ausrichtung chinesischer Außenpolitik deutlich verändert.
Ein Plädoyer für mehr Chinakompetenz in Deutschland und Europa ist daher mit einem doppelten Dilemma konfrontiert. Zum einen hat sich die politische wie gesellschaftliche Haltung gegenüber China deutlich verschlechtert. Die Chinadebatte ist dazu geprägt von einer starken Polarisierung und einer Freund-Feind-Rhetorik.
Die vorliegende Analyse zielt darauf ab, einen alternativen Lösungsweg für die Bildung von Chinakompetenz vorzustellen: ein tragfähiges System, das Austauscherfahrungen, deutsch-chinesische Kooperationen in Bildung und Forschung, Erwachsenen-, Berufs- und Hochschulbildung einbezieht und die Grundlagen dafür bereits in der Schulbildung legt.
An der Schnittstelle von Bildungs- und Außenpolitik
Bildungs- und Außenpolitik sind natürliche Bündnispartner beim Aufbau von Chinakompetenz. Allerdings ist die föderale Struktur des Bildungswesens in Deutschland bei der Förderung von Chinakompetenz immer mit zu berücksichtigen, denn maßgeblich für die Umsetzung sind die Bildungs- oder Kultusministerien der Länder. Erste vielversprechende Ansätze einer Kooperation gibt es bereits. So entstand 2017 eine gemeinsame Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), des Auswärtigen Amtes und der Kultusministerkonferenz (KMK).
Offen ist allerdings, wie es weitergehen kann, und ob die Bemühungen für mehr Chinakompetenz strategischer und vor allem transnational angelegt werden müssten. Ein tiefergehendes Verständnis von China erfordert mehr direkte wie indirekte Auseinandersetzung mit dem Land. Nur dann ist es möglich, effektive Instrumente und eine auf Gegenseitigkeit beruhende, selbstbewusste Haltung zu entwickeln. Die Grundlagen für die Förderung von Chinakompetenz müssen nicht nur an Hochschulen und in Exzellenzclustern, sondern in der gesamten Gesellschaft geschaffen und im nationalen, besonders aber im europäischen Bildungssektor verankert werden. Ohne intensiven, europaweiten Aufbau von Chinakompetenz über alle Ressorts hinweg kann es nicht gelingen, die Beziehungen mit China als Partner, Wettbewerber und Rivale in Deutschland und vor allem in Europa langfristig auszudifferenzieren.
Chinakompetenz als Voraussetzung für Kooperationen
Die Bundesregierung reagierte auf die Erkenntnis, dass mehr Chinakompetenz unerlässlich ist, bereits mit der (inzwischen ausgelaufenen) "China-Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) 2015–2020". Die darin entwickelten Maßnahmen betreffen vor allem Wissenschaft und Forschung. So sind im Rahmen einer Fördermaßnahme seit 2016 elf interdisziplinäre Projekte an deutschen Hochschulen entstanden.
Kooperationen und Austausch mit China führen ohne geeignete Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig zum Aufbau von Chinakompetenz. Im Gegenteil kann es sogar dazu kommen, dass gut gemeinte Initiativen vereinnahmt werden. Immer häufiger zeigt sich, dass Hochschulkooperationen nicht (mehr) betrieben werden können, ohne die politischen und ideologischen Systemunterschiede sowie die wirtschaftliche Wettbewerbssituation zu betrachten. Jüngere Studien warnen insbesondere vor strategischen, ethischen und Sicherheitsrisiken, die vom Schutz geistigen Eigentums bis zur Wahrung der Freiheit der Wissenschaft reichen.
Das gestiegene Problembewusstsein zeigt sich beispielsweise in einer neuen Initiative der Bundesregierung: Im Mai 2020 schrieb sie eine Förderung für Forschungsprojekte zu den Entwicklungen in unterschiedlichen Politikfeldern in der Volksrepublik China aus. Diese sollen dazu beitragen, eine Grundlage für "evidenzbasierte Forschungs- und Innovationspolitik gegenüber und in Kooperation mit China zu schaffen".
Auch die Hochschulrektorenkonferenz hat mit ihren im September 2020 beschlossenen "Leitfragen zur Hochschulkooperation mit der Volksrepublik China" auf die politische Entwicklung reagiert. Sie benennt klar die Herausforderungen aufgrund von zunehmenden rechtlichen und organisatorischen Einschränkungen sowie staatlicher Einflussnahme auf chinesischer Seite. Gleichzeitig hebt sie die bereichernden Aspekte der Zusammenarbeit mit Akteuren des ausdifferenzierten chinesischen Wissenschaftssystems hervor. Sie bekennt sich ausdrücklich zur Wissenschaftskooperation mit China "auf Grundlage der eigenen klaren Haltung und Wertebasis" mit "Blick auf die konkreten Rahmenbedingungen, Ziele und Inhalte einzelner Kooperationen".
Handlungsmöglichkeiten durch Chinakompetenz
Chinakompetenz in der Politik hat andere Schwerpunkte als in wirtschaftlichen oder technologischen Kontexten. Alle Varianten basieren aber im Idealfall auf guter Sprachbeherrschung, fundiertem Wissen und Fachkenntnissen in Bezug auf China sowie der Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikation.
Erstens steht Chinakompetenz für die Fähigkeit, Chinawissen auf unterschiedlichste Zusammenhänge anzuwenden und spezifische Probleme in den weiteren Kontext der Chinapolitik einzuordnen. Beispielsweise bleiben Erfahrungen im Wirtschaftsbereich mit China meist sektorspezifisch und sind daher gerade nicht auf andere Bereiche übertragbar.
Zweitens ist interkulturelle Kompetenz eine notwendige Bedingung für Dialogfähigkeit, besonders unter den Bedingungen eines Systemwettbewerbs zwischen Demokratien und Autokratien. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Beherrschung einer Trickkiste oder Businessetikette, sondern umfasst vor allem die Fähigkeit, im Wissen um die Unterschiedlichkeit der Systeme den Deutungshorizont neu zu konstituieren. Dialogfähigkeit setzt Toleranz für Ambiguitäten und Verschiedenheit voraus, kann sich aber weder in verschwommener Völkerverständigungsrhetorik erschöpfen noch auf ein vermeintlich apolitisches "Kultur"verständnis beschränken. Ein detailgenauer Blick etwa auf die komplexe politische Funktionsweise von Staats- und Parteiapparat schützt sowohl vor der Beeinflussung durch propagandistische Inszenierungen als auch vor dem allzu schlichten Freund-Feind-Schema "unverdorbener" chinesischer Bevölkerung auf der einen und "durchtriebener" Parteifunktionäre auf der anderen Seite. Dies hilft, eine nüchterne Haltung zu entwickeln und Lösungen zu finden, die der Komplexität des deutsch-chinesischen und europäisch-chinesischen Verhältnisses gerecht werden und dem wachsenden Misstrauen entgegenwirken können.
Drittens muss Chinakompetenz in der Schulbildung ansetzen. Studium und Berufsausbildung sowie begleitete längere Aufenthalte im Land können zwar fundierte Chinakompetenz schaffen. Diese Ansätze sind wertvoll, tragen allerdings kaum dazu bei, Chinaexpertise auf breiter Basis in der Gesellschaft zu verankern. Die Zahl der Studienanfänger in chinawissenschaftlichen Studiengängen geht seit Jahren zurück und lag 2016/17 in Deutschland bei etwa 500,
Schulbildung als Grundpfeiler
Der Aufbau von Chinakompetenz muss daher früher in der Lernbiografie verankert werden, beispielsweise im Sekundarbereich der Schulbildung. Der schulische Chinesischunterricht in Deutschland ist in den vergangenen Jahren zwar nicht in Hinblick auf die Schülerzahlen, jedoch strukturell erheblich ausgebaut worden. Die KMK hat bereits 1998 Anforderungen für die Abiturprüfung in Chinesisch verabschiedet.
Von den derzeit etwa 100 Schulen, die Chinesisch als Regelfach anbieten, liegen ungefähr zwei Drittel in nur vier Bundesländern: Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen (nicht nur absolut, sondern auch relativ gesehen), gefolgt von Baden-Württemberg, Berlin und Bayern.
Im Chinesischunterricht werden genau die Fähigkeiten vermittelt, die in Deutschland und Europa auf einer viel breiteren gesellschaftlichen Basis benötigt werden: Sprachkenntnisse (bei entsprechender Unterrichtsdauer bis zu einem Niveau selbstständiger Sprachverwendung) und substanzielles soziokulturelles Orientierungswissen über China, das in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern oft unterrepräsentiert ist. Interkulturelle Handlungskompetenz ist das Leitziel des schulischen Chinesischunterrichts.
Allerdings: So vielschichtig das im Sprachunterricht vermittelte Wissen ist, und obwohl es viele gute Gründe für das Erlernen der Sprache gibt, ist anzunehmen, dass sich immer nur ein kleiner, wenn auch hoffentlich wachsender Teil der Schülerschaft darauf einlassen wird. Über die Hindernisse kann im Moment nur spekuliert werden. Doch es liegt auf der Hand, dass sowohl die Wahrnehmungen von China als auch die Hemmschwelle gegenüber der als unverhältnismäßig schwer eingeschätzten Sprache und ihren Schriftzeichen eine Rolle spielen. Umso dramatischer ist das brachliegende Potenzial des Fachunterrichts, den etwa 5,3 Millionen Sekundarschülern in Deutschland beispielsweise in den Fächern Politik, Erdkunde, Wirtschaft oder Geschichte etwas über China beizubringen – ganz ohne erforderliche Sprachkenntnisse. Politische Bildung in Hinblick auf China sollte in der Schule (wie auch in der Erwachsenenbildung) stärker berücksichtigt werden, denn wir brauchen erheblich mehr Menschen mit Chinakompetenz, die keine "Chinaexperten" sind. Damit chinabezogene Themen nicht nur als Option im Lehrplan erscheinen, sondern tatsächlich im Unterricht zur Sprache kommen, benötigen Fachlehrkräfte jedoch Unterstützung. Neuere Initiativen versuchen hier anzusetzen: Die China-Schul-Akademie an der Universität Heidelberg entwickelt beispielsweise für Lehrkräfte die Zusatzqualifikation "China-Kompetenz für die Schule",
Jenseits des Fach- und Sprachunterrichts können Schulen zudem durch Kurzzeitaustausche im geschützten Rahmen die Begegnung mit dem chinesischen Kulturraum und seinen Menschen ermöglichen. Dabei sollten sie finanziell und gegebenenfalls auch personell unterstützt werden, um Schülerinnen und Schülern erste Chinaerfahrungen zu ermöglichen. Viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen widmen sich mit großem persönlichem Einsatz der intensiven Vorbereitung und Begleitung dieser Reisen.
Für Jugendliche ergibt sich in Austauschen die Möglichkeit, eine differenzierte Wahrnehmung der chinesischen Lebenswirklichkeit zu entwickeln, die motiviert, sich weiter mit dem Land zu befassen. In jüngerer Zeit wagten allerdings pro Jahr nur um die 50 Schülerinnen und Schüler aus Deutschland einen halb- oder ganzjährigen Aufenthalt in China im Rahmen eines Individualaustausches.
Eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz
Nicht zuletzt muss Chinakompetenz im Schulbereich finanziell und ideologisch unabhängig vom chinesischen Staat aufgebaut werden. Zwar sollten sprachliche und kulturelle Angebote von chinesischer Seite im Sinne einer Kultur- und Bildungsaußenpolitik, wie sie Deutschland und viele andere Länder betreiben, als Ergänzung willkommen sein. Die "Grundausbildung" sollte jedoch in nationaler Verantwortung geschehen. Nicht nur das: In Solidarität mit den EU-Mitgliedsstaaten sollte diese Grundausstattung auf europäischer Ebene verwirklicht und finanziell unterstützt werden. Europäische Robustheit entsteht auch in dieser Hinsicht nicht (nur) in Deutschland, sondern vor allem durch Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Finanziell schwächer gestellte EU-Mitgliedsstaaten können nämlich oft nicht einmal im Hochschulbereich Lehrstühle der Sinologie oder Sprachunterricht anbieten, geschweige denn Chinesischunterricht in den Schulen.
Auch wenn eine vollständige Bestandsaufnahme der vorhandenen Chinakompetenz in Europa bislang nicht vorliegt, gibt es wohl zurzeit kein einziges europäisches Land, das in eigener staatlicher Verantwortung adäquate Bildungsangebote in Bezug auf China bereitstellen kann.
In Frankreich lernten 2019 über 46.000 Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe Chinesisch. Dies sind nur etwa 0,7 Prozent der Sekundarschüler, und dennoch sind unsere französischen Nachbarn damit europäische Spitzenreiter: In Dänemark, Estland und Italien erhalten um die 0,3 Prozent der Sekundarschüler Chinesischunterricht, während es in Deutschland nur etwa 0,1 Prozent sind. Mehrere andere EU-Mitgliedsstaaten liegen noch darunter.
Mittelfristig beeinträchtigt dieser Mangel die autonome Handlungsfähigkeit Europas im Hinblick auf China. Letztlich reicht es in dieser Frage also nicht, den Blick einzig auf Deutschland zu richten. China als globaler Akteur ist schon längst in Europa angekommen und tritt zunehmend bestimmender und selbstbewusster auf. Deshalb ist Europa auf der Suche nach einer gemeinsamen Haltung und einer "robusteren europäischen Strategie", wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell kürzlich betonte.
Auf europäischer Ebene ist das Bewusstsein gewachsen, dass die Chinakenntnis der EU ein Upgrade benötigt, denn ohne den Aufbau eines zukunftsfähigen europaweiten Chinakompetenzsystems fehlt es auf absehbare Zeit schlichtweg an der nötigen Expertise für den Umgang mit China. Eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz als Teil der europäischen Chinastrategie kann allerdings nicht bei Normen und bindenden Strukturen ansetzen, denn Bildungspolitik ist Domäne der einzelnen Mitgliedstaaten. Die EU besitzt jedoch mit ihrem Erfolgsprogramm Erasmus+ bereits eine starke Plattform für Kooperations- und Mobilitätsmaßnahmen im Bereich von allgemeiner und beruflicher Bildung, Jugend und Sport – mit Elementen, auf denen eine Chinakompetenz-Initiative aufsetzen könnte. Auch am Schnittpunkt der europäischen Bildungs- und Forschungsräume könnte die Initiative ansetzen, ohne die Souveränität der einzelnen Länder einzuschränken.
Im Umgang mit China braucht es folglich die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, Grenzen zu setzen und doch im Dialog zu bleiben. Diese drängende Aufgabe darf nicht nur den Spezialisten vorbehalten bleiben. Eine europäische Bildungsinitiative für Chinakompetenz kann dazu beitragen, die Kohäsion der EU zu festigen sowie die europäische Autonomie in der Auseinandersetzung mit China zu stärken. Sie kann helfen, ein komplexeres Chinaverständnis in den europäischen Gesellschaften zu verankern, bis wir über Chinakompetenz nicht mehr schreiben müssen, weil wir sie einfach haben.