Bürgerkomitees: Vom Aktionsbündnis zum Aufarbeitungsverein
Christian Booß
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Über 31 Jahre sind der Sturm auf die Dienststellen der DDR-Geheimpolizei Staatssicherheit und deren Entmachtung mittlerweile her. Vorübergehend übernahmen im Dezember 1989 und Januar 1990 sogenannte Bürgerkomitees die Kontrolle über die Stasi-Akten. Was ist eigentlich aus ihnen geworden? Ein Überblick von Christian Booß.
Einleitung
In einigen Regionen Ostdeutschlands bestehen immer noch Vereine, die schon dem Namen nach an jene "Bürgerkomitees" erinnern, die Ende 1989 und im ersten Halbjahr 1990 die Auflösung der DDR-Geheimpolizei Externer Link: Stasi vorantrieben und kontrollierten.
Namhafte Aufarbeitungsvereine gingen u.a. aus dem Bürgerkomitee Leipzig, den Bürgerkomitees in Magdeburg, in Thüringen und in Berlin hervor. Weitere Vereine sind seitdem auf regionaler Ebene tätig, ihre Namen weisen aber nicht mehr auf ihren Ursprung hin, beispielsweise in Erfurt und Halle. Sie alle arbeiten seit 2019 in einem Internetprojekt zusammen (Externer Link: stasibesetzung.de), das versucht, die Stasi-Auflösung in allen ostdeutschen Regionen vergleichend darzustellen.
Einem Mythos zufolge heißt es oft: Anfang Dezember '89 besetzten mutige DDR-Bürgerinnen und -Bürger die 15 Stasi-Bezirkszentralen, bildeten Bürgerkomitees und verhinderten, dass die Stasi-Akten vernichtet wurden. Auch wenn dies im Großen und Ganzen die Geschichte der Stasiauflösung zusammenfasst, ist es eine grobe Vereinfachung. Weder fanden solche Schritte in allen 15 Bezirksleitungen statt, noch lässt sich überall von Besetzungen sprechen. Auch in der Frage, wie mit den Akten umgegangen werden sollte, gingen die Meinungen -– zumindest eine Zeitlang -– deutlich auseinander.
Keineswegs bildeten sich überall Bürgerkomitees, und wenn, dann waren ihre Bezeichnung, Zusammensetzung, ihre Aktivitäten und ihre Lebensdauer durchaus unterschiedlich. Die Namen reichten von Unabhängiger Untersuchungsausschuss (Rostock), Rat für Volkskontrolle (Potsdam), Bürgerinitiative (Dresden, Cottbus), Aktiv Staatssicherheit (Suhl), Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Tätigkeit des MfS (Neubrandenburg), Arbeitsausschuss (Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz) bis hin zur Koordinierungsgruppe (Frankfurt/Oder).
Rückblick auf die Entstehung und regionale Unterschiede
Nominell als „Bürgerkomitees“ bildeten sich MfS-Auflösegruppen am 4. und 5. Dezember 1989 im Zusammenhang mit den spektakulären ersten Besetzungen in Interner Link: Erfurt und Leipzig.
Wegen der größeren öffentlichen Ausstrahlung dieser Ereignisse prägte sich der Begriff der Bürgerkomitees ein. An anderen Orten konstituierten sie sich erst später, wie in Gera, Cottbus und Karl-Marx-Stadt. Nach einem der ersten überregionalen Treffen von StasiauflöserInnen am 4. Januar 1990 in Leipzig mit anschließender Pressekonferenz begann sich der Begriff Bürgerkomitees als Oberbegriff für die Gruppen in den ehemaligen Stasi-Dienststellen durchzusetzen. Die letzte BesetzerInnen-Gruppe im Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit bezeichnete sich von Anfang an als „Bürgerkomitee Normannenstraße“.
Die Gruppen, die unter diesem Sammelbegriff firmierten, waren jedoch sehr unterschiedlich an Größe, Legitimation, Zusammensetzung, Durchgriff und Professionalisierung. Anfangs waren es oft kleine Zirkel, in deren Kern sich Freundeskreise mit kirchenoppositionellem oder Neuem-Forums-Hintergrund zur Stasiauflösung verabredeten. Mit den Begehungen und Besetzungen von Stasi-Liegenschaften schwoll die Zahl neugieriger Mitakteure teilweise beträchtlich an. In Erfurt konstituierte sich das Bürgerkomitee analog zum Runden Tisch mit Alt- und Neugruppierungen aus elf Fraktionen mit je fünf Personen und einigen weiteren VertreterInnen, insgesamt aus 62 Personen. Daneben arbeitete eine Bürgerwache mit rund 150 Personen. In Leipzig kamen ebenfalls schnell 150 Personen zusammen, in der Berliner MfS-Zentrale anfangs 100, deren Zahl dann mehr oder minder kontinuierlich absank. Im zweiten Quartal 1990 blieben oft nur noch kleine Grüppchen oder wenige Personen übrig, rund zehn bis zwölf in Dresden oder fünf in Schwerin, die weitermachten.
In manchen Regionen hatten sich die Komitees schon vor der Deutschen Vereinigung im Oktober mehr oder minder komplett aufgelöst, beispielsweise ersatzlos in Neubrandenburg und in Rostock, und in Potsdam mit einem Abschlussbericht Ende April 1990, kurz vor den ersten freien Kommunalwahlen in der DDR.
Dort, wo die Kerngruppe der Stasi-AuflöserInnen von Anfang an sehr klein war, kaum existierte oder ihre Mitglieder sich im Zuge der demokratischen Umgestaltung prioritär anderen Aufgaben widmeten, ließen die zivilgesellschaftlichen Aufarbeitungsbemühungen bald nach. So war es etwa in Frankfurt/Oder und Neubrandenburg zu beobachten, wo es auch heute keine Nachfolgevereine gibt.
Allerdings hing und hängt die Frage zivilgesellschaftlicher Aufarbeitungsaktivitäten nicht einfach von der Menge oder dem Drängen der damaligen Volksbewegung ab. In manchen Kreisen dürfte die Zahl der Demonstrierenden, die sich an Anti-Stasi-Protesten beteiligten, im Verhältnis größer gewesen sein als in den Bezirksstädten. In jedem der über 200 Kreise und manchen Großbetrieben unterhielt die Stasi ein relativ dichtes Netz an Kreis- und Objektdienststellen. Gelegentlich wurden derartige Kreisdienststellen, seit November 1989 Kreisämter für Nationale Sicherheit genannt, überrannt. Das war offenbar eine Folge davon, dass es an solchen Orten keine Gruppierung gab, die den Protest kanalisierte. In der MfS-Zentrale beschrieb man etwas dramatisierend: „In mehreren Kreisen sind Mitarbeiter bzw. ehemalige Mitarbeiter der KÄ [Kreisämter] massiven Drohungen, Beschimpfungen und Diskriminierungen ausgesetzt.“
Wer warum in den Komitees tätig war, ist nicht immer nachvollziehbar. In den Bezirksstädten gab es zumeist bürgerrechtlich und kirchlich beeinflusste Gruppen, die sich teilweise seit längerem kannten, oder es handelte sich um minder profilierte Einzelpersonen aus diesem Milieu. Aber der Zuwachs aus anderen Personengruppen war beträchtlich. In Schwerin gehörten nur zwei von über sechs Personen zur Altbürgerbewegung, die übrigen stießen im Dezember 1989 neu hinzu. Es ist nachgewiesen, dass damals auch staatlicherseits kompromissbereite Bürger in die Komitees geschickt werden sollten, so eine Stasi-Gesprächsdisposition für ein Zusammentreffen mit örtlichen Räten der Bezirke. Diesen wurde als Strategie vorgeschlagen: „in Bürgerkomitees mitarbeiten, entschärfen, als Parteimitglieder wesentlich wirksamer werden.“ Hier und da wurden auch ehemalige inoffizielle Mitarbeiter der Stasi enttarnt. Die staatliche Nähe mancher hat Bürgerkomitees vor einigen Jahren sogar den Vorwurf eingebracht, im Rahmen der sogenannten Sicherheitspartnerschaften zu Kollaborateuren des Staates geworden zu sein. In einzelnen Regionen wie in Frankfurt und Schwerin führten Diskussionen um umstrittene Bürgerkomiteemitglieder und ihre Aktivitäten zu heftigen Streitigkeiten und einem Autoritätsverlust der StasiauflöserInnen.
In der Tat sind heute viele Fakten bekannt, die der schroffen Gegenüberstellung - hier mutige Bürger, dort der nachgebende Staat - entgegenstehen. Nirgendwo betrat man Anfang Dezember die Bezirksstellen ohne Begleitung von Staatsanwälten. In Leipzig hatte sich das Neue Forum schon im November anlässlich der Montags-Demos deeskalierend vor die „Runde Ecke“ gestellt. Dies war der Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung am innerstädtischen Ring, an dem regelmäßig die legendären Leipziger Montags-Demonstrationszüge vorbeiführten. Die Stasi hatte einen Dialog angeboten. Die „Besetzung“ am 4. Dezember 1989 in Leipzig hatte auch die Funktion, eine Erstürmung durch Montagsdemonstranten zu verhindern. Auch in Suhl, Rostock und Gera beruhigten BürgerrechtlerInnen die Demonstrierenden.
Überspitzt könnte man sagen, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler verhinderten sogar wilde Besetzungen, indem sie den Protest kanalisierten und die Aktensicherung und Auflösungskontrolle in überschaubaren Gruppen vornahmen. Deeskalation war neben der Aktensicherung eine der wichtigsten Funktionen der Bürgerkomitees. In den Bezirken sei es „noch friedlich und gewaltfrei“, fasste das Lagezentrum der Regierung die Situationsberichte aus den Bezirksstädten am 13. Dezember 1989 zusammen. „Grundlage dafür ist das enge Zusammenwirken der Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates mit Vertretern der politischen Gruppierungen und konstruktiven Kräften der Bürgerinitiativen.“
Mancherorts verschwamm auch das Gegenüber Staat vs. Bürgerkomitees. Im Zuge der von den BürgerInnen durchgesetzten kompletten Stasi-Auflösung wurden ab März immer mehr Aktive in die staatlichen Institutionen integriert. In Berlin wechselten mehrere Mitglieder der AG Sicherheit des Runden Tisches in das staatliche Auflösungskomitee. Sie blieben dort zwar Katalysator der Aufarbeitung, waren aber auch an ein einengendes Reglement gebunden. In den Bezirken wurden ab Ende März 1990 mehrere Auflösungsstäbe in die Leitung ehemaliger Bürgerkomiteemitglieder übergeben. Mit Bildung des Volkskammerausschusses zur Kontrolle der Stasi-Auflösung entsandten die Bürgerkomitees jeweils ein Mitglied, das als BeraterIn fungierte.
Angesichts der oft konfliktreichen Zusammenarbeit von Bürgerkomitees und staatlichen Vertretern lässt sich mancherorts kaum von „Besetzungen“ sprechen. Geradezu das Gegenbild des Besetzungsmythos ist der Fall der Berliner Bezirksverwaltung: Sie wurde nie von BürgerInnen „gestürmt“, sondern von oben durch staatliche Stellen aufgelöst. Dazu wurde ein entsprechendes Kontrollgremium gegründet, auch dies firmierte unter dem Namen Bürgerkomitee, obwohl es sich nie als solches konstituiert hatte. Diese Gruppierung atomisierte sich schon im zweiten Quartal 1990.
Die Phase unter Innenminister Diestel
Das Schicksal der Bürgerkomitees im weiteren Verlauf des Jahres 1990 ist bislang weitgehend unerforscht. Ein großer Teil der Stasi-Auflösung, die Entwaffnung und die Entlassung fast aller MitarbeiterInnen, war im März 1990 abgeschlossen. Auch das ließ manchem ein weiteres Engagement in dieser Frage als nicht vordringlich erscheinen und führte zu Absetzbewegungen. Die anstehenden Wahlen in der DDR erschienen wichtiger. Hinzu kamen Querelen mit dem nach der Volkskammerwahl vom März eingesetzten DDR-Innenminister Interner Link: Peter-Michael Diestel (DSU).
Auseinandersetzungen zwischen der Exekutive und den Bürgerinitiativen hatte es zwar auch unter Ministerpräsident Modrow gegeben. Dessen Regierung wollte aber schließlich den Status der Bürgerkomitees sogar per Statut garantieren. Diestel dagegen zweifelte grundsätzlich die Legitimität der Bürgerkomitees an, da nunmehr eine parlamentarisch gewählte Exekutive bestünde. Nur sehr große und selbstbewusste Bürgerkomitees, allen voran die in Erfurt und Leipzig, welche auch die Unterstützung regionaler Gremien hatten, boten Diestel die Stirn. Einige wählten subversive Strategien bis dahin, dass sie Betroffenen heimlich Aktenkopien aushändigten oder die Herausgabe von Akten an Diestel verweigerten. Andere lösten sich sukzessive auf.
Dort, wo die Komitees dicht an den Akten blieben und sich in den politischen Prozess der Diskussion um die Zukunft der Stasi-Akten einmischten, bildeten sich jedoch neue Strukturen heraus, die zum Teil bis heute überdauert haben. Ein Katalysator waren die Konflikte um die Regelungen zur Zukunft der Stasi-Akten im Einigungsvertrag. Die Bundesregierung wollte den Zugang zu den Akten damals stark einschränken, einen Teil der Akten sogar zeitnah vernichten. Die Bürgerbewegung im Osten rief nach Aufarbeitung. Auch wenn der Konflikt durch einen Kompromiss aufgelöst werden konnte, blieb ein Misstrauen, die Aufarbeitung nach der Deutschen Vereinigung nicht alleine der staatlichen Seite zu überlassen. Dies war, neben regionalen und individuellen Aufarbeitungsfragen, einer der Anlässe für die Um- bzw. Neugründungen ehemaliger Bürgerkomitees als Aufarbeitungsvereine.
Aufarbeitungsvereine im Zuge der Deutschen Einheit
Mit dem 3. Oktober 1990 übernahm ein Sonderbeauftragter die Hoheit über die Stasi-Akten, den noch die DDR-Volkskammer vorgeschlagen hatte. Durch den ersten Sonderbeauftragen, den vormaligen Parlamentsabgeordneten von Bündnis 90, Joachim Gauck, prägte sich der Begriff „Gauck-Behörde“ für die Stasi-Unterlagenbehörde ein. Da nunmehr die Verantwortung für die Stasi-Akten bei einer parlamentarisch legitimierten Institution lag, hatte sich die Aufgabe der Bürgerkomitees als Kontrollgremium im Prinzip erledigt. Gauck integrierte auch ehemalige Mitglieder von Bürgerkomitees, indem er einige anstellte und auch zu LeiterInnen seiner damals 14 Außenstellen berief, die sich in den ehemaligen DDR-Bezirken (außer Cottbus) bildeten, zum Beispiel in Erfurt (Eber), Dresden (Rottig), Leipzig (Beleites/Mühlmann/Schild), Magdeburg (Edel), Gera (Geipel/Schmidt), Potsdam (Leichsenring/Rüdiger) und Berlin (Erdmann).
Manche Außenstellen der Stasi-Unterlagenbehörde waren insofern stärker von engagierten Bürgern geprägt als die große Berliner Zentrale, in der viele Mitarbeitende ehemaliger DDR-Ministerien Büros bezogen. Dazu gehörten vereinzelt auch Mitarbeiter des MfS.
Nicht nur deshalb gab es eine deutliche Unzufriedenheit mit der Arbeit „der Behörde“, wie sie gelegentlich, leicht distanziert, genannt wird. Beklagt wurden auch Aufarbeitungsdefizite und bürokratische Verfahren bei der Akteneinsicht sowie wenig nachvollziehbare Schwärzungen in den Akten.
Vor allem in den ersten knapp eineinhalb Jahren durften „normale“ Bürgerinnen und Bürger in der Regel nicht ihre eigene Akte einsehen. Auch „AufarbeiterInnen“ oder WissenschaftlerInnen blieben mehr oder minder ausgesperrt. Ein Gesetz, das den Aktenzugang ermöglichen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch in der Diskussion und sollte erst Ende 1991 vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden.
Im Zuge der Auflösung der Bürgerkomitees gründeten sich daher 1990/91 mehrere Aufarbeitungs-Vereine, die sich namentlich auf die Komiteezeit bezogen, wie in Magdeburg, Dresden, Leipzig und Berlin und auch für das gesamte Bundesland Thüringen. An anderen Orten bildeten sich Vereine unter anderem Namen, die großenteils von Personen geprägt waren, die sich während der Friedlichen Revolution in ihrer Region besonders engagiert hatten, so in Erfurt, Halle, Potsdam, Cottbus. Dabei handelte es sich um die Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V. in Erfurt, den Zeit-Geschichte(n) e.V. in Halle , das Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg e.V. in Potsdam und die Initiative Aufarbeitung in Cottbus.
Es gibt sogar spätere Neugründungen wie die in Chemnitz, wo sich erst 2012 der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. gründete, der als Träger für die Gedenkstätte am Kaßberg, dem Sitz des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses der Stasi fungierte. Auch in Neustrelitz, wo zu DDR-Zeiten noch lange die Bezirksstaatsanwaltschaft und die Stasi angesiedelt waren, bevor sie nach Neubrandenburg umsiedelten, bildete sich seit 2011 der Verein Stasi-Haftanstalt Töpferstraße e.V., der sich um die Erinnerungsarbeit in der alten Untersuchungshaftanstalt in Neustrelitz kümmert.
Auch in einzelnen anderen ehemaligen Kreisen existieren derartige Vereine. Hervorzuheben ist die Geschichtswerkstatt Jena e. V., die symbolträchtig am 17. Juni 1995 entstand und die Aufarbeitungszeitschrift „Gerbergasse 18“ herausgibt. Der Straßenname bezieht sich auf die Adresse der ehemaligen Kreisdienststelle des MfS.
Personell kleiner, aber Inhaltlich breiter
Die größeren Vereine setzen durchaus unterschiedliche Akzente im Rahmen ihrer Aufarbeitungsarbeit, wie vier Beispiele zeigen: Der bekannteste Verein, in der „Runden Ecke“ in Leipzig, verfügt über eine große Sammlung von Ausstellungsobjekten, in kleinerem Umfang ist das auch in Magdeburg der Fall. Berlin hat über Jahre die überregionale Aufarbeitungszeitschrift „Horch und Guck“ betrieben. Das Thüringer Bürgerkomitee ist ein wichtiger Faktor im Beratungsnetzwerk für die Betroffenen der DDR-Diktatur. Erfurt war stark bei der Konzipierung der örtlichen Gedenkstätte engagiert. Die meisten haben den engen Rahmen der Stasi-Geschichte verlassen. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Diktatur- und Widerstandsgeschichte der DDR, nicht selten unter Einbeziehung der NS-Vergangenheit. Alle betreiben, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, Forschungen zum Thema, mehrere publizieren dazu, oft mit regionalgeschichtlichen Akzenten.
Nahezu alle haben sich an konzeptionellen Diskussionen zur Gedenkstättenarbeit und zur Zukunft der Stasi-Immobilien in ihrer Region beteiligt. Da sich in den meisten ehemaligen Bezirksstädten Außenstellen der Stasi-Unterlagenbehörde befinden und in den Landeshauptstädten Ostdeutschlands seit den 1990er Jahren auch Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur angesiedelt sind, sind die Vereine Teil einer vergleichsweise dichten Aufarbeitungsinfrastruktur. Einerseits profitieren sie von der Aktennähe und zum Teil auch der finanziellen staatlichen Förderung, andererseits kam es vor allem in Leipzig und Berlin auch immer wieder zu Spannungen wegen einer gewissen Konkurrenzsituation bzw. unterschiedlichen Konzepten. Inwieweit sich die ab 2021 geplante Abwicklung der Stasi-Unterlagenbehörde und damit der mittelfristige Abzug der Stasi-Akten aus sieben Regionen mittel- und langfristig auswirken wird, ist noch nicht abzusehen.
Am stabilsten scheinen die Vereine dort, wo es ihnen gelungen ist, sich mit einer Kombination aus ehrenamtlichem Engagement und staatlichen Fördermitteln mehr oder minder zu professionalisieren und eine feste Funktion in der kommunalen bzw. regionalen Gedenkstättenlandschaft einzunehmen. Dort, wo die finanziellen und personellen Möglichkeiten es erlaubten, ist es über Festanstellungen teilweise gelungen, die Arbeit an eine jüngere Nacherfahrungsgeneration zu übertragen.
Die eigentliche Bewährungsprobe, ob die Vereine die Generationen-Etappe überstehen, steht allerdings noch aus. Auch wenn immer wieder für derartige Vereine nicht untypische Krisen zu verzeichnen sind, haben doch mehrere von ihnen über die 30 vergangenen Jahre eine bemerkenswerte Stabilität gezeigt und wichtige Spuren in der regionalen Aufarbeitungs- und Gedenkkultur hinterlassen. Vor allem in Leipzig und Erfurt gehören heute die wichtigen Jahrestage zur Friedlichen Revolution und Stasi-Auflösung zur Identität ihrer Städte.
Teil II: Übersicht Bürgerkomitee Leipzig
Am stabilsten und vitalsten erwies sich das Bürgerkomitee Leipzig. Dies war schon während der Stasi-Besetzungs- und -Auflösungsphase in der zweitgrößten Stadt der DDR so. Die ehemalige Stasi-Bezirksverwaltung (BV) lag provozierend wie eine Trutzburg am Rande der Innenstadt – und damit von Anfang an auf der Route der Leipziger Montagsdemonstrationen. Mit starker Unterstützung erst durch den Runden Tisch, dann durch die Stadtverordnetenversammlung von Leipzig, konnten bis zum 3. Oktober 1990 einige Komiteemitglieder angestellt werden.
Bis heute ist die „Runde Ecke“ als Sitz des Bürgerkomitees eine wichtige Anlaufstelle nicht nur für LeipzigerInnen, sondern auch für BesucherInnen von auswärts. Da das große Gelände zu einem Campus für Freiheit und Bürgerrechte weiterentwickelt werden soll, sind die Chancen für die Weiterarbeit gut. Nach der Deutschen Einheit konstituierte sich die Gruppe am 16. April 1991 als Verein mit den Schwerpunkten Ausstellungen und Veranstaltungen. Dass sich der Verein auch „an der aktuellen Meinungsbildung in der Gesellschaft“ beteiligen will, wurde Anfang der 1990er Jahre in der Vorbereitung des Stasi-Unterlagengesetzes deutlich, als das Bürgerkomitee Leipzig einen eigenen Gesetzesentwurf vorlegte.
Schon früh interessierte sich das Bürgerkomitee Leipzig nicht nur für Akten, sondern auch für Gegenstände der Stasi, die für Ausstellungen, Museen oder Filmillustrationen von Interesse sein könnten. Daher verfügt der Verein über eine der wohl bedeutendsten Sammlungen dieser Art, sieht man einmal vom ebenfalls 1991 gegründeten Interner Link: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. ab, das allein 15.000 Fotos aus der Zeit der Friedlichen Revolution aufbereitet hat.
Schon seit Mai 1990 präsentieren die Leipziger eine Dauerausstellung unter dem Titel „STASI - Macht und Banalität. Indizien des Verbrechens“. Seit September 1990 ist ihr Sitz in der „Runden Ecke“ und soll nach eigenem Bekunden der Verklärung und Verharmlosung der Ereignisse und Fakten entgegenwirken. Gerade weil sie nicht den heutigen ästhetischen Anforderungen an Ausstellungen entspricht, sondern eher den Charme der Umbruchzeit bewahrt hat, ist sie im doppelten Sinne ein sehenswertes zeithistorisches Dokument.
Wie bei nahezu allen Aufarbeitungsinitiativen, die von ehrenamtlichen Vereinen getragen werden, gibt es auch in Leipzig gelegentlich Kritik und Zweifel an der Professionalität der Arbeit. Der Verein selbst formuliert den Anspruch, „in seiner Gedenkstätte und durch seine politische Bildungsarbeit die Erinnerung an die Diktatur wach zu halten. Er will „einerseits den Wert von Freiheit und Selbstbestimmung deutlich machen und andererseits den Blick für die Gefahren totalitärer Ideologien“ schärfen. Mit Hilfe öffentlicher Gelder konnte der Verein professionelle Arbeitsstrukturen aufbauen, so dass die „Runde Ecke“ zum festen Bestandteil der Leipziger Wiederaufarbeitungsanlage und zu einem Tourismusmagnet geworden ist. Regelmäßige Aufarbeitungs-Veranstaltungen und seit 1993 ein dichtes Programm während der Buchmesse im Rahmen von „Leipzig liest“ gehören zum Standardrepertoire. An Jahrestagen, die an die Friedliche Revolution erinnern, wie dem Tag der Leipziger Großdemonstration vom 9. Oktober 1989 und der Stasi-Besetzung vom 4. Dezember, ist der Verein regelmäßig mit eigenen Beiträgen präsent.
Im Umfeld Leipzigs konnte die Präsentation von Original-Orten staatlicher Repression in den vergangenen Jahren erweitert werden. Da es nicht gelungen war, die Untersuchungshaftanstalt in Leipzig zu einem Gedenkort zu machen, wurde eine originalgetreue Zelle im Museum in der „Runden Ecke“ nachgestaltet.
Auf Initiative des Bürgerkomitees wurde die ehemals zentrale Hinrichtungsstelle der DDR 2001 von der Landesregierung unter Schutz gestellt. In abgetrennten Räumen der Strafvollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Straße in der Leipziger Südvorstadt wurden von 1960 bis 1981 alle in der DDR verhängten Todesurteile zentral vollstreckt. Die Räumlichkeiten blieben weitgehend im originalen Zustand erhalten. Zweimal im Jahr bietet das Bürgerkomitee Begehungen an und arbeitet mit dem sächsischen Justizministerium an einem Konzept, die Stätte regelmäßig zugänglich zu machen. Durch jahrelange Bemühungen gelang es auch, den Ausweichbunker der Stasi-Bezirksverwaltung in Machern im Kreis Wurzen zu „retten“, museal herzurichten und regelmäßig für öffentliche Führungen zu öffnen.
Bürgerkomitee Magdeburg
Früh sah man auch in Magdeburg die Notwendigkeit, die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung in neuen Formen weiter zu führen. Schon vor der Deutschen Einheit gründete sich am 30.06.1990 das Bürgerkomitee Magdeburg als gemeinnütziger „Verein zur Aufklärung des Machtmissbrauchs durch SED und MfS“. Der Verein fokussiert dabei nicht nur auf die Stasi, sondern auch auf Teile der Polizei und der Justiz. Er betreibt heute das Dokumentationszentrum in der Gedenkstätte Moritzplatz am gleichnamigen Platz in Magdeburg. In den Räumen der ehemaligen U-Haftanstalt finden Führungen statt, und eine Dauerausstellung über Haft und Friedliche Revolution wird präsentiert.
Im Dokumentationszentrum befindet sich eine Sammlung an Gegenständen aus dem Stasi-Alltag, deren Grundstock auf Fundstücke im Untersuchungstrakt der Haftanstalt zurückgeht, darunter sind technische Geräte, Überwachungskameras und Abhörtechnik, Siegelstempel sowie weitere Arbeitsmittel. Inzwischen konnte der Bestand durch Schenkungen und Leihgaben ergänzt werden. Dazu gehören auch Plakate und Dokumente. Teil des Dokumentationszentrums ist auch eine Leihbibliothek mit fast 25.000 Bänden. Die politische Bildungsarbeit besteht aus Veranstaltungen und regelmäßigen Projekttagen mit SchülerInnen zu DDR-Themen. Zur Besetzung existiert eine DVD-ZeitzeugInnendokumentation.
Bürgerkomitee Thüringen
Der landesweit aktive Verein gründete sich als „Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V.“ am 2. Oktober 1990. Da schon das Bürgerkomitee Suhl durch den damaligen Bezirkstag legitimiert war, wirkt es überregional.
Schon wenige Tage nach der Stasi-Besetzung startete in Interner Link: Suhl ein Beratungsangebot für Opfer der SED-Diktatur. Hieraus entwickelte sich eine „AG Menschenrechte“, aus der heraus sich der entscheidende Arbeitsschwerpunkt des Bürgerkomitees bildete. Wegen des intensiven Kontaktes zu Betroffenen konnten schon früh diverse Gesetzesinitiativen zur Rehabilitierung und Wiedergutmachung formuliert werden. Das Thüringer Bürgerkomitee ist mit ungefähr 40 Mitgliedern rein quantitativ eines der größten seiner Art. Anders, als der Name suggerieren könnte, koordiniert der Verein aber nicht alle NGO-Aufarbeitungsaktivitäten in Thüringen. Die Satzung nahm teilweise wörtlich Gedanken der Magdeburger Vereinsgründung auf. Als Zweck wird definiert:
„Die Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne der Aufdeckung der Machtstrukturen der SED und aller sie unterstützenden Organisationen; die Vermittlung immaterieller und materieller Hilfen für Personen, die in der Zeit von 1945 bis 1989 aus politischen, religiösen oder sozialen Gründen verfolgt wurden oder anderweitig Nachteile erlitten haben.“
Entsprechend sind Schwerpunkte, die schon in der Auflösungszeit die Interner Link: Suhler Gruppe prägten, auch heute für den Verein charakteristisch. Das Bürgerkomitee unterhält seit 1994 in Zella-Mehlis eine Beratungsstelle für Opfer der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und des SED-Regimes, die vom thüringischen Sozialministerium finanziert wird. Das Bürgerkomitee fungiert zudem als Träger der Beratungsinitiative im Freistaat Thüringen. Die Beratungsinitiative bietet Sprechstunden in allen Landkreisen, den kreisfreien Städten und größeren Orten Thüringens an. Zu den Besonderheiten dieser Beratungsinitiative gehört eine von der Caritas verantwortete Selbsthilfegruppe für Betroffene.
Schon 1990 konnte das Bürgerkomitee mit ersten Erkenntnissen zur MfS- und Auflösungs-Geschichte aufwarten. In dieser Kontinuität gibt das Bürgerkomitee bis heute eine Forschungs- und Studienreihe heraus. Einzigartig dürfte das 1990 erstellte „Grenzlexikon“ sein. Im Rahmen der politischen Bildung bietet das Bürgerkomitee unter Einbeziehung von ZeitzeugInnen regelmäßig Studien- und Projekttage im schulischen und außerschulischen Bereich an.
Berlin, Bürgerkomitee 15. Januar e.V.
Die zwei ursprünglichen Bürgerkomitees in Berlin lösten sich gegen Ende des ersten Halbjahres 1990 auf. Das Bürgerkomitee in der Berliner Bezirksverwaltung bestand ohnehin nur aus wenigen, zum Schluss einzelnen Personen, und war nie als wirkliches Komitee gegründet worden. Zwar spielte Detlef Kummer neben Thomas Schmidt aus Schwerin als Koordinator der überregionalen Bürgerkomiteetreffen weiter eine Rolle, sie sahen ihre eigene Rolle aber als begrenzt an. Kummer wurde zum Mitglied der Regierungskommission berufen, die Innenminister Peter Michael Diestel im Sommer 1990 ins Leben rief, um den Bürgerkomitees politisch den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Einer der wichtigsten Köpfe des Bürgerkomitees Normannenstraße in der alten MfS-Zentrale, David Gill, wechselte im Juni 1990 als Ausschusssekretär in den Sonderausschuss der Volkskammer zur Kontrolle der Stasi-Auflösung.
Auch wenn das Bürgerkomitee wieder und wieder gegen die Versuche des Innenministers, die Bürgerkomitees auszutrocknen, protestierte, litt es zu Beginn des Sommers 1990 unter personeller Auszehrung, was die Kontrollaufgaben erschwerte. Am 30. Juni 1990 erlosch das Mandat nach einer Vereinbarung mit dem Innenminister.
Aus Sorge, das Stasi-Archiv könnte unzugänglich für die Aufarbeitung werden, kam es im September 1990 zu einer Besetzung des Archivs. Einzelne BesetzerInnen und ehemalige Komitee-Mitglieder wurden nach dem 3. Oktober 1990 in die entstehende Gauck-Behörde übernommen, andere wurden im November 1990 Mitbegründerinnen der Robert-Havemann-Gesellschaft mit dem Archiv der Bürgerbewegung der DDR. Der Sprecher des Bürgerkomitees in der Normannenstraße, Interner Link: David Gill, fungierte fortan als Pressesprecher von Joachim Gauck. Allerdings kam es zwischen einzelnen Bürgerkomiteemitgliedern und der Behörde bald zu Konflikten. Die einen unterstellten den BeamtInnen Formalismus, während diese die BürgerrechtlerInnen nicht selten der Regelverletzung verdächtigten. Durch Kündigungen schieden einige bald wieder aus. Symbolträchtig war der Konflikt um Stasi-Akten, die den letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar Interner Link: de Maiziere (CDU) betrafen. Während ehemalige StasiauflöserInnen die Akten als ein deutliches Indiz für eine Stasi-Belastung ansahen, erhielt die Gauck-Behörde einen Maulkorb von der Bundesregierung verpasst, die ihrerseits de Maiziere als unbelastet darstellte.
Die Arbeit der wachsenden Behörde wirkte damals intransparent und wenig aufarbeitungsorientiert. Hinzu kam der Frust, dass in Berlin auch Stasi-AuflöserInnen aus anderen Arbeitszusammenhängen wie dem staatlichen Auflösungskomitee mit dessen Abschaffung „arbeitslos“ geworden waren. Mit dem Verein Bürgerkomitee 15. Januar e.V. schafften sich manche eine neue Perspektive und wollten gleichzeitig die Aufarbeitung vorantreiben wie auch in die politische Öffentlichkeit hineinwirken. Mit der Gauck-Behörde bestand von Anfang an zwar ein kooperatives Verhältnis, das aber zugleich von kritischer Distanz geprägt war. Der Verein gründete sich offiziell am 12. Februar 1991. Praktische Ziele waren zunächst der Aufbau einer Bibliothek und eines Dokumentationszentrums für Kopien von Stasi-Dokumenten, einschlägigen Presseartikeln und Videomitschnitten.
Angesichts der institutionellen Konkurrenz von staatlichen Aufarbeitungsinstitutionen im Berliner Raum erwies sich dieses ambitionierte Vorhaben auf die Dauer als illusionär. Furore machte der Berliner Verein über Jahre mit der ab 1992 vierteljährlich erscheinenden Aufarbeitungszeitschrift Horch und Guck, die sich nicht nur mit der Stasi und ihrer Auflösung, sondern auch mit der DDR-Geschichte und ihrer Aufarbeitung allgemein befasste. Das Ungewöhnliche und Besondere dieser Zeitschrift bestand darin, dass hier Laien, die sich in der Stasiauflösungsphase "on the job" qualifiziert hatten, mit WissenschaftlerInnen bis hin zu ProfessorInnen austauschten, die sich in ihrer Forschung mit der DDR befassten und die die ab 1991 möglichen Aktenzugänge für neue Forschungen nutzten. Wie in vielen derartigen Vereinen führten jedoch persönliche Veränderungen, der zeitliche Abstand zur DDR, fachliche und persönliche Differenzen und gesundheitliche sowie soziale Probleme zu personellen Veränderungen und Austritten.
Das ambitionierte Projekt geriet 2014 endgültig in die Krise. Auch wenn es gelegentlich zu Neueintritten, teilweise auch von Mitgliedern aus dem „Westen“ kam, führte dies nicht immer zu einem arbeitsfähigen Vereins-Mitgliedergremium. Ein zuweilen eigenwilliges Eigenleben der Redaktion und mangelndes Steuerungsvermögen im herausgebenden Verein erwiesen sich als eine schlechte Kombination. Zusammen mit aufkommenden finanziellen Problemen führte dies in einem komplizierten Prozess dazu, dass ein neuer Vorstand „Horch und Guck“ schließlich an das Bürgerkomitee Leipzig abgab, das bis heute aber kein regelmäßiges Erscheinen mehr gewährleisten kann. Zustande kam zwar im Berliner Bürgerkomitee 2015 noch ein Dokumentarfilmprojekt über das "Interner Link: Einläuten der Friedlichen Revolution" im Herbst 1989, aber der Verein verlor über die vorangegangen Auseinandersetzungen einen großen Teil seiner Mitglieder. Durch eine Reaktivierung im Jahre 2016, an der auch der Autor beteiligt war, konnten die Aktivitäten mit neuem Profil neu belebt werden, wenn auch der Verein nicht zu alter Größe zurückfand.
Schwerpunkte der Arbeit sind Veranstaltungen zur politischen Bildung, Führungen zur Geschichte des MfS-Geländes, Expertisen zum Gelände und Stellungsnahmen zu seiner Entwicklung. Kritisch begleitet wird auch die Abwicklung der Stasi-Unterlagenbehörde. Markante Erfolge waren eine Ausstellung und der gleichnamige Film „Fußball im Hinterhof der Stasi -– der SV Lichtenberg 47 e.V.“ und der zusammen mit der freien Theatergruppe „Lunatiks“ entwickelte Audiowalk zur Stasibesetzung „Reden versus Schweigen“. Auf die Initiative des Vereins ist es auch zurückzuführen, dass in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Stasi-Gelände ein künstlerisch gestalteter Gedenkort entstehen soll, der an die Stätten der Repression, insbesondere an das sowjetische Militärtribunal und die Stasi-Untersuchungshaftanstalt im ehemaligen Gefängnis Magdalenenstraße, erinnert.
Halle
Der Verein „Zeit-Geschichte(n)“ wurde 1995 in Halle gegründet, aber nicht nur, um Stasi-Themen aufzuarbeiten, obwohl mehrere seiner Mitglieder maßgeblich an der Auflösung des MfS mitgewirkt hatten. Seine vom Land finanzierte Geschäftsstelle befindet sich an prominentem Ort im Neuen Theater in der Innenstadt. Die breite thematische Palette wird in regelmäßigen Veranstaltungen und in einer Buch-Edition namens „Zeit-Geschichte(n)“ deutlich. Darin dokumentiert ist auch die Debatte, die 1992 in Halle durch die Veröffentlichung einer Liste mit inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi für Schlagzeilen sorgte.
Auch wenn diese „Durchstecherei“ nicht dem Verein zuzurechnen ist, beteiligten sich spätere Mitglieder maßgeblich an dem Diskussionsprozess. Hintergrund für diese spektakuläre Aktion war die schleppende Aufarbeitung und Überprüfung des öffentlichen Dienstes in der Stadt und an der Universität. Diese Auseinandersetzungen wurden später in der Publikationsreihe des Vereins dokumentiert. Diese hat einen regionalen und biografisch-historischen Schwerpunkt, beschränkt sich aber keineswegs auf das Thema MfS, sondern nimmt die DDR- und NS- Aufarbeitung und den europäischen Kontext in den Blick. „Geschichte wird nicht als beschlossene Sache und schon gar nicht als geschlossene Akte betrachtet, sondern als Prozess, der bis in die Gegenwart wirksam und spürbar ist.“ Auch einzelne Dokumentationen und Ausstellungen wurden erstellt. Am Ort der Geschäftsstelle findet eine Bürgerberatung für Betroffene von SED-Unrecht in Halle (Saale) durch die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur statt.
Erfurt
Die „Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V.“ wurde am 12. Januar 1999 von Mitgliedern des ehemaligen Erfurter Bürgerkomitees gegründet. Sie beschäftigt sich vorwiegend mit der Geschichte des Freistaates Thüringen der letzten neun Jahrzehnte, insbesondere mit der des Nationalsozialismus und der DDR. Veröffentlichungen haben ihren Schwerpunkt in der Friedlichen Revolution und der Stasi-Auflösung.
Es liegt eine akribische Dokumentation der ersten Besetzung am Morgen des 4. Dezember 1989 vor, dazu die Darstellung der Arbeit des Bürgerkomitees, ergänzt durch Interviews mit Zeitzeugen.
Die Mitglieder haben aber auch den Anspruch, weiterhin politisch aktiv zu bleiben und sich in der Stadt Erfurt am öffentlichen Leben zu beteiligen. Eines der wichtigsten Themen der letzten Jahre war die Diskussion um die Zukunft der Interner Link: „Andreasstraße“, dem ehemaligen Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung. Der Verein hat einen wichtigen Anteil bei der Konzeption dieser Bildungs- und Gedenkstätte unweit des Erfurter Domes. Seit 2013 befindet sie sich in Trägerschaft der Stiftung Ettersberg. Die Gesellschaft für Zeitgeschichte arbeitet im Beirat der Gedenkstätte mit.
Die Mitarbeitenden gestalten jährlich ein umfangreiches Programm, rund 30.000 Menschen besuchen jährlich die Einrichtung. Führungen und Workshops mit SchülerInnengruppen machen gut ein Drittel der Arbeit aus. Darüber hinaus bietet der Verein einen Stadtrundgang mit Mediaguide zu den „Orten der Friedlichen Revolution“ in Erfurt an. Die Erinnerung an die erste Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung in der DDR an jedem 4. Dezember ist ein im Stadtkalender von Erfurt nicht wegzudenkendes Ereignis.
Resümee
Der Begriff „Bürgerkomitee“ ist ein Sammelbegriff für jene Gruppierungen von DDR-BürgerInnen, die 1989/90 zunächst im losen Verband, dann zunehmend strukturiert daran gingen, die Auflösung der Stasi einzuleiten, zu kontrollieren und voranzutreiben. Auch wenn bis heute nicht immer klar ist, ob nicht verdeckte staatliche oder gar Stasi-VertreterInnen versuchten, diese Aktivität in eine bestimmte Richtung zu lenken, und die BürgervertreterInnen gelegentlich auch Kompromisse eingingen, die heute umstritten sind, waren sie letztlich doch in dem Bemühen erfolgreich, die Geheimpolizei der DDR komplett aufzulösen.
Allerdings war dies nicht das Verdienst der Bürgerkomitees allein. Vor allem um die Jahreswende 1989/90 waren es die allgemeine Volksbewegung und die Instabilität des Systems, die die Regierung Modrow veranlassten, in der Stasi-Frage nachzugeben. In den ehemaligen Bezirksstädten der DDR hatten die Bürgerkomitees einen wesentlichen Anteil daran, dass die Anti-Stasi-Proteste friedlich blieben. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf der Kollaboration mag in dem einen oder anderen Fall zutreffen. Doch war der friedliche Verlauf der Revolution eines der obersten Ziele der damaligen AkteurInnen. Auch gab ihnen der Erfolg, die ersatzlose Auflösung der einst übermächtig wirkenden DDR-Geheimpolizei durchzusetzen, letztlich recht. Die Bürgerkomitees sicherten zudem einen beträchtlichen Teil der Stasi-Unterlagen und haben einen wesentlichen Anteil daran, dass diese letztlich für die Aufarbeitung zur Verfügung stehen, obwohl sie sich damals oft vom MfS hinters Licht geführt fühlten.
Auch Basiswissen über die Geheimpolizei der DDR aus den ersten Aktensichtungen stammt von Mitakteurinnen und -akteuren der Bürgerkomitees. Insofern genießen Einzelpersonen, Gruppen und Vereine, die sich aus dieser Tradition speisen, regional zum Teil noch erhebliches Ansehen; letztere sind aber personell inzwischen stark ausgedünnt. Viele BürgerInnen, die sich für Bürgerrechte und die Stasi-Auflösung engagierten, waren später in öffentlichen Funktionen tätig. Vereine, die in dieser Tradition entstanden, sind zum Teil noch heute aktiv. Besonders vital sind sie da, wo mit Hilfe öffentlicher Gelder eine Teilprofessionalisierung der ehrenamtlichen Arbeit möglich wurde oder eine Beziehung zu Gedenkstätten in ehemaligen Stasi-Räumlichkeiten besteht.
Zitierweise: Christian Booß, "Bürgerkomitees: Vom Aktionsbündnis zum Aufarbeitungsverein“, in: Deutschland Archiv, 15.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325522. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Dr. Christian Booß ist Historiker und Journalist und war bis 2018 Projektkoordinator in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde. Seit September 2016 ist Booß Vorsitzender des Aufarbeitungsvereins "Bürgerkomitee 15. Januar e.V." in Berlin-Lichtenberg.
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