Einleitung
Als Marion Winter an einem Sommertag im Jahr 1971 in der bundesdeutschen Botschaft in Belgrad ihren Pass bekommt, hat sie bereits eine lange, abenteuerliche Reise hinter sich. Sie ist aus der DDR mit dem Zug nach Ungarn gefahren, um dort ihren französischen Verlobten zu treffen. Die beiden kennen sich vom Studium in Leipzig, wollen heiraten, dürfen aber nicht. Frankreich erkennt die DDR als Staat noch nicht an, die DDR-Behörden sperren sich gegen die Ehe. Mit dem Peugeot 403 von Marion Winters Schwiegereltern fährt das Paar gemeinsam Richtung Jugoslawien. Vor der Grenze versteckt sie sich in einer eingebauten Metallkiste zwischen hinterer Sitzbank und Kofferraum. Die Flucht gelingt. 1972 heiratet Marion Winter in Caen ihren Verlobten und Fluchthelfer und erhält die französische Staatsbürgerschaft. Sie wird Deutschlehrerin an einem Gymnasium. 1988 wird in Caen das Musée du mémorial eröffnet, das nah am historischen Ort der Landung alliierter Truppen 1944 an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern und die Geschichte von Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert vor allem jungen Generationen vermitteln soll. 2009, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, eröffnet ein neuer Teil der Dauerausstellung mit dem Titel „Berlin au coeur de la guerre froide“ (Berlin im Zentrum des Kalten Krieges). Unter den Leihgebern und -geberinnen ist Marion Winter-Baucher, die Bücher, Urkunden und weitere Erinnerungsstücke aus ihrer Schulzeit in der DDR der Sammlung des Museums übergeben hat. Im Bereich zu Alltag und Repression sind sie in einer Vitrine als Objektensemble ausgestellt. Im Begleitheft zur Ausstellung für die Sekundarstufe I ist ein Foto dieses Ensembles unter den Schlagworten „DDR: Gesellschaft, Propaganda und Repression“ abgedruckt. Marion Winter-Baucher steht dem Mémorial auch als Zeitzeugin für Gespräche mit Schulklassen zur Verfügung. Am Mémorial de Caen ebnete das Engagement einer ostdeutsch-französischen Kulturmittlerin in Verbindung mit den kulturpolitischen Entscheidungen der Stadt Caen und des Wissenschaftlichen Beirats des Mémorial einem kleinen Ausschnitt von DDR-Geschichte den Weg ins Museum.
Der französische Blick auf die DDR
Schon in den 1960er Jahren, bevor die französische Regierung die DDR anerkannte und offizielle politische Beziehungen aufnahm, gab es in Frankreich insbesondere in kommunistisch geprägten Kreisen, ein reges Interesse an der DDR.Für sie war die DDR ein interessantes sozialistisches Experiment. Und sie galt als das bessere Deutschland durch ihr Bekenntnis zum Antifaschismus. Nach der Öffnung der Mauer 1989 reiste der französische Präsident François Mitterrand nach Ost-Berlin und Leipzig, um mit seiner Delegation für einen demokratischen DDR-Staat in einer zukünftigen Europäischen Union zu werben. Das Interesse an der DDR galt in Frankreich, zumindest unter der politischen Linken, weitgehend auch ihrem Fortbestehen. Gleichzeitig gab es 1989 in Frankreich, zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution, eine solidarische Parteinahme für die ostdeutsche Bürgerbewegung und das Streben der Ostdeutschen nach Freiheit und Demokratie. Die historischen Ausstellungen französischer Kuratorinnen und Kuratoren über die DDR, die nach 2009 eröffnet werden, knüpfen teilweise an dieses – durchaus von Widersprüchen geprägte – Interesse an der DDR an.
Vermittlungsauftrag Zeitgeschichte versus Erinnerungen an ein verschwundenes Land
Im Unterschied zum föderalistischen Deutschland erteilt das Erziehungsministerium im zentralistischen Frankreich einen staatlichen Auftrag zur Vermittlung von Zeitgeschichte an Jugendliche. Die Lehrpläne für Geschichte und Geografie zwischen 2008/2009 und 2019 brachten die Geschichte des geteilten Berlins im Kalten Krieg sowie zwischen 2011 und 2019 die Geschichte der DDR als Teil der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in die Schulbücher und andere Vermittlungsangebote. Zu diesen Angeboten gehört auch die eingangs genannte Dauerausstellung des Mémorial de Caen, die lehrplankonform Aspekte der DDR-Geschichte präsentiert. Sie nutzt mit einer didaktischen Aufbereitung eine andere Ästhetik als temporäre Ausstellungen, die freier in der Gestaltung und Zuspitzung von Themen sind.
Zwei solcher temporären Ausstellungen über die (verschwindende) DDR zeugen von einem ganz eigenen französischen Blick auf den ostdeutschen Staat und sein Erbe, indem sie Verschwundenes sichtbar machten. Zeitgleich mit der Eröffnung des neuen Ausstellungsabschnitts zu Berlin im Mémorial de Caen wurde die Ausstellung „Berlin 1989-2009: L’effacement des traces“ (Berlin 1989-2009: Die Tilgung der Spuren) des Musée d’histoire contemporaine (Museum für Zeitgeschichte) im Pariser Hôtel des Invalides gezeigt. Sie könnte als eine individuelle Auseinandersetzung des dreiköpfigen Kuratorenteams angesehen werden, wenn nicht 2017 mit „Éclats DDRDA Splitter“ erneut eine französische Ausstellung – diesmal im Institut français in Berlin – eröffnet worden wäre, die mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln versucht, Bruchstücke des verblassenden Erbes der DDR nachzuzeichnen. So ähnlich sich beide Sonderausstellungen sind, so sehr unterscheiden sie sich von Ausstellungen über die DDR in Deutschland und auch von der Dauerausstellung im Mémorial de Caen. Bewusst grenzen die Kuratorinnen und Kuratoren sich von der zumeist holzschnittartig didaktischen Darstellung der DDR als Diktatur und Unrechtsstaat ab. Es sind also französische Kulturmittlerinnen und -mittler mit einem persönlichen Bezug zur DDR-Geschichte oder einem besonderen Interesse an diesem Thema, die in Frankreich DDR-Geschichte in Ausstellungen sichtbar machen.
„Berlin im Zentrum des Kalten Krieges“ im Musée du Mémorial
Der Ausgangspunkt der Museumsgründung in Caen war die geschichtspolitische Etablierung Caens als Ort des Friedens und des Sieges über den Nationalsozialismus. An der Küste, wo die alliierten Truppen 1944 landeten, um von dort aus Frankreich von deutscher Besatzung und Vichy-Regierung zu befreien, sollte ein Museum entstehen, das dem Thema Krieg und Frieden im 20. und 21. Jahrhundert gewidmet ist. Die erste Konzeption positionierte das Museum gegen ein Vergessen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Im Jahr 1981 wurde dafür die Association des Amis du Musée Mémorial (der Verein der Freunde des Musée Mémorial) gegründet,die aus Historikerinnen und Historikern des neu gegründeten Institut d'histoire du temps présent (Instituts für Zeitgeschichte) in Paris und aus Archivaren und Archivarinnen bestand.
Das Musée du Mémorial richtet sich insbesondere an ein junges Publikum: die Hälfte der Besucherinnen und Besucher sind jünger als 20 Jahre. Die Bildungsreferentin des Museums, Isabelle Bournier, schätzt, dass Schulklassen 30 Prozent davon ausmachen. Pro Jahr kommen laut Angaben von Bournier zwischen 380.000 und 500.000 Menschen ins Mémorial, etwa so viele wie in das Haus der Geschichte in Bonn. Dadurch, dass es in Frankreich nur jeweils einen gültigen Lehrplan pro Klassenstufe und Klassentyp gibt, ist es für das privat finanzierte Mémorial leicht, seine Vermittlungsangebote für Schulklassen lehrplangerecht zuzuschneiden. Die 2009 eröffnete Dauerausstellung über Berlin im Zentrum des Kalten Krieges reagierte auf die Reform der französischen Lehrpläne, die ab 2008 das gleichnamige Thema für den Geschichtsunterricht in der 9. Klasse vorsahen. In der 11. Klasse war ab 2010 eine Wiederholung derselben Unterrichtseinheit bei den Klassentypen des generalistischen Abiturs vorgesehen.
Unter dem Direktor Stéphane Grimaldi, der 2005 vom Historial de la Grande Guerre (Museum zum Ersten Weltkrieg) in Péronne nach Caen wechselte, etablierte sich das Museum als ein attraktiver und renommierter Gedenk- und Bildungsort. Im Verein der Freunde des Musée Mémorial wurde die Entscheidung getroffen, inhaltlich über das ursprüngliche Thema des Débarquement (die Landung der alliierten Truppen) hinaus zu gehen.
Im Jahr 2002 wurde das Musée du Mémorial durch einen Anbau erweitert, der 5 000 Quadratmeter an Ausstellungsfläche hinzufügte. Diese Fläche ist seitdem der Geschichte des Kalten Krieges gewidmet, wobei die Geschichte der DDR zunächst noch keine Rolle spielte. Lediglich in der letzten Ausstellungseinheit zum Ende des Kalten Krieges, die den Fall der Berliner Mauer als zentrales Symbol ausstellte, fand das Grenzregime der DDR Erwähnung. Das Ausstellungsobjekt Mauersegmente – einige von einem privaten Sammler geliehen, andere vom Deutschen Historischen Museum – lenkten die Aufmerksamkeit auf dieses Thema. Diese Ausstellung ist 2009 vollkommen überarbeitet worden. Gleichzeitig wurde der neue Abschnitt „Berlin au cœur de la Guerre froide“ eröffnet. Dieser stellte Berlin nicht nur als Bühne des Ost-West-Konfliktes dar, sondern führte auch in die DDR-Geschichte ein, insofern sie die Situation Berlins in diesem Konflikt verdeutlichte.
Der Wissenschaftliche Beirat hatte entschieden, diesen Abschnitt näher an der Alltagsgeschichte zu orientieren als die bestehenden Bereiche der Ausstellung. Chronologisch bewegt sich die Besucherin oder der Besucher zunächst vom Jahr 1944 über die Berlin-Blockade (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) hin zu den verschiedenen Stationen von DDR-Geschichte. Einzelne thematische Einheiten zu Berlin als „Stadt der Geheimdienstagenten“ und zum „Krieg im Äther“ (zur Rolle von Radio und Fernsehen als Mittel in der Auseinandersetzung von Ost- und West-Berlin) präsentieren Aspekte der Alltagsgeschichte des Kalten Krieges in Berlin.
Widerstand und Opposition in der DDR werden in einem Raum, der die Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit thematisiert, indirekt dargestellt. So weist eine mit Namen markierte Geruchsprobe auf die Verfolgung politischer Gegner durch die Geheimpolizei hin. Hier zeigt sich, wie die Ausstellungskonzeption mit der Gegenüberstellung der beiden Machtblöcke als Leitlinie arbeitet, was auch im Bereich „Stadt der Agenten“ deutlich wird, der über die Tätigkeit der Spione beider Systeme informiert.
Der kleine Ausstellungsbereich zum Thema Schule und der Organisation Freie Deutsche Jugend (FDJ), in dem die Leihgaben von Marion Winter-Baucher ausgestellt werden, verzahnt Alltags- und Herrschaftsgeschichte. Beispielhaft für die Durchdringung der Schule mit der Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) liegt ein geöffnetes Mathematikbuch in der Vitrine, das eine Fotografie des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und DDR-Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, zeigt. Die vielfältigen Perspektiven auf die DDR werden in der Ausstellung jedoch eher angedeutet als auserzählt. Eine Verflechtungsgeschichte zwischen Bundesrepublik und DDR, die für die Vermittlung des Kalten Krieges in Deutschland zentral ist, erzählt die Ausstellung nicht. Der letzte Abschnitt „Die Berliner Mauer fällt“ gruppiert sich um das Großobjekt der Mauersegmente, die aus der vorherigen Ausstellung übernommen wurden. Den Weg aus der Ausstellung sowie aus der Geschichte des Kalten Krieges weisen großformatige Farbfotos von Trabi-Schlangen auf westdeutschen Autobahnen.
Das Bild von der DDR, das die Ausstellung „Berlin au coeur de la Guerre froide“ zeichnet, ist das eines Ostblockstaates, der insbesondere durch die Berliner Mauer symbolischer Schauplatz des Kalten Krieges war. Isabelle Bournier kritisiert im Interview mit der Verfasserin, dass die Ausstellung auf der Ebene der Ideologie bleibe. Sie führt das darauf zurück, dass es keine geteilten Erinnerungen, keine typischen mit dem Kalten Krieg verbundenen Objekte gebe. Die starke Vereinfachung gehe hier zu Lasten der Konkretisierung etwa von Lebensbedingungen und Differenzierungen innerhalb der beiden Machtblöcke und der Phasen des Kalten Krieges. Das Musée du Mémorial zeigt zwar eine durchaus multiperspektivische DDR-Darstellung, die einen gut illustrierten Abschnitt der Ausstellung zum Kalten Krieg ausmacht, aber im Schatten des Hauptthemas des Museums, des Zweiten Weltkrieges, steht.
„Berlin: Tilgung der Spuren 1989-2009“ im Musée d'histoire contemporaine Paris
Die Sonderausstellung „Berlin, l'Effacement des traces“ des Musée de l'histoire contemporaine (Museum für Zeitgeschichte) im Pariser Hôtel des Invalides entstand genau wie die Dauerausstellung zu Berlin im Mémorial anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls. Sie verfolgt aber einen grundsätzlich anderen Ansatz. Die Historikerinnen Sonia Combe und Régine Robin kuratierten gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Thierry Dufrêne eine Ausstellung über die Umgestaltung Berlins als eine „Verleugnung von Existenz“ und „willentliche und bewusste Zerstörung“ einer Vergangenheit in den Jahren 1989 bis 2009. Sie zeichneten anhand von Fotografien, Installationen und künstlerischen Arbeiten das allmähliche Verschwinden der „Berlin-capitale de la RDA“ (Hauptstadt der DDR) nach.
Die Fotos von Jean-Claude Mouton, der die Mauer und ihr Verschwinden zwischen 1989 und 2009 immer wieder fotografisch dokumentierte, strukturierten die Spurensuche, auf die die Besucherinnen und Besucher geschickt wurden. Ein Berliner Stadtplan der verschwundenen Straßennamen thematisierte das Erbe der DDR und die Umbenennungen als politischen Akt. In 20 Etappen wurde die Metamorphose des Stadtplanes nach 1990 gezeigt. Die Soundinstallation „OST“ des südafrikanischen Künstlers James Webb ließ die Stimme einer DDR-Bürgerin erklingen, die alle drei Strophen der Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“ singt. Aufgenommen wurde ihr Gesang im ehemaligen Funkhaus der DDR in der Nalepastraße im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick.
Die Ausstellung arbeitete mit „Mauern“ im übertragenen Sinn als Fläche politischer Agitation und Meinungsäußerung sowie künstlerischen Ausdrucks, angelehnt an die Gestaltung von Litfaßsäulen in der DDR und der im Frühjahr 1990 entstandenen East-Side-Gallery. Zwei für die Ausstellung geschaffene Mauer-Installationen zeigten in stilisierter Form überklebte und teils abgerissene DDR-Plakate (Wahlplakate der SED und Theaterplakate) sowie Graffiti. Der Anspruch der Kuratorinnen und des Kurators, die Geschichtspolitik zur DDR und das zerklüftete Gedächtnis im Alltag sichtbar zu machen und mit Spuren der Vergangenheit zu konfrontieren, wurde durch eine ethnologisch-künstlerische Perspektive umgesetzt.
In Interviews und im Katalog zur Ausstellung kritisierte das Kuratorenteam die fehlende Beteiligung der ostdeutschen Bevölkerung an den Entscheidungen zu Straßenumbenennungen und zum Abriss des Palastes der Republik. Sonia Combe, die wissenschaftlich zur Öffnung der Stasi-Archive gearbeitet hat, betont, „[…] wie schwierig es ist, die Erinnerungen von Bürgern der Ex-DDR zu integrieren; sobald deren Erinnerungen nicht von Unterdrückung und polizeilicher Überwachung beherrscht werden, verdächtigt man diese, sie würden sich nach der kommunistischen Diktatur sehnen.“
So war vielleicht auch die Vitrine in der Ausstellung mit Ostalgie-Produkten als eine Art Kuriositätenkabinett zu sehen, das den Versuch mancher Ostdeutscher (und mancher Westdeutscher) zeigte, am materiellen Erbe der DDR festzuhalten. Als Errungenschaft der DDR im Umbruch stellte die Ausstellung in einer Installation des ostdeutschen Künstlers Wolf Leo die Spruchbänder der Demonstrationen vom Herbst 1989 aus. Für den Katalog zur Ausstellung zeichnete Sonia Combe anhand des taz-Archivs das Aufkommen und die Verbreitung der Spruchbandtexte und Ausrufe nach. Die Demonstrationen auf der Straße wurden als Teil ostdeutscher Geschichte präsentiert und zum ostdeutschen Erbe erklärt. Etwa 3 000 Besucherinnen und Besucher sahen die Ausstellung in Paris.
„Splitter“ der DDR im Institut français Berlin und der Médiatique Estaminet Grenay
Die Ausstellung mit dem sperrigen Titel „Éclats DDRDA Splitter“ war eine deutsch-französische Kooperation auf Initiative des Historikers Nicolas Offenstadt, der in den Jahren 2016 und 2017 Gastprofessor an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder war. Mit seiner dortigen Kollegin Rita Aldenhoff-Hübinger und dem Fotografen Pierre-Jérôme Adjedj kuratierte er eine Ausstellung in Triptychen zu materiellen und mentalen Überresten der DDR am Beispiel von Frankfurt/Oder. Ähnlich wie die Ausstellung im Musée de l'histoire contemporaine handelt es sich also um eine ethnologisch-fotografische Annäherung an das Erbe der DDR, um eine Spurensuche.
Die Orte, an denen insbesondere Nicolas Offenstadt und Pierre-Jérôme Adjedj nach Spuren suchten und fündig wurden, sind stillgelegte Gebäude, die in der DDR Betriebe oder Kultureinrichtungen beherbergten. Dort barg Offenstadt Gegenstände, die zu Ausstellungsobjekten wurden, wie das Lehrer-Jahrbuch aus den 1980er Jahren mit handschriftlichen Notizen. Adjedj fotografierte gleichzeitig Wände mit verblichenen Staatssymbolen, noch hängenden gerahmten Portraits, Gardinen und Tapeten, aber auch zurückgelassene Maschinen oder auf dem Boden verstreute Formulare. Historiker, Historikerin und Fotograf arbeiteten im Anschluss gemeinsam an der Zusammenstellung von Tryptichen aus Foto, Objekt und Text, für die Aldenhoff-Hübinger die Texte schrieb.
Die Themenwahl ging von den Fundstücken und Fotos aus, etwa von der Büste Karl-Liebknechts aus der gleichnamigen Schule, die der ehemals berühmte DDR-Bildhauer Theo Balden schuf oder von Bierflaschenetiketten, die zum Thema Alkoholismus in der DDR überleiten. Die Gestaltung der Ausstellung verzichtete auf Rahmen für die Fotografien und auf Vitrinen für die Objekte, um Distanz zur Besucherin und zum Besucher abzubauen. Die in mehreren Kopien an die Wand genagelten Ausstellungstexte konnten mitgenommen werden.
Offenstadt, eigentlich Mediävist (Mittelalterforscher), erweitere seine Spurensuche im „verschwundenen Land“ DDR auf das gesamte Territorium Ostdeutschlands und präsentierte sie 2018 als Essay und 2019 als Bildband einem französischsprachigen Publikum. Er hatte laut eigener Aussage als linker Student bereits, trotz Kritik an der Umsetzung des Sozialismus, Sympathien für die DDR, die er allerdings nie bereiste. Mit seiner Forschung und seiner Ausstellung wollte er aber vor allem sichern, was aus seiner Sicht nicht auf den Müll oder Flohmärkte, sondern in Archive gehöre. Die Ausstellung „Éclats DDRDA Splitter“ wurde zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in der Médiatèque-Estaminet im nordfranzösischen Grenay gezeigt, weitere Ausstellungsorte sind geplant.
Fazit
Während die DDR-Darstellung im Musée du Mémorial in eine Großerzählung zu Kriegen im 20. Jahrhundert eingebettet ist und vermitteln will, dass die DDR eine Diktatur und Teil des Ost-West-Konfliktes war, waren die beschriebenen Sonderausstellungen freier in Rahmensetzung und Gestaltung. Anders als die Kuratorinnen und Kuratoren sowie der Wissenschaftliche Beirat im Mémorial setzten sich die Ausstellungsmacherinnen und -macher hier ganz explizit von der didaktischen Darstellung von DDR-Geschichte ab, die sie vor allem in der deutschen Erinnerungskultur wahrnahmen.
Ähnlich wie die Pariser Ausstellung zum „Tilgen der Spuren“ lädt die Ausstellung „Éclats DDRDA Splitter“ mit ihren zusammengesetzten „Splittern“ zum Entdecken von DDR-Geschichte in der Gegenwart ein. Beide gehen mit ihrer Perspektive auf Transformation und Neuinterpretation beziehungsweise Verlassen und Vergessen auf ostdeutsche Geschichte von den 1980er Jahren bis in die heutige Zeit ein, ohne den Mauerfall als absolute Zäsur zu erklären. Das Interesse an der DDR, das aus den Ausstellungen spricht, schließt die Erinnerung an die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft mit ein, die die DDR als Staat nicht einlösen konnte.
Zitierweise: "Auf den Spuren des ostdeutschen Staates -DDR-Geschichte in französischen Ausstellungen nach 2009 “, Marie Müller-Zetzsche, in: Deutschland Archiv, 30.3.2020, Link: www.bpb.de/306847
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