Immer wieder versuchen "Wir sind das Volk"-rufende Demonstranten von heute das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 zu kapern. Zuletzt nahmen Tausende von selbsternannten Querdenker-Demonstranten in Leipzig dafür sogar die historischen Plätze und Straßen der Massendemonstrationen vom Herbst 89 in Anspruch. Sie knüpfen an den Mythos von ’89 an, um sich selbst aufzuwerten. Neonazis und rechtsextreme Ideologen nutzen in ihren Publikationen schon lange diese Erzählung der 89er-Proteste für sich – als eine Traditionslinie des erfolgreichen Kampfes gegen ein "System". Pegida-Proteste und schließlich die AfD haben diese Erzählung immer größer gemacht. Erinnert sei nur an das Wahlkampf-Motto "Wende 2.0" oder "1989/2019 – Vollende die Wende!".
Die unverfrorene Aneignung der Kraft und der Geschichte jener Revolution, die eine Diktatur samt ihrer Mauer friedlich hinwegfegte und demokratische Freiheiten errang, ist ein historischer Missbrauch, der auch damit zu tun hat, dass es in unserem Land selbst nach über 30 Jahren keinen bedeutenden und zentralen Ort gibt, der sie würdigt, erklärt, präsentiert, erfahrbar macht und sie mit den Herausforderungen der heutigen Zeit in Europa und der Welt verbindet.
Zudem sind solche Erinnerungsorte und Symbole bedeutsam "für die Zusammengehörigkeit einer Nation" und wichtig für die "Befestigung der Demokratie", wie die Historiker Rainer Eckert und Ilko-Sascha Kowalczuk zu Recht in dieser Serie "Zeitenwende" schrieben.
In seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich für einen solchen Ort ausgesprochen. Wenn die Friedliche Revolution auch heute Ermutigung sein könne, "dann schaffen wir doch auch eine Stätte, die an diesen Mut erinnert", sagte Steinmeier. Zwar gebe es schon etliche Orte des Gedenkens, aber Deutschland brauche auch einen "herausgehobenen Ort", der mehr als ein Denkmal, mehr als eine Gedenkstätte sei, der an die Freiheits- und Demokratieimpulse der friedlichen Revolutionäre erinnere. Einen Ort, der daran erinnere, "dass die Ostdeutschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und sich selbst befreit haben. Das ist eine Sternstunde, die auf ewig Platz in unserer deutschen Demokratiegeschichte hat."
Ja, könnte man jetzt einwenden, es gibt doch schon so viele Gedenkorte, in Berlin und anderswo. Richtig, aber es sind Orte, die in erster Linie an die Repression in der DDR erinnern: ehemalige DDR-Zuchthäuser oder Untersuchungsgefängnisse der Stasi, Jugendwerkhöfe, Mauer- und Todesstreifen, Wachtürme, Grenzkontrollanlagen, Hinrichtungsstätten, gefährliche Fluchten. Alles sicher gerechtfertigte Gedenkorte, interessant, lehrreich und auch gut besucht. Aber was bleibt letzten Endes bei vielen Besuchern als (Haupt-)Eindruck zurück?
"Ich würde alles dafür tun, um bloß hier nicht hineinzugeraten", brachte es ein Jugendlicher nach der Besichtigung der Haftanstalt Hohenschönhausen mir gegenüber auf den Punkt. Wenn das Gefühl zurückbleibt, besser man kuscht und fügt sich ein, passt sich einer Diktatur an, um bloß nicht unter die Räder zu geraten, dann gerinnt die Erzählung von der DDR in den Köpfen nachfolgender Generationen zu einem einzigen Konzentrat abschreckender Repression. Dabei hat dieser ganze Repressionsapparat von Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl, SED, Stasi und vieles mehr letzten Endes nichts genutzt.
Bloß – wo ist der Ort, an dem Widerstand und Opposition, Mut und Unerschrockenheit im Zentrum der Darstellung stehen? Wo sind die positiven Erinnerungen, auf die wir alle gemeinsam stolz sein könnten?
Es gibt diesen Ort nicht. Manche Originalorte, wie die legendäre Umweltbibliothek bei der Zionskirche wurden ohne Not aufgegeben, in Immobiliengold verwandelt. Das "Haus der Demokratie" in der Friedrichstraße ist verschwunden, Robert Havemanns Haus, ein zentraler Treffpunkt der Opposition, wurde aufgegeben, die legendäre Biermann-Wohnung, Chausseestraße 131, die er und Eva-Maria wie Nina Hagen 1976 zurücklassen mussten, ist eine private Mietwohnung und nur noch eine Erinnerung auf dem gleichnamigen Plattencover, das letzte zentrale Grundstück am Checkpoint Charlie in öffentlicher Hand wurde an einen Großinvestor vergeben, die Chance vertan, an einem Berlin-Besucher-Hotspot einen würdigen Erinnerungsort zu schaffen.
Jenseits der Nostalgie bieder-spießiger DDR-Museen
Dabei könnten von einem Ort, der die Erinnerung an die DDR anders als bisher präsentiert, wesentliche Impulse für das Zusammenwachsen und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ausgehen. Es gab nicht nur 1989/90, sondern schon lange Jahre davor wertvolle Initiativen, Gedanken und Aktivisten in der DDR, die es lohnt, endlich wahrzunehmen. Jenseits der Nostalgie bieder-spießiger DDR-Museen und auch jenseits der Schreckensdarstellung. "Fridays for Future"-Aktivisten von heute werden dort nicht fündig – wahrscheinlich aber eher bei den zivilisationskritischen Umweltinitiativen, die es im Osten seit Beginn der 1980er-Jahre gab.
Und was könnte eine andere Erinnerungskultur den Anhängern und Mitläufern der "Querdenker" bieten?
Bei der friedlichen Revolution, die sie kapern wollen, ging es tatsächlich um einen Kampf für demokratische Freiheiten: Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Mitgestaltung der Bürger. "Wir wollen mündige Bürger sein" war einer der wichtigsten Sätze jener Tage. Das Neue Forum wollte aber den Dialog und nicht das Niedermachen Andersdenkender. Im Herbst 1989 knüpften die Forderungen der Demonstranten sozusagen an die demokratische Revolution von 1848 an, die Friedliche Revolution ist deshalb ein bedeutender Teil unserer deutschen Demokratiegeschichte Um diese Erinnerung vor Missbrauch zu schützen, um sie überhaupt für alle Menschen wachzuhalten, könnte ein zentraler Ort, wie ihn der Bundespräsident eingefordert hat und für den auch der Bundestag im September 2019 grundsätzlich Zustimmung gegeben hat, einige Legenden über ’89 und die Friedliche Revolution zurechtrücken. Es mangelt zudem nicht nur manchen Drehbuchschreibern von TV-Serien, sondern viel zu vielen Westdeutschen immer noch an Kenntnis und Interesse an der Geschichte ihres eigenen Landes, im Osten jenseits der Elbe.
Ein Forum, ein Zentrum, ein Ort, an dem es um Widerstand und Opposition geht, heißt aber nicht, allein führende Köpfe, Gruppen oder Initiativen zu würdigen, ob sie nun Bärbel Bohley, Robert Havemann oder Wolf Biermann heißen. Im DDR-Alltag gab es Hunderte, wenn nicht Tausende von kleinen, bisher unbekannt gebliebenen Verweigerungs- und Protestakten. Ob Lehrer, die ihre Schüler nicht denunzierten, Brigaden, die fantasievoll die Anforderungen der Partei- wie Gewerkschaftsleitung austricksten, Grenzer, die danebenschossen, Protestparolen, die unerkannt auf Straßen gemalt wurden, Hausbuchführer, die ihre Nachbarn nicht verrieten – es gab viele Möglichkeiten, nicht Teil und Mitläufer einer Diktatur zu sein, sondern ihr zu widerstehen, selbst ohne im Gefängnis zu landen, es gab viele Möglichkeiten, in der DDR ein richtiges, ein anständiges Leben im Falschen zu führen – das wären Lebensleistungen, die an einem solchem Ort endlich mit Respekt gewürdigt werden könnten.
Es muss ein europäischer Ort sein, ein Ort des Dialogs und der Begegnung
Ein solcher Ort könnte so erstmals das ganze Spektrum von Menschlichkeit, Widerstand und Opposition in den Blick der Öffentlichkeit stellen. Dazu gehört auch die Vielfalt von Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen, die das autoritäre Regime über die Grenze hinweg unterlaufen haben, genauso wie die Verbindungen zu widerständigen Kräften in Frankreich, Italien, Großbritannien und vor allem Osteuropa. Hier können Lebensgeschichten und Lebensleistungen von Bekannten und Unbekannten erzählt werden. All das kann in einer großen Dauerausstellung installiert werden. In temporären Ausstellungen könnte die sprudelnde Euphorie und entfesselte Kreativität der DDR-Bürger im wilden "Jahr der Anarchie" vor der Wiedervereinigung Thema sein, aber auch Prag 68/West-Berlin 68, Umweltbewegung in Ost und West, Frauen im Osten und Westen, "Gastarbeiter" und "Vertragsarbeiter", Punker in der Sowjetunion, England, DDR und Westdeutschland …
Das Forum Opposition und Widerstand sollte aber mehr als ein Gedenkort oder Museum sein: ein Zentrum von Aufklärung, Bildung, Information, Archiv und Begegnungsort mit Gästewohnung. Es muss ein europäischer Ort sein, der nicht die politischen Anführer, sondern die handelnden Menschen in den Mittelpunkt rückt, der auch in die heutige Welt hineinstrahlt. Ein Ort des Dialogs und der Begegnung, ein Ort der Heilung offener Wunden, des Brücken-Bauens in alle Richtungen.
Wie eine Impfung gegen schlechte und falsche Erinnerungen
Gäbe es ihn schon (und derzeit keine Pandemie), hätten dort schon längst Veranstaltungen mit Vertretern der Protestbewegung in Belarus, Hongkong, Frankreich oder anderen Ländern stattgefunden. Die Dauerausstellung, ein großer Saal, Räumlichkeiten für Konferenzen und Workshops bieten viele Möglichkeiten: Filmreihen mit verbotenen oder zensierten Defa-Filmen, Workshops mit Schulklassen, die vielleicht erstmals in ihrem Leben an einer Schreibmaschine eine Matrize beschriften könnten, um das Leipziger Flugblatt vom 9. Oktober 1989 nachzudrucken, in dem es an die Polizisten, Kampfgruppen und Soldaten hieß: "Keine Gewalt, wir sind ein Volk". Konferenzen von Historikern mit anderen Wissenschaftlern, Fortbildung für Politiker, Journalisten oder Lehrer, Dialogversuche zwischen Hygiene-Demonstranten und Gegendemonstranten.
Ein solcher Ort fehlt – schon viel zu lange.
Ein Platz dafür wird sich finden: Ideal und am einfachsten wäre ein Neubau, im Zentrum der Stadt, vielleicht sogar im Regierungsviertel. Der Palast der Republik hätte ein solcher Ort werden können, nun knüpft ein Pseudo-Schloss an ganz andere Traditionen an. Auch im Lichtenberger Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale ist das Forum Opposition und Widerstand denkbar, aber dort lauern viele Fallstricke, da wesentliche Gebäude wie das Haus 18, in dessen großem Saal einst Erich Mielke seine Reden hielt, vor Jahren für ein paar Euro in private Spekulantenhände gingen und nun teuer zurückgekauft werden müssten. Denkmal- und Brandschutz werden dann beim Umbau sicher weiteren Tribut verlangen – nichts ist unmöglich, doch eine Langzeitbaustelle will in Berlin niemand mehr. Einige Initiativen und Ausstellungen sind bereits auf dem Areal der ehemaligen MfS-Zentrale vorhanden und finden als "Campus für Demokratie" Besucherresonanz. Die Robert-Havemann-Gesellschaft unterstützt und fordert schon seit Jahren ein Forum für Opposition und Widerstand und hat sich mit der inhaltlichen Ausrichtung beschäftigt.
An welchem Ort auch immer ein solches Vorhaben am Ende sein mag, wir brauchen es bald. Wie eine Impfung gegen schlechte und falsche Erinnerungen. Es gilt jetzt, die Initiative zu ergreifen.
Der Beitrag erschien 2020 zunächst in der Serie "Zeitenwende" der Berliner Zeitung. Zitierweise: Peter Wensierski, "Wo sind die positiven Erinnerungen?“, in: Deutschland Archiv, 06.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325082. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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