Mein von Externer Link: Udo Grashoff 2021 im Deutschland Archiv kritisierter Beitrag in dem Buch "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes...",
Im Handbuch zu den Opfern des DDR-Grenzregimes und in meinem Zeitschriftenbeitrag wird darauf hingewiesen, dass Suizide in den Grenztruppen nicht auf monokausale Ursachen zurückgeführt werden können.
Das belegen auch die Ergebnisse von MfS-Untersuchungen. So ermittelte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in 74 von insgesamt 87 Suiziden beziehungsweise Suizidversuchen, die sich im Jahr 1969 in der NVA ereigneten, folgende Motive der Tat: In einem Fall sei demnach die „Mißachtung der persönlichen Würde und Androhung von Repressalien durch Vorgesetzte” der Grund gewesen, ebenfalls einmal sei eine „nicht richtige Darlegung einer richtig getroffenen Kaderentscheidung” der Grund gewesen, in acht Fällen sei „aus Unlust zum Dienst und mit dem Ziel, ihre Verpflichtung als Berufssoldat und Soldat auf Zeit rückgängig zu machen” gehandelt worden, in sechs Fällen habe „Angst vor Bestrafungen” vorgelegen. In den meisten, nämlich in 28 Fällen, werden „familiäre Schwierigkeiten bzw. zerrüttete Eheverhältnisse” als Grund für Suizidhandlungen angegeben.
• Die im Vergleich zur Bundesrepublik wesentlich höhere Suizidrate in der DDR stehe in keinem Zusammenhang mit der SED-Diktatur und der Abschottung des Landes. Dem widersprechen die Recherchen unseres Forschungsteams, das Fälle von Suiziden nach gescheiterten Fluchtversuchen bzw. nach mehrfach abgelehnten Ausreiseanträgen erfasst hat.
• Die Zahlenangaben seines Vergleichs zwischen Suiziden im zivilen und militärischen Umfeld beruhen bei ihm auf der Gegenüberstellung der zu DDR-Zeiten geheim gehaltenen Gesamtzahl von Suiziden junger Männer einer Altersgruppe mit den Suiziden während des Militärdienstes. Die in der DDR erfassten Suizidzahlen der angeblich mit der NVA vergleichbaren zivilen männlichen Altersgruppe unterscheiden jedoch nicht zwischen Selbsttötungen im Wehrdienst und im zivilen Leben. Da für die Vergleichsgruppe der jungen Männer Wehrpflicht bestand, der sich nur wenige entziehen konnten, handelt es sich bei Grashoffs Gegenüberstellung um ein Nullsummenspiel, da die Suizide im Militärdienst in der zum Vergleich herangezogenen Gesamtzahl bereits enthalten sind.
• Grashoffs Untersuchung über „Selbsttötungen in der Nationalen Volksarmee” enthält hinsichtlich der Suizidmotive von Soldaten und Offizieren allerlei nicht nachvollziehbare relativierende Erwägungen. So vermutet er beispielsweise im Fall eines zum Bausoldatendienst zwangseingezogenen jungen Mannes „psychopathologische Ursachen“ für dessen Suizid. Er war drei Wochen zuvor von der Volkspolizei festgenommen und bei der Einheit abgeliefert worden. Die MfS-Ermittler konstatierten: „Aus politischen Erwägungen heraus beging Soldat Puhlmann, MB III, Selbsttötung.“
• Da in der Bundeswehr die Suizidrate niedriger lag als in der gleichaltrigen westdeutschen männlichen Bevölkerung, wäre aus Grashoffs Berufung „auf die grundlegende Bedeutung psychopathologischer Deutungen, die in der Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen ein weitaus stärkeres Potenzial für die Ausprägung von Suizidalität zubilligen als späteren Lebenskonflikten“ zu folgern, dass NVA-Soldaten in ihrer Kindheit mehr seelische Verletzungen erlitten hätten als ihre Altersgenossen in der Bundeswehr.
"Dass dieser Ansatz Debatten hervorruft, ist verständlich"
Grashoff spitzt schließlich seine Kritik auf die Behauptung zu, im Handbuch zu den Todesopfern des DDR-Grenzregimes diene die Selbsttötungsproblematik einer „möglichst dramatischen Stilisierung der DDR als totalitäre Diktatur“. Dem am Handbuch beteiligten Forschungsteam ging es darum, sachlich und quellengestützt aufzuzeigen, wie vielfältig die Absichten, Rollen und Positionen von Menschen waren, die dem Grenzregime der DDR zum Opfer fielen: Die Bandbreite reicht von unbeteiligten Anwohnern über Grenzgänger und Flüchtlinge bis zu den Militärangehörigen selbst.
Dass dieser Ansatz Debatten hervorruft, ist verständlich. Was aber vermieden werden sollte, ist die falsche Wiedergabe von Passagen jener Publikationen, mit denen sich die Beiträge doch auseinandersetzen wollen, also unseres Handbuchs und meines Beitrages in der Zeitschrift des Forschungsverbundes (ZdF) Nr. 41/2017.
In dem kritisierten Zeitschriftenbeitrag steht aber das genaue Gegenteil. Dort wird ausdrücklich begründet, warum diese Selbsttötungen nicht als Opfer des DDR-Grenzregimes eingestuft wurden. Die von Grashoff falsch wiedergegebene Textstelle lautet folgendermaßen: „So erschoss sich am 19. Mai 1980 der Ausbilder an der Offiziershochschule der Grenztruppen ‚Rosa Luxemburg‘ Oberstleutnant Jürgen H. Seine Ehefrau hatte zuvor den Kommandeur der Hochschule um Hilfe gebeten, da sowohl sie als auch die beiden gemeinsamen Töchter von Jürgen H. mehrfach misshandelt worden waren. Aufgefordert, schriftlich zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, begab sich der Oberstleutnant in sein Büro und tötete sich durch einen Kopfschuss mit seiner Dienstpistole."
So ermordete ein Grenzpolizist der Grenzbrigade Mühlhausen im August 1961, nachdem er sich betrunken hatte, ein zweijähriges Kind und verletzte eine Frau schwer. Danach tötete er sich selbst mit seiner Pistole.
Es wäre weiterführend und wissenschaftlich redlich, wenn sich die Kontroverse über das DDR-Grenzregime und seine Opfer auf der Grundlage der tatsächlich in den jeweiligen Publikationen enthaltenen Aussagen bewegen würde.
Das mir von Udo Grashoff vorgeworfene „Festhalten an undifferenzierten totalitarismustheoretischen Normvorgaben“ lässt sich weder mit dem Handbuch zu den Todesopfern des DDR-Grenzregimes noch durch den Zeitschriftenbeitrag über die „Suizide in den DDR-Grenztruppen“ belegen.
Für die politikwissenschaftliche Analyse der SED-Diktatur und der kommunistischen Systemrealität in anderen kommunistisch beherrschten Ländern hat Hannah Arendts Studie wichtige Grundlagen geschaffen – übrigens auch für das Verständnis der tatsächlichen „Komplexität historischer Phänomene, zu denen die DDR zweifellos gehört“ hat.
Zitierweise: Jochen Staadt, "Suizide bei den Grenztruppen der DDR. Eine Replik auf Udo Grashoff“, in: Deutschland Archiv, 12.02.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/326356. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Weitere Beiträge in unserem Schwerpunkt: "Externer Link: Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes?"
Zur Externer Link: Kritik von Dr. Udo Grashoff als Ausgangspunkt dieser Replik.