Vor ein paar Nächten hatte ich einen Traum. Er spielte im Jahr 1990, und es war eigentlich kein Traum, sondern eher so, als spiele mir mein Unterbewusstsein mein Leben von damals noch einmal vor. Alles war plötzlich wieder da, die Bilder, die Gefühle, das Chaos, die Möglichkeiten. Etwas Unglaubliches war passiert: Die Mauer war gefallen, die Grenzen waren offen, die DDR gab es nicht mehr. Niemand wusste, was kommt, alles löste sich auf, alles wurde in Frage gestellt, es gab Angst, Unsicherheit, Hoffnung.
Es war ein bisschen so wie jetzt.
Ich war damals 22 Jahre alt, Studentin und verheiratet. Ich weiß, das klingt seltsam. Aber in meinem Studentenwohnheim in Leipzig wohnten auch Gleichaltrige mit Mann und Kindern. Sie bekamen ein Zimmer für sich, worum ich sie beneidete, ich teilte mir meins mit drei Kommilitoninnen und konnte es kaum erwarten, am Wochenende nach Berlin zu meinem Mann zu fahren. Er war zehn Jahre älter als ich. Wir wollten für immer zusammenbleiben, eine Familie gründen. Das war mein Lebensziel. Natürlich wollte ich auch mein Studium beenden, Journalistin werden und ins Ausland reisen, aber ich wusste, dass das nicht leicht werden würde und wahrscheinlich dachte ich deshalb, wenn ich mir meine Zukunft vorstellte, vor allem an meine Familie.
Mauerfall 1989: Alles veränderte sich, wirklich alles.
Der Mauerfall verschob meine Prioritäten. Ich war frei, wobei ich vorher gar nicht gewusst hatte, wie unfrei ich gewesen war, was mir vorenthalten wurde, was ich verpasst hatte. Ich kannte es ja nicht anders, und ich hätte nie damit gerechnet, wie schnell sich alles verändern würde. Wirklich alles. Die Politik, die Schulen, die Betriebe, das Angebot in den Läden, die Preise, die Autos, das Fernsehen, die Zeitungen, die Filme, der Urlaub. Es wäre womöglich einfacher aufzuzählen, was sich nicht veränderte. Familien, Freundschaften, die Natur.
Wobei auch das nicht stimmt. Ehen zerbrachen, weil die Frauen in den Westen gingen und die Männer zurückblieben, Freundschaften veränderten sich. Neulich las ich irgendwo, dass es die DDR-Milchkuh nicht mehr gibt. Sie wurde durch das deutsche Holstein-Rind verdrängt. Ich war schockiert. Die schwarz-weiß gefleckten Kühe, die ich vor den Fenstern sah, wenn ich mit meinen Großeltern an die Ostsee fuhr! Ein Opfer der Wiedervereinigung! Und ich habe es nicht einmal gemerkt.
Das sind vielleicht Kleinigkeiten, aber in solchen Momenten verstehe ich, was damals passiert ist, wie ich, wie wir alle überrollt wurden. Von Tsunamis ist jetzt in der Corona-Krise oft die Rede. Ich kannte diesen Begriff vor 30 Jahren noch nicht. Aber er scheint mir zutreffend zu sein. Eine Welle, die unerwartet anrollt und überraschend über einem zusammenschlägt. Wenn man Glück hat, kann man sich irgendwo festhalten, die Luft anhalten, wieder auftauchen, neu anfangen, zwischen Trümmern, im Nichts.
Wenn man Pech hat, geht man unter, verliert seine Arbeit, seinen Halt, wie mein Vater, mein Schwiegervater, meine Freundin. Es gab keine Toten, als die Mauer fiel, als der Staat zusammenbrach, die Menschen behielten die Fassung, egal auf welcher Seite sie standen. Aber wurde jemals gezählt, wer sich in den Jahren danach zu Tode trank, an Überforderung starb oder an gebrochenem Herzen?
Vor ein paar Tagen ging ich mit Klaus Wolfram, dem Mitbegründer des Neuen Forums, spazieren. Er hat im November 2019 in der Akademie der Künste eine Rede gehalten, in der er das Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung als "Wunderjahr" bezeichnete. Das sei daran zu erkennen gewesen, dass die Menschen den Kopf höher trugen, im Betrieb wie auf der Straße, sagte Wolfram. "Sie sahen einander ins Gesicht und ließen sich ansprechen." Zwei Jahre später sei all das wieder vorbei gewesen. "Das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung gerade eben erobert hatte, verwandelte sich in Entmündigung und Belehrung."
Klaus Wolfram: Verständnis im Osten, Empörung aus dem Westen
Mich hat die Rede erst Wochen später erreicht, aber einige Sätze daraus hätte ich mir am liebsten an die Wand geschrieben, so sehr sprachen sie mir aus dem Herzen. Ich rief ihn an, und jetzt laufen wir nebeneinander her, in behördlich vorgeschriebenem Abstand. Es ist einer dieser kalten, sonnigen Frühlingstage, das Jahr 1990 ist weit weg und doch ganz nah. Vor allem als Wolfram mir von den Reaktionen auf seine Rede erzählt. Wie Klaus Staeck, ehemaliger Akademiepräsident, und andere Westdeutsche, sich aufregten. Wie die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ihm, Wolfram, um den Hals fiel und ihm dankte. Wie Volker Braun sich gleich hinsetzte und seine eigene Rede schrieb, um Wolfram zu unterstützen.
30 Jahre waren vergangen, aber als ich neben dem 69-Jährigen herlief, begriff ich, wie sehr die Deutschen immer noch gespalten sind. Selbst in Gesprächen mit meinen westdeutschen Freunden spüre ich das. Sie waren in den Neunzigern in den Osten aufgebrochen, lebten aber trotzdem weiter in ihrem alten Land, mit ihren Gesetzen, ihren Netzwerken, ihren Schulsystemen und der Gewissheit, sich nie für ihre Vergangenheit rechtfertigen zu müssen. Sie verstehen auch nicht, warum ich in Zeiten einer Epidemie wie es sie seit hundert Jahren nicht mehr gab, schon wieder über den Osten nachdenke. Ich verstehe es ja selbst nicht so richtig, weiß nicht, ob es angemessen ist, ob man das wirklich vergleichen kann.
Abends lese ich die neuesten Corona-Zahlen im Internet, wenn ich aufwache die WhatsApp Nachrichten meiner New Yorker Freunde, in denen steht, dass inzwischen fast alle im Bekanntenkreis infiziert sind, dass die Straßen leer sind bis auf die Obdachlosen.
"Es ist wie in einem Apokalypse-Film. Ich hätte nie gedacht, so etwas könnte passieren", schreibt meine Freundin Liz. Wir haben zusammen den 11. September erlebt, auch damit wird die Corona-Krise verglichen, auch damals stand die Welt still, flogen keine Flugzeuge, stürzte die Börse ab, wurden die Schulen geschlossen, aber in meinen Träumen jetzt taucht nicht Amerika auf, sondern Deutschland vor 30 Jahren.
Wiedervereinigung 1989/1990: Das Jahr meines Lebens
1990 ist das Jahr meines Lebens, das mir von allen am besten in Erinnerung ist. Alles war neu, alles möglich, man konnte sagen und schreiben, was man wollte. Noch Ende 1989 besuchte ich einen Bochumer Journalisten, den ich auf einer Montagsdemonstration in Leipzig kennengelernt hatte, nahm an einem Austausch mit Dortmunder Studenten teil, wohnte in ihrer WG, nahm an ihren Seminaren teil, erzählte ihnen von meinem Leben und sie mir von ihren.
Sie verstanden nicht, wie man mit 21 heiraten kann, ich fand sie karriereorientiert. Sie sahen sich vorsichtig um, als sie mich in Hellersdorf besuchten, ich war peinlich berührt, als bei einem Familientreffen in Rothenburg an der Fulda plötzlich alle den Kopf senkten und ein Tischgebet sprachen. Wir waren anders, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass mir die Dortmunder etwas voraus hatten, sondern dachte, dass wir voneinander lernen können.
Der Moment, wo ich wirklich verstand, was die Grenzöffnung bedeutete, wo ich es fühlte, war nicht mein erster Ausflug in der überfüllten U-Bahn nach Kreuzberg, sondern die Fahrt mit einem altem Volvo über den ehemaligen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Am Steuer saß Elke, eine der Dortmunderinnen, sie fuhr barfuß, wir hatten die Fenster offen und sangen Tom Petty. I won’t back down.
Kam ich nach Hause zu meinem Mann, sah er mich an wie eine Fremde. Er war Lehrer für Sport und Geographie, ich weiß nicht, ob ich ihn jemals fragte, wie er seinen Schülern die neuen Ländergrenzen erklärte. Vielleicht wollte ich es nicht hören, mir nicht die Laune verderben lassen. Ich war furchtlos, er ängstlich. Ich war begeistert, er bedrückt. Ich sah die Veränderungen als Chance, er fühlte sich betrogen.
Im Mai 1990, nicht einmal ein Jahr nach unserer Hochzeit, ließen wir uns scheiden. So schnell, als würde man sein altes Auto abmelden. Erst viel später habe ich mich gefragt, wie es mit uns weitergegangen wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. Ob es eine Art Gesetzmäßigkeit ist, dass sich Umbruchsituationen auch in Beziehungen widerspiegeln. Und was jetzt gerade alles so zerbricht.
Coronakrise und Wiedervereinigung: Ähnliche Gedanken
Ich liege in meinem Bett in Prenzlauer Berg, draußen ist es dunkel und ruhig, keine Flugzeuge, keine Autos, keine Bahnen sind zu hören. Gleich geht die Sonne auf, der Tag bricht an, ein weiterer Tag im Ausnahmezustand. Menschen bleiben zu Hause, weil es zu gefährlich ist, auf die Straße zu gehen, Ärzte und Pfleger arbeiten bis zur Erschöpfung, die Polizei meldet einen Anstieg häuslicher Gewalt, Betriebe gehen pleite, ein Finanzminister nimmt sich das Leben. Aber zwischen all diesen Nachrichten gibt es auch Grund zur Hoffnung: dass die Umwelt sauberer wird, dass Menschen achtsamer miteinander umgehen, dass man lernt, auf Sachen zu verzichten, die man gar nicht braucht, dass man begreift, was wichtig ist im Leben.
Etwas geht zu Ende, etwas Neues beginnt, wir wissen noch nicht, was es ist, aber vielleicht können wir es gestalten, aus vergangenen Fehlern lernen.
1990 hatte ich ähnliche Gedanken. Ich sah die Warnsignale, die Zeichen, mit denen ein neues System besiegelt wurde, das gar nicht neu war. Aber ich machte nichts dagegen, war zu beschäftigt mit mir selbst. Statt für eine neue ostdeutsche Verfassung zu kämpfen, fuhr ich mit dem VW Polo eines Westfreundes gegen einen Zaun, weil ich die Bremse nicht fand. Ein symbolisches Bild, so kommt es mir heute vor.
Meine Bremse war nicht der 3. Oktober 1990, sondern eine Bildungsreise ein paar Tage später. Ich meldete mich an, in der Hoffnung, Leute wie die Dortmunder kennenzulernen, sich auszutauschen, zu streiten. Stattdessen saß ich in Schulungsräumen, hörte Vorträge über das föderalistische System, die Befugnisse des Bundesrats und besuchte eine Gemeinde in der Schweiz, in der es kein Frauenwahlrecht gab.
Die Welt stand wieder still, aber ich rannte immer weiter, lebte ein Leben zwischen Ost und West, Gestern und Heute, Familie und Karriere, suchte die Versprechungen, die sich nicht erfüllt hatten, im Ausland, wartete darauf, dass so ein Moment des Aufbruchs, der Zeitenwende, wie ich sie 1990 erlebte, noch einmal wiederkommen würde.
Ist das jetzt so ein Moment?
Corona-Politik: Ostdeutsche sehen sie kritisch
Mir fällt auf, dass vor allem Ostdeutsche die Corona-Politik kritisch hinterfragen, ähnlich wie die Alten, die den Krieg erlebt hatten. Und ich frage mich, ob das damit zu tun hat, dass wir so einen Umbruch schon einmal erlebt haben, ob wir krisengestählter sind, schneller bereit, uns neuen Umständen anzupassen. Ob das, was uns in den vergangenen Jahren als Mangel angerechnet wurde und was wir oft selbst als Mangel empfanden, nun von Vorteil sein könnte.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass vieles, was vor 30 Jahren begann, was ich zu schätzen lernte, bedroht ist. Auf einmal überwachen Ordnungshüter wieder mein Verhalten, machen Länder ihre Grenzen dicht, werden neue Mauern gebaut. Wie in einer Zeitmaschine, die rückwärts läuft. Aber es gibt einen Unterschied zu damals, etwas, das mich tröstet und ermutigt. Diesmal, im jetzt 31. Jahr der Einheit, erleben wir, die Deutschen, die Veränderungen, den Umbruch der Gesellschaft nicht getrennt, sondern zusammen. Und können noch einmal neu anfangen.
Der Beitrag erschien 2020 zunächst in der Serie "Zeitenwende" der Berliner Zeitung. Zitierweise: Anja Reich, "Das Jahr meines Lebens“, in: Deutschland Archiv, 06.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325016. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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