Der afrikanische Kontinent wurde nur wenig später als die übrige Welt von der Covid-19 Pandemie heimgesucht: In Nordafrika meldete Ägypten den ersten Fall am 14. Februar 2020, in Subsahara-Afrika Nigeria am 27. Februar. Anfängliche Befürchtungen, dass sich Afrika zu einem Zentrum der Pandemie entwickeln und sie zu unvorstellbar hohen Opferzahlen führen würde, bewahrheiteten sich zunächst nicht. Doch im August 2020 warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO dann davor, dass Afrika das nächste Epizentrum der Corona-Pandemie werden könnte. Ende August war von insgesamt ca. 21.000 Toten und über einer Million Infizierter auf dem Kontinent die Rede. Und es ist davon auszugehen, dass wegen der geringen Testkapazitäten die Dunkelziffer der Infizierten und wohl auch der an oder mit Covid-19 Verstorbenen wesentlich höher ist, als die offiziellen Statistiken angeben.
Die kriegs- und krisengeschüttelten Sahel-Staaten – Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad – sind zwar weniger vom internationalen Reisetourismus tangiert, haben gleichwohl aber enge politische, militärische und wirtschaftliche Beziehungen mit Europa, Asien und den USA. Ein Land nach dem anderen verkündigte ab März 2020, dass mit Covid-19 infizierte Personen identifiziert wurden. Reisende und Mitarbeitende internationaler Organisationen brachten das Virus aus Europa oder Asien mit. Die ersten Todesfälle traten dann auch unter den Bevölkerungsgruppen (Politiker, Geschäftsleute und prominente Künstler und Sportler) auf, die oft im Ausland unterwegs sind. Der renommierte französisch-senegalesische Journalist und erste schwarze Präsident von Olympique Marseille, Pape Diouf, sowie der kamerunische Musiker, Manu Dibango, verstarben schon Ende März an Covid-19. Ihr Tod schockte die Bevölkerung und führte nachdrücklich vor Augen, dass jede und jeder ein Opfer der Pandemie werden kann.
Die Regierungen und Behörden der afrikanischen Staaten hatten von den Erfahrungen Asiens und Europas, aber auch von der Ebola-Bekämpfung in der DR Kongo gelernt und bereits Ende März ähnliche Regeln angeordnet: fast zeitgleiche Schließung der Ländergrenzen zu Land und zur Luft sowie von Märkten, Läden, Bildungseinrichtungen, Kirchen und Moscheen, nächtliche Ausgangssperren trotz des heiligen Monats Ramadan, Isolierung der Hauptstädte sowie sukzessive Einführung der Maskenpflicht. Diese Maßnahmen brachten das öffentliche Leben in den ärmsten Ländern der Welt kurzzeitig fast zum Erliegen mit weitreichenden Folgen für die Menschen, die Wirtschaft und die Staatshaushalte. Weltbank und Internationaler Währungsfonds sagen als Folge der Pandemie eine Steigerung der Armutsrate um 22,8% in Subsahara-Afrika voraus.
Armut und Überleben während der Pandemie
Die von einem Tag auf den anderen erlassenen staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 traf die Menschen völlig unvorbereitet. Zudem waren sie nicht an die prekären Lebenswirklichkeiten der betroffenen Länder angepasst. Die Bevölkerung lebt in den Städten oft nur von den mageren Einnahmen, die am selben Tag erwirtschaftet werden – oft im (Kleinst-)Handel, als Tagelöhner, als Motorradtaxifahrer oder anderen Dienstleistungen. Staatliche Rettungsschirme sind nicht vorhanden. Zwar litten die Menschen auch schon vor dem Ausbruch der Pandemie unter Ernährungsunsicherheit, den Folgen des Klimawandel und der Zunahme des Terrorismus. Nun aber konnten Felder nicht mehr bestellt werden, wurden ganze, auch grenzübergreifende, Versorgungsketten unterbrochen, fielen Einnahmequellen komplett aus; Rücklagen waren und sind nicht vorhanden. Auch Rücküberweisungen aus der Diaspora, die ebenfalls von der wirtschaftlichen Krise betroffen war, blieben aus.
Laut des UN-Welternährungsprogramms ist der durchschnittliche Lebensmittelkonsum in Haushalten seit Ausbruch von Corona zurückgegangen. Da fast alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen sind, brachen traditionelle Resilienzmechanismen ebenfalls weg. Dazu gehören insbesondere die Unterstützung durch die Familie, Spargruppen usw. Auch die Versorgung durch humanitäre Organisationen – insbesondere der Menschen in den Flüchtlingslagern in der Region – konnte wegen der Schließung der Flughäfen weit weniger als vor der Pandemie geleistet werden. Internationale Hilfsorganisationen warnten, als Folge der Pandemie könnten Millionen von Menschen Hunger leiden und sterben.
Einige Regierungen versprachen der Bevölkerung direkte Unterstützung. So wurde z.B. in Burkina Faso, Mali oder im Tschad zugesagt, Wasser und Strom würden vorübergehend weniger oder nichts kosten. Da in den Sahel-Staaten die meisten Haushalte weder an ein Stromnetz noch an Wasserversorgung angeschlossen sind, brachten die Maßnahmen kaum Entlastung. In den Genuss kommt nur eine ohnehin privilegierte Elite. Andere Staaten verteilten spärliche Lebensmittelhilfen an bedürftige Haushalte; im Niger wurde der Zugang zu Krediten erleichtert. Aufklärungskampagnen über Covid-19 und Hygienemaßnahmen werden häufig von religiösen Gruppen oder privaten Initiativen und NGOs durchgeführt.
Schwache Staatlichkeit und schlechte Regierungsführung zeigten sich bei Ausbruch der Pandemie überdeutlich in der Unzulänglichkeit der staatlichen Gesundheitssysteme. Laut Weltbank standen im Jahr 2010 in Burkina Faso pro 1.000 Einwohner 0,4 Krankenhausbetten zur Verfügung, im Niger waren es 2015 nur 0,3. Im Tschad gab es 2020 nur zwei funktionierende Beatmungsgeräte. Wegen der Überbelastung der ohnehin unzureichenden Gesundheitssysteme konnten auch andere Krankheiten nicht mehr behandelt werden.
Schnell aufgelegte internationale Hilfsprogramme im Kampf gegen die Pandemie und zur Verbesserung der Gesundheitssysteme kamen wegen fehlender Kontroll- und Absorptionsmechanismen bzw. der grassierenden Korruption nicht bei den Zielgruppen an, die sie tatsächlich benötigen. Für manche autoritären Regime ist die Pandemie zu einem Geschäft geworden, von dem die eigene Klientel profitiert. Die Korruption geht auf hohem Niveau weiter. Das BMZ warnte, dass kein Euro in korrupte Kanäle gehen dürfe.
Die staatlichen Budgets konnten schon vor Ausbruch der Gesundheitskrise die laufenden Kosten nicht decken. Nun treibt der durch die Pandemie bedingte Rückgang der Rohstoffexporte die ohnehin schon überschuldeten Haushalte noch tiefer in die Schuldenkrise. Gold ist das Hauptexportgut von Mali und Burkina Faso, Uran das des Niger und Erdöl das des Tschad. Das im April 2020 erlassene Schuldenmoratorium der G20-Staaten für die ärmsten Länder kommt zwar auch den Staaten im Sahel zugute. Doch der ohnehin gigantische Schuldenberg verringert sich dadurch um keine einzigen Cent. Eher ist zu erwarten, dass die korrupten Eliten das Moratorium als Freifahrtschein für eine weitere Verschuldung ansehen, als die Staatshaushalte langfristig zu entlasten.
Pandemie als Katalysator von Missständen, Problemen und Konflikten
Die Weltbank rechnet die Sahel-Staaten zu den fragilen und am meisten von Konflikten betroffenen Ländern. Sie liegen bei allen Indizes – von Armut über Rechtsstaatlichkeit bis hin zu politischen Freiheiten – auf den hintersten Plätzen.
Vor diesem Hintergrund ist die Pandemie im Sahel nicht nur eine gefährliche Gesundheitskrise. Sie wirkt zugleich wie ein Katalysator, der die vielfältigen Krisen und Konflikte in der Region noch weiter verschärft. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: (1) Regionalisierung des dschihadistischen Terrorismus (2) Verschärfung der regionalen Flüchtlingskrise sowie (3) Zuspitzung der innenpolitischen Auseinandersetzungen.
(1) Regionalisierung des dschihadistischen Terrorismus
Seit der ersten Hälfte 2020 mehren sich überall in der Region terroristische Anschläge dschihadistischer Gruppen, wie Boko Haram, Islamischer Staat und weiterer regionaler Gruppierungen. In Burkina Faso, Mali und Tschad wurden Armeeposten angegriffen. Im März starben im Tschad beim bisher größten Angriff auf einen Militärstützpunkt mindestens 92 Soldaten. Unweit der nigrischen Hauptstadt Niamey kamen im August 2020 bei einem Attentat acht französische humanitäre Helfer/-innen ums Leben. Besonders stark nahmen grenzüberschreitende terroristische Aktivitäten zu, die sich inzwischen auch auf die südlichen Anrainerstaaten Benin, Elfenbeinküste und Togo ausweiten.
Gleichzeitig war im Zusammenhang mit den Antiterror-Operationen von Regierungstruppen und internationalen Streitkräften ein starker Anstieg von gewaltsamen Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten zu verzeichnen (Nsaibia 2020; Amnesty International 2020). Ein Beispiel ist das Schicksal von 44 Dorfbewohnern aus der Tschadsee-Region, die im April in einem Gefängnis in N’Djamena ums Leben kamen. Wie Berichte tschadischer Menschenrechtsorganisationen enthüllten, waren die Verhafteten willkürlich und unbegründet der Unterstützung von Boko Haram beschuldigt worden. Mitte 2020 überstieg die Zahl der Opfer durch islamistische Gruppen, Regierungstruppen und ethnische/lokale Milizen bereits das Niveau von 2019.
(2) Verschärfung der regionalen Flüchtlingskrise
Die Fluchtbewegungen in Folge der Kämpfe und gezielter dschihadistischer Angriffe auf Dörfer und zivile Einrichtungen haben besorgniserregende Ausmaße angenommen. In Burkina Faso wurden im April 2020 25.000 malische Flüchtlinge von bewaffneten Gruppen angegriffen, was zu einem großen Flüchtlingsstrom zurück nach Mali führte. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Burkina Faso stieg von 4.700 im Jahr 2017 auf mehr als ein Million Menschen im September 2020. Fast ebenso viele mussten aus dem Land fliehen. Das war ein Anstieg von 92% seit 2019. In Mali lag die Zahl der Binnenvertriebenen im Juni 2020 bei fast 240.000. Im Niger, einem Aufnahmeland für viele Flüchtlinge aus der Region, wurden 489.000 Menschen durch terroristische Angriffe in die Flucht getrieben (einschließlich nigerianischer und malischer Flüchtlinge). Viele Flüchtlingslager befinden sich in Grenzgebieten. Dort ist weder die Durchsetzung hygienischer Standards noch eine halbwegs funktionierende gesundheitliche Betreuung möglich (Dahir 2020).
Die UN-Flüchtlingsagentur (UNHCR) und humanitäre Organisationen geraten an ihre Grenzen. Wegen der pandemiebedingten Beschränkungen sind die schutzbedürftigen Menschen und Gemeinschaften schwer zu erreichen. Zudem blockieren und zerstören bewaffnete Gruppen gezielt Straßen, die zu den abgelegenen Gebieten in der Peripherie der betroffenen Länder führen. Auch die Verbindungen zwischen den großen Städten werden zunehmend zum Ziel von Angriffen. Auf diese Weise sollen Kommunikations- und Hilfskanäle unterbrochen werden. Selbst Krankenhäuser, Gesundheitszentren oder Schulen wurden von bewaffneten Gruppen angegriffen.
(3) Zuspitzung der innenpolitischen Auseinandersetzungen
Die Pandemie dient den Regierenden in den meisten Staaten als Vorwand, um Versammlungen und Demonstrationen von Opposition und Gewerkschaften zu verbieten sowie gegen Kritiker vorzugehen. Dabei spielt ihnen die geringe Präsenz ausländischer Berichterstatter und sonstiger internationaler Akteure aufgrund der weltweiten Reisebeschränkungen in die Karten. Nachdem die Zahl der Demonstrationen und Proteste anfangs drastisch (bis zu 50 %) gesunken war, stieg sie ab Mai wieder schnell an. Nun rückte die Unzufriedenheit mit den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und mit der Politik der Regierenden in den Mittelpunkt (Raleigh 2020). Im Frühjahr wurden im Niger Demonstrationen gegen Korruption im Verteidigungsministerium gewaltsam niedergeschlagen und dutzende Aktivisten, Journalisten, Lehrer und Ärzte festgenommen.
Dass das Kalkül der Eliten nicht immer aufgeht, mittels Repression und politischer Manöver ihre Macht zu sichern, zeigt das Beispiel Interner Link: Mali. Dort mündete die Entfremdung zwischen Regierung und Bevölkerung im August 2020 nach monatelangen Protesten einer losen Koalition von Oppositionellen, zivilgesellschaftlichen Gruppen und religiösen Führern gegen den Ausgang der umstrittenen Parlamentswahlen vom März in einem Militärputsch gegen den Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta. Die Übergangsregierung unter dem ehemaligen Verteidigungsminister, Bah N’Daw, hat in einem Dialog mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft Neuwahlen innerhalb von 18 Monaten und die konsequente Umsetzung des Friedensvertrags von 2015 zugesagt. Die ECOWAS, AU und UNO hatten diesen Friedensprozess aktiv begleitet.
Wie (re-)agiert die internationale Gemeinschaft?
Mit dem politischen Wechsel in Mali kommt auch Bewegung in die regionale und internationale politische Landschaft. Nach einem Gefangenenaustausch im Oktober 2020 zwischen der malischen Regierung und der "Unterstützungsgruppe für den Islam und die Islamisten" (GSIM) schlug ein hochrangiger Vertreter der AU vor, "den Dialog mit den Extremisten zu sondieren", um eine weitere Ausbreitung des Terrorismus und der Gewalt auf ganz Westafrika zu stoppen. Seit Beginn der Krise 2012 hätten die wachsende militärische Präsenz Frankreichs, der Vereinten Nationen und der G5-Staaten (Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad) in der Region "keine entscheidenden Fortschritte erbracht" (Le Monde, 16.10.20).
Die französische Regierung und Armeeführung kritisierten indes den Gefangenenaustausch. Seit jeher lehnen sie jegliche Gespräche mit terroristischen Gruppen ab. Der Schwerpunkt der westlichen Staaten liegt im Moment im humanitären Bereich. Am 20. Oktober 2020 sagten auf einer virtuellen Geberkonferenz 24 Regierungen und internationale Institutionen, darunter die UNO und die EU, insgesamt 1,4 Mrd. Euro an Hilfsgelder für Burkina Faso, Mali und Niger zu. Damit soll verhindert werden, dass sich die Situation "zu einer der weltweit größten humanitären Krisen" entwickelt. Das Ergebnis lag allerdings deutlich unter den von UN-Generalsekretär, António Guterres, im Vorfeld geäußerten Erwartungen.