Der Preis der Einheit
Die deutsche Schocktherapie im ostmitteleuropäischen Vergleich
Philipp Ther
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Die deutsche Schocktherapie im ostmitteleuropäischen Vergleich. Dazu Thesen von Prof. Philipp Ther aus Wien über Ostdeutschlands Weg von 1989 bis heute. War dieser Weg alternativlos?
Im Ausland wird Deutschland seit der relativ raschen Erholung von der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 als wirtschaftliches Erfolgsmodell wahrgenommen. Doch wie schnell Aufschwung und Niedergang einander ablösen können, zeigt der Rückblick auf die späten neunziger Jahre. 1999 bezeichnete der Economist Deutschland als „den kranken Mann des Euro“.
Damals schien die Bundesrepublik in einem Teufelskreis aus geringem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit und Staatsschulden gefangen. Die damalige Krise war nicht zuletzt eine Folge der wirtschaftspolitischen Entscheidungen des Jahres 1990, die überwiegend in Bonn fielen und nicht in Berlin. Im Unterschied zur Revolution von 1989 waren die wichtigsten Akteure der Transformation Westdeutsche. Das lag an der Asymmetrie der Macht zwischen West- und Ostdeutschland und am Verlauf der deutschen Vereinigung, der einen weitgehenden Austausch der Eliten in Ostdeutschland zur Folge hatte.
Insofern kann man die Probleme bei der Transformation Deutschlands nicht der DDR oder der SED anlasten, wie das nach 1989 reflexhaft und aus wahltaktischen Gründen oft geschah. Stattdessen wird hier der Begriff „Einheitskrise“ verwendet, der auf die Zeit nach dem 3. Oktober verweist, die allerdings bereits durch die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom Juli 1990 eingeläutet wurde. Die Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland und die Geschichte der Treuhand des Bochumer Historikers Marcus Böick haben eine überfällige Debatte über Fehler und unbeabsichtigte Nebenwirkungen bei den Reformen und insbesondere bei der Privatisierung ausgelöst.
Übertriebene "Alternativlosigkeit"
Man sollte sich als Historiker hüten, im Nachhinein alles besser zu wissen, aber man soll auch nicht so tun, als wären die konkreten Reformen „alternativlos“ gewesen, wie das nach 1989 im Argumentationsmodus von Margaret Thatcher oft behauptet wurde. Die Geschichte kam nicht, wie sie kommen musste, sondern es gab zu verschiedenen Zeitpunkten alternative Handlungsoptionen.
Um dies und die deutsche Zeitgeschichte besser zu verstehen, wird hier die Transformation des vereinigten Deutschlands nicht für sich, sondern in einem breiteren europäischen Kontext betrachtet. Bei einem historischen Vergleich sind selbstverständlich unterschiedliche Ausgangsbedingungen zu beachten, die in Deutschland durch die Vereinigung von 1990 vorlagen. Dennoch kann ein Vergleich dazu beitragen, die Gemeinsamkeiten mit anderen Reformstaaten und die Spezifika der deutschen Reformpolitik und ihrer gesellschaftlichen Folgen besser zu verstehen.
Die Wirtschaftsreformen in den „fünf neuen Ländern“ – so nannte man sie 1990 ein wenig paternalistisch – zielten auf eine rasche Angleichung an den Westen ab. Der Ausgang des Kalten Krieges wurde nicht nur in der Bundesrepublik, sondern im gesamten Westen als Bestätigung des eigenen Systems verstanden. „Der Sozialismus hat verloren, der Kapitalismus hat gewonnen“, so schrieb der renommierte amerikanische Ökonom Robert Heilbroner Anfang 1989.
Bald darauf verabschiedeten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und das US-Finanzministerium den Washington Consensus. Dieses ökonomische Standardrezept für Krisenstaaten, den mosaischen Geboten gleich als Dekalog formuliert, war zunächst für die schuldengeplagten Länder Lateinamerikas gedacht, wurde dann aber vor allem im postkommunistischen Europa angewandt. Am Anfang stand die makroökonomische Stabilisierung, faktisch bedeutete das in allen Fällen ein Sparprogramm, gefolgt von der Triade Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung. Gegen Ende warb der Dekalog für „Foreign Direct Investments“ bzw. den globalen Finanzkapitalismus.
Das globale Jahr 1989
Der Washington Consensus war neben der Demokratisierung Chiles Teil des globalen Umbruchs von 1989. Chile ist für die „Schocktherapie“ insofern wichtig, als dort Ratgeber aus dem Umfeld der Chicago School of Economics wirkten und das Land als Vorbild für neoliberale Reformen anpriesen. Der lange Aufschwung nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise von 1982 wurde daher im Ausland überwiegend der radikalen Privatisierung, internen und externen Liberalisierung und Deregulierung zugeschrieben (nur die lukrativen Kupferminen blieben in Staatsbesitz).
Chile markiert den Beginn der neoliberalen „success stories“, die dann stark auf das postkommunistische Europa einwirkten. Bei näherer Betrachtung ist es fraglich, ob man den bis zur Asienkrise von 1998 anhaltenden Aufschwung des lateinamerikanischen Staates eher auf die neoliberale Wirtschaftspolitik unter Pinochet zurückführt oder die christ- und sozialdemokratische Wirtschaftspolitik nach 1989, die mit der durch eine aktive Bekämpfung der Armut und Steigerung der Kaufkraft ein „soziales Equilibrium“ anstrebte.
Die Ideen des Washington Consensus wurden in Europa schneller aktuell, als dessen Urheber ahnen konnten. Im Juni gewann die Solidarność die ersten freien Wahlen in Polen, die Kommunisten überließen der Opposition nur zu gerne das Wirtschafts- und das Finanzministerium, damit sie für die wirtschaftliche Misere verantwortlich gemacht würde, was sich dann bei den Parlamentswahlen von 1993 tatsächlich einstellte. Der erste postkommunistischen Finanzminister Leszek Balcerowicz entwickelte im Sommer und Herbst des Jahres 1989 einen Reformplan, der bald nach ihm benannt wurde. An erster Stelle stand die makroökonomische Stabilisierung, denn Polen litt unter einer hohen Inflation, die sich zu einer Hyperinflation auszuweiten begann, untragbaren Auslandsschulden (mehr als 70 Prozent des BIP, die Abzahlung war schon aufgrund des Defizites in der Handelsbilanz unmöglich) und anderen Folgen seiner dysfunktionalen Planwirtschaft.
Da die polnische Version der Perestroika (die Wilczek-Reformen) gescheitert war, hatte sich bereits Ende 1988 die Stimmung unter prominenten Experten in Richtung radikale Reformen verschoben. Die Wochenzeitung Polityka berichtete 1988 über den zunehmenden Einfluss der „östlichen Thatcheristen“.
Ähnlich wie der Washington Consensus strebte der Balcerowicz-Plan eine breit angelegte Privatisierung und eine möglichst rasche Liberalisierung des Binnenmarkts und seine Öffnung zum Weltmarkt an. Obwohl klar war, dass die Reformen zu massiven sozialen Einschnitten und Entlassungen führen würden sowie mit einem Lohnbegrenzungsgesetz flankiert waren, stimmten ein Großteil des linken Flügels der „Solidarność“ und Anhänger der katholischen Soziallehre zu. Daher kann man von einem Warsaw Consensus sprechen, der wie sein Vorbild in zehn Punkte gegliedert bzw. als Dekalog formuliert war.
Über die Auswirkungen der Reformen lässt sich streiten, die Inflation konnte tatsächlich unter Kontrolle gebracht werden. Doch das BIP ging 1990 und 1991 um insgesamt 18 Prozent zurück, die Industrieproduktion sank um fast ein Drittel, die Lohnbegrenzungen dämpften die Nachfrage nachhaltig. Außerdem entstand ein Heer an Arbeitslosen, 1992 waren 2,3 Millionen Polen bzw. 13,5 Prozent der Erwerbstätigen ohne Beschäftigung. Kritiker wie der spätere postkommunistische Finanzminister Grzegorz Kołodko sprachen daher von einem „Schock ohne Therapie“. Manche internationale Experten hätten sich sogar einen noch radikaleren Kurs gewünscht, Balcerowicz hingegen machte gewisse Zugeständnisse, zum Beispiel verlangsamte er die Privatisierung von Großbetrieben und verhielt sich somit alles in allem pragmatisch.
Da ab 1992 das Wirtschaftswachstum wieder ansprang und sich Polen als erstes Ostblockland von der tiefen Rezession von 1989-91 erholte, wurde die Schocktherapie (die Balcerowicz zunächst nicht als solche benannte, wahrscheinlich geht der Begriff auf einen langen Artikel über Polen im Publikumsmagazin The New Yorker zurück) international als Erfolg rezipiert. Auf politischer Ebene war sie das nicht, die aus der Solidarność hervorgegangenen Parteien verloren die Wahlen von 1993 gegen die Postkommunisten. Allerdings nahmen diese anders als versprochen die Reformen nicht zurück, sondern milderten diese nur ab. Nun zählten der deutsche Finanzminister von 1989, Theo Waigel und der Architekt der Einheitsverträge, Wolfgang Schäuble, nicht zu den Anhängern der neoliberalen Chicago School of Economics oder einer „Schocktherapie“, sondern waren Ordoliberale.
Doch abgesehen von der sozialen Abfederung, einer stärkeren staatlichen Regulierung und dem System der kollektiven Tarifverträge deckten sich die Reformkonzepte weitgehend. In der Tschechoslowakei hatte die Chicago School direkten Einfluss, so reiste der Nobelpreisträger Milton Friedman 1990 durch Ostmitteleuropa und fand insbesondere im damaligen Finanzminister Václav Klaus einen begeisterten Anhänger. Dessen Modell der Kupon-Privatisierung wurde wiederum in Russland aufgenommen, funktionierte dort jedoch nicht und führte zum Aufkommen der Oligarchen, die bis heute die russische Wirtschaft dominieren.
Die deutsche Schocktherapie
Radikale Wirtschaftsreformen lassen sich am leichtesten durchsetzen, wenn die jeweiligen Volkswirtschaften vor dem Zusammenbruch stehen. Das war im letzten Jahr der DDR zweifelsohne der Fall. Der Wechselkurs der Mark der DDR (Mark) zur D-Mark sank im Herbst 1989 auf 7:1 und im Winter zeitweise noch tiefer, dadurch waren die hohen Auslandsschulden Ostdeutschlands nicht mehr bezahlbar.
Die Asymmetrie der Macht zwischen West und Ost war jedem Fernsehzuschauer bewusst, der den riesigen, massigen Helmut Kohl neben dem zierlichen, zerbrechlichen Lothar de Maizière sah, der nach den letzten Volkskammerwahlen vom März 1990 als letzter Ministerpräsident der DDR die Verträge zur Deutschen Einheit aushandeln musste. Die Art der Wiedervereinigung wurde dadurch festgelegt, dass sie nicht mehr nach dem dafür eigentlich vorgesehenen Paragraphen 146 des Grundgesetzes, sondern nach Paragraph 23 als „Beitritt“ der fünf neuen Länder vollzogen wurde. Es handelte sich somit um eine Erweiterung Westdeutschlands und nicht um eine Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten.
Im Verfall der Mark spiegelten sich die wirtschaftlichen Probleme der DDR und die schlechten Erwartungen bezüglich ihrer Zukunft wider. Die Abwertung war jedoch schon seit Langem in Gang gekommen. Während die DDR in den 1980er Jahren offiziell und beim Zwangsumtausch für Westdeutsche auf der Parität der Mark beharrte, halbierte die Außenhandelsbank der DDR den internen Verrechnungskurs zur D-Mark (konvertierbar war die Mark wie die anderen Ostwährungen nicht).
1988 betrug der strikt geheim gehaltene Kurs nur noch 4,40 Mark für eine D-Mark, weil die DDR ihre Waren lediglich zu diesem billigen Umtauschkurs absetzen konnte. Illegale Geldwechsler bezahlten in den Hinterhöfen von Ostberlin oder Leipzig den ungefähr gleichen Kurs, der Schwarzmarkt bildete die ökonomischen Verhältnisse somit besser ab als die offiziellen Wechselkurse. Der Verfall der Ostmark nach der Öffnung der Mauer bedeutete, dass die ohnehin niedrigen Gehälter und Löhne in der DDR weiter entwertet wurden. Ähnlich wie in Polen oder der Tschechoslowakei konnte schon eine kaputte Waschmaschine oder eine größere Autoreparatur die monatliche Haushaltskasse einer Familie aus dem Lot bringen. Auch dieser wirtschaftliche Absturz und die allgemeine Verunsicherung erklären, warum der Ruf „Wir sind ein Volk“ im Herbst und Winter 1989/90 immer lauter wurde.
Im Frühjahr 1990 kursierte bereits ein anderer Slogan: „Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ Der letzte Halbsatz bezog sich auf die drohende Massenauswanderung wegen der wirtschaftlichen Misere der DDR. Im ostdeutschen Wahlkampf von März 1990 bot die CDU einen naheliegenden Ausweg an: eine schnelle Wiedervereinigung und auf dem Weg dorthin die Wirtschafts- und Währungsunion. Die CDU hielt dieses Wahlversprechen, schon am 1. Juli 1990 war die Wohlstandsikone D-Mark auch im Osten das offizielle Zahlungsmittel – was damals in Berlin, Leipzig und anderen Städten mit Freudenfesten gefeiert wurde. Doch wie kam es angesichts der rapiden Abwertung der Ostmark nach dem Mauerfall zum Wechselkurs von 1:1?
Die Bundesbank warnte vor dem ökonomischen Risiko einer zu starken Aufwertung und trat für einen Kurs von 2:1 ein (der dann für Sparguthaben ab 4000 Mark tatsächlich eingeführt wurde). Vertreter der DDR-Staatsbank argumentierten sogar für einen Kurs von 7:1, weil das der wirtschaftlichen Leistungskraft entsprochen und der ostdeutschen Wirtschaft ermöglicht hätte, mit der westdeutschen Industrie zu konkurrieren. Aber letztlich fällte die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl eine politische Entscheidung. Die drohende Massenabwanderung von Ost nach West war das immer wieder bemühte Argument, das die Situation in Deutschland in der Tat von den anderen postkommunistischen Staaten unterschied.
Ein deutscher Sonderweg
Wegen der Fokussierung auf die nationale Einheit und der traditionellen Orientierung der bundesdeutschen Eliten auf den Westen wurde in den internen und öffentlichen Debatten vielfach übersehen, was in der unmittelbaren Nachbarschaft der Bundesrepublik geschah. Die Währung der Tschechoslowakei, neben der DDR der wohlhabendste Ostblockstaat, sank im Winter 1989/90 ebenfalls drastisch. Der Kurs fiel auf den dreifach niedrigeren Schwarzmarktkurs, das waren etwa 15 Kronen für eine D-Mark. Im Unterschied zur Bundesregierung nahm die tschechoslowakische Regierung diese Abwertung hin. Der Finanzminister Václav Klaus wollte ähnlich wie Polen und Ungarn mit einer verbilligten nationalen Währung den Export ankurbeln, die industriellen Großbetriebe retten und die Arbeitslosigkeit niedrig halten. Diese Strategie funktionierte bis zur tschechischen Bankenkrise von 1996 recht gut. Während die Abwertung die Exporte der Tschechoslowakei etwa um den Faktor drei verbilligten (sofern man den offiziellen Wechselkurs als Ausgangspunkt nimmt), bedeutete die Währungsunion für die ostdeutsche Wirtschaft eine vierfache Verteuerung ihrer Ausfuhren gegenüber dem Verrechnungskurs von 1988.
Damit war vorherbestimmt, dass ostdeutsche Produkte – man könnte symbolisch einen PKW der Marke Wartburg herausgreifen – niemals mit einem Škoda oder anderen tschechischen Waren konkurrieren konnten und sich Produktionsverlagerungen in der Industrie meistens über Ostdeutschland hinweg ereignen würden. Die unmittelbare Folge der Aufwertung waren zahlreiche Stornierungen der östlichen Handelspartner, denn DDR-Waren wurden durch die Währungsunion nicht nur deutlich teurer, sondern sie waren obendrein in westlicher Währung zu bezahlen. Der drastische Rückgang der ostdeutschen Exporte nach Osteuropa war also nicht nur eine Folge des Zusammenbruchs des Comecon und der Sowjetunion, sondern hing auch mit hausgemachten Faktoren zusammen.
Auf die Währungsunion folgte ein zweiter Schock für die ostdeutsche Wirtschaft, die rasche Liberalisierung des Außenhandels. Durch den Beitritt zur Bundesrepublik und zugleich zur Europäischen Gemeinschaft (EG) fielen – wie im Washington Consensus prinzipiell vorgesehen – sämtliche Handelsschranken. Diesem Konkurrenzdruck war die ostdeutsche Wirtschaft nicht gewachsen. So gesehen war es für die anderen postkommunistischen Staaten in Ostmitteleuropa ein Vorteil, dass sie der Europäischen Union (EU) erst 2004 beitraten. Aber auch diese Integration in den europäischen Binnenmarkt und den Weltmarkt erfolgte unter weit weniger geschützten Bedingungen als der wirtschaftliche Wiederaufbau Westeuropas und das Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik in den drei Jahrzehnten nach 1945.
Eine dritte Besonderheit der Transformation im postkommunistischen Deutschland war die radikale Privatisierung, bei der ein grundlegender Marktmechanismus außer Acht gelassen wurde. Zeitweilig unterstanden der Treuhand als Privatisierungsbehörde 12.534 Unternehmen mit mehr als vier Millionen Beschäftigten. Allein bis Ende 1992, also in einem Zeitraum von nur zwei Jahren, wurden mehr als 10.000 Betriebe verkauft. Wenn derart viele Unternehmen auf den Markt geworfen werden, muss deren Preis drastisch sinken.
So kam es statt des erwarteten (und überschätzten) Gewinns von rund 600 Milliarden D-Mark zu einem Treuhand-Verlust von 270 Milliarden D-Mark. Pro (ehemaligen) DDR-Bürger waren das mehr als 15.000 D-Mark. Ende 1994 verkündete die Bundesregierung mit Stolz die Auflösung der Treuhand, weil die Privatisierung nunmehr abgeschlossen sei. Doch bei den meisten privatisierten Unternehmen wurde die Produktion einfach eingestellt.
Wie Marcus Böick in seinem Buch über die Treuhand errechnet hat, blieb in den von der Treuhand verkauften Betrieben nur jeder vierte Arbeitsplatz erhalten. Diesen Strukturbruch haben vor allem Städte mittlerer Größe, deren Wohlstand von wenigen großen Fabriken abhing, bis heute nicht verkraftet. Polen und Tschechien gingen bei der Privatisierung der großen Staatsbetriebe behutsamer vor, verkauften jedoch z.B. Wohnungen zu günstigen Konditionen an ihre Mieter. Das half den Menschen in der Transformation dabei, die Fixkosten gering zu halten, um Phasen der Arbeitslosigkeit durchzustehen und ein kleines Vermögen aufzubauen. Diese Art von Massenprivatisierung unterblieb in Ostdeutschland, die Vermögen der Bevölkerung sind dort bis heute weit geringer als im Westen.
Diese kritischen Anmerkungen zur deutschen Schocktherapie – die im Unterschied zu Polen nie als solche benannt wurde – legen die Frage nahe, ob es Alternativen dazu gegeben hätte. In den frühen neunziger Jahren wurde das selbstverständlich ausgeschlossen, damals wurden die Reformen als „alternativlos“ bezeichnet. Ein realistischer Umrechnungskurs bei der Währungsunion hätte zahlreiche ostdeutsche Wähler enttäuscht und ein noch größeres Gefälle bei den Löhnen, Gehältern und Renten erzeugt. Wären deshalb tatsächlich noch mehr Menschen aus Ost- nach Westdeutschland abgewandert, wie befürchtet? Diese Frage lässt sich ex post nicht mehr beantworten, doch auch so, trotz der sozialen Abfederung der Reformen und die Transferzahlungen von West nach Ost zogen in nur vier Jahren 1,4 Millionen Menschen aus den östlichen in die westlichen Bundesländer. Insofern wurde das weiter gesteckte Ziel der Währungsunion, die Menschen in Ostdeutschland zu halten, nicht erreicht.
Bei der Privatisierung gab es, wenn man über die Bundesrepublik hinausblickt, Alternativen. So führten zum Beispiel Polen, Tschechien und vor allem die Slowakei große Unternehmen von strategischer Bedeutung unter staatlicher Regie weiter, versuchten sie mit billigen Krediten über Wasser zu halten und verkauften sie erst Mitte oder Ende der neunziger Jahre. Diese Strategie funktionierte nicht immer, wie die erwähnte tschechische Bankenkrise belegt. Die Banken vergaben zu hohe Kredite an defizitäre Industrieunternehmen, die Gründe dafür waren politische Einflussnahme, korrupte Netzwerke und mangelnde Erfahrung. Das ging einige Jahre gut, doch ab 1996 gerieten die Banken wegen mangelnder Rückzahlungen selbst in eine massive Schieflage. Außerdem gingen manche später privatisierte Unternehmen dann doch pleite, so etwa die drei großen Werften Polens in Stettin, Gdynia und Danzig (wo sich die politische Protektion auf die Unternehmensführung nachweislich negativ auswirkte). Doch kein anderes ehemaliges Ostblockland erlitt einen derartigen industriellen Substanzverlust wie Ostdeutschland.
Am ehesten „alternativlos“ war die Liberalisierung des Außenhandels bzw. der Öffnung des ostdeutschen Marktes. Eine Verzögerung hätte sich wohl nur im Rahmen eines eigenen Zollgebiets, anderer Einfuhrbeschränkungen oder einer Sonderwirtschaftszone machen lassen. So verfuhr die Volksrepublik China in mehreren Regionen, in der EU wäre dies jedoch schwer durchsetzbar gewesen. Außerdem hätte eine Sonderwirtschaftszone in Ostdeutschland oder in Teilen davon eine härtere ökonomische Konkurrenz für die alten Bundesländer mit sich gebracht – daran hatten die dort ansässigen Politiker und Unternehmen ebenfalls kein Interesse. Unter der harten Konkurrenz aus dem Westen litten nicht zuletzt jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die den Sprung in die Selbstständigkeit wagten. Sie schnitten im Vergleich zu anderen Berufsgruppen und zu den neuen Unternehmern in Polen und Tschechien schlecht ab. Die Selbstständigen erlebten relativ häufig einen sozialen Abstieg und im ungünstigsten Fall den Bankrott ihrer Betriebe.
Die ostdeutsche Berufsgruppe, die am wenigsten Einbußen hinnehmen musste, waren die Staatsdiener – sofern sie nicht wegen einer Stasi- oder SED-Vergangenheit ihren Posten verloren. Aufgrund der Währungsunion und der Ausweitung des Tarifsystems auf die fünf neuen Bundesländer erlebten die ostdeutschen Beamten einen spürbaren Gehaltszuwachs. Das galt erst recht für die Westdeutschen, die mit „Buschzulagen“ in den Osten geschickt wurden oder dort Positionen erlangten, die sie zu Hause vielleicht nicht bekommen hätten.
Von diesen Verwaltungseliten abgesehen hatte die Bundesregierung offenbar wenig Visionen, welche gesellschaftlichen Schichten und Gruppen Ostdeutschland voranbringen sollten. Die „Buschzulage“ war nur einer von vielen umgangssprachlichen Begriffen, die eine klare gesellschaftliche Asymmetrie der Macht belegen, die wiederum dazu beitrug, dass sich das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen nicht so entwickelte wie erwünscht, sondern in Richtung einer vorurteilsbeladenen Gegenüberstellung von Ossis und Wessis.
Verstärkte Asymmetrie
Die sozialstaatliche Abfederung der Wirtschaftsreformen verstärkte diese Asymmetrie noch, denn sie machte die Ostdeutschen zu Empfängern von Leistungen, dagegen die Westdeutschen, so zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, zu Zahlern. Dass angeblich nur Westdeutsche den Solidarzuschlag entrichteten, den die Regierung Kohl für die Kosten der Wiedervereinigung einführte, war eine weit verbreitete Fehlwahrnehmung. Tatsächlich zahlten auch ostdeutsche Arbeitnehmer den „Soli“ und waren damit quasi mit sich selbst solidarisch.
Die hohen West-Ost-Transferzahlungen und die relativ großzügigen Sozialleistungen zeigen zugleich, dass bei den Reformen in Ostdeutschland nicht alles nach dem Lehrbuch des Washington Consensus lief. Auch die Re-Regulierung der ostdeutschen Wirtschaft durch den Transfer der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialordnung stand nicht im Einklang mit einer neoliberalen Politik, sondern in einer ordoliberalen Tradition. Dies hatte gewisse Vorteile, darunter den rechtsstaatlich geordneten Verlauf der Privatisierung. Es gab zwar ein paar Korruptionsfälle, aber längst nicht in dem Ausmaß wie in der Tschechoslowakei, Polen oder erst den postsowjetischen Staaten, wo die massive Korruption die Legitimität der neuen Ordnung stark beschädigte. Trotz dieser Unterschiede bei den Reformen überwogen insgesamt die Gemeinsamkeiten zum Neoliberalismus, insbesondere bei der Liberalisierung und Privatisierung, die nirgendwo im postsozialistischen Europa so schnell und radikal verlief wie in Deutschland.
Der Preis für diese Mischung aus nationaler Selbstbezogenheit, fehlenden gesellschaftlichen Visionen und neoliberaler Politik war ein präzedenzloser wirtschaftlicher Einbruch. Die ostdeutsche Industrieproduktion sank bis Mitte der neunziger Jahre auf 27 Prozent des Niveaus von 1988. Kein anderes postkommunistisches Land in Europa erlebte einen derart drastischen Rückgang. Infolgedessen verließen, wie erwähnt, bis 1994 1,4 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat. Diese Zahl entsprach ziemlich genau den in der Tschechoslowakei neu gegründeten Unternehmen – die ČSSR hatte fast so viele Einwohner wie die DDR, insofern ist sie auch in dieser Hinsicht recht gut vergleichbar. In Polen und Ungarn wagten ebenfalls sehr viele Menschen den Sprung in die Selbstständigkeit, dort hatte diese Entwicklung schon in den achtziger Jahren mit den Polonia-Unternehmen und im Fremdenverkehr begonnen. Insgesamt wagten in den Visegrád-Staaten in den ersten fünf Jahren nach 1989 etwa vier Millionen Menschen den Sprung in die Selbstständigkeit und gründeten Unternehmen. Diese Gründerzeit fiel in der DDR wesentlich schwächer aus.
Der Absturz der ostdeutschen Wirtschaft überforderte den Bundeshaushalt und vor allem die Sozialversicherungen, die für die Millionen Arbeitslosen direkt oder indirekt einstehen mussten. So wurden die Kosten für die Frühverrentungen der Rentenkasse aufgebürdet, die Krankenkassen leisteten ebenfalls hohe Transferzahlungen. Doch die Pazifizierung der ostdeutschen Transformationsverlierer durch Sozialleistungen war auf die Dauer nicht finanzierbar. Die Sozialbeiträge, die Steuern und Staatsschulden stiegen in den neunziger Jahren immer weiter, was schließlich zu Lasten des Wachstums in der gesamten Bundesrepublik ging. Das vereinigte Deutschland hatte sich in eine Sackgasse manövriert, Bundeskanzler Kohl musste sich einen „Reformstau“ vorwerfen lassen, der spätere „Reformkanzler“ Gerhard Schröder gewann die Wahlen von 1998.
Nachgeholte Reformen und Kotransformation
Die rot-grüne Regierung vollzog dann manche Maßnahmen nach, die in Ostmitteleuropa bereits früher durchgesetzt wurden. Dazu gehörte die Teilprivatisierung der Altersvorsorge und die Liberalisierung des Arbeitsmarkts. Einige Zeit gab es in der Bundesrepublik eine lebhafte Diskussion über eine Flat-Tax bei Lohn- und Einkommenssteuer und ein anderweitig stark vereinfachtes Steuersystem. Dafür stand der berühmte Bierdeckel des damaligen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, auf dem dessen Ruf als Finanzexperte beruht.
Eine Flat-Tax wurde nach der Jahrtausendwende tatsächlich in allen postkommunistischen Staaten eingeführt, in Deutschland allerdings nicht, weil der äußerst knappe Sieg der Union und der Eintritt der SPD in eine Große Koalition eine andere politische Dynamik erzeugten. Zahlreiche andere Länder nahmen die Flat-Tax dann nach der Krise von 2009 wieder zurück. Außerdem wurde in Deutschland 2003 statt der einkommensabhängigen Krankenversicherung eine einheitliche Gesundheitsabgabe diskutiert und nicht zuletzt von der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel unterstützt.
Mit Blick auf das postkommunistische Europa kann man das als Kotransformation verstehen. Deutschland passte sich in den Reformdiskursen und tatsächlichen Reformbeschlüssen ein Stück weit an seine östlichen Nachbarn an, und die alte Bundesrepublik an die neuen Bundesländer, wobei auch das Vorbild der britischen Sozialreformen unter Tony Blairs »New Labour« eine wichtige Rolle spielten.
Ein Novum der rot-grünen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen war, dass sie Westdeutsche genauso hart trafen wie Ostdeutsche, wenngleich letztere wegen der hohen Dauerarbeitslosigkeit mehr unter den Einschnitten litten. Außerdem kam es zu einer „inneren Abwertung“ durch geringe, unter der Inflation liegende Lohnsteigerungen. Dies war jedoch weniger ein Resultat der Reformen als vielmehr der Verhandlungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ (das von 1998-2002 existierte). Bereits zuvor kam es auf betrieblicher Ebene immer wieder zu Kompromissen nach der Maxime „Arbeitsplatzerhalt gegen Lohnzurückhaltung“, mit denen das damals viel geschmähte korporatistische Deutschland seinen Beitrag dazu leistete, dass die deutsche Industrie später wieder konkurrenzfähiger wurde.
Die Hartz-Reformen verursachten eine deutlich höhere soziale Ungleichheit, die in Deutschland von 1999 bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 von einem ursprünglich fast skandinavischen Niveau auf das von anderen postkommunistischen Ländern wie Ungarn anstieg und sich Polen annäherte. Gemäß dem Gini-Koeffizienten, dem international gebräuchlichen Messwert für die Ungleichheit von Einkommen, stieg diese von 1999 bis zur Krise im Jahr 2009 von 0,25 auf etwa 0,29. Man kann diese Entwicklung nicht auf einen einzelnen Faktor wie Hartz-IV zurückführen, doch dass die Sozial- und Arbeitsmarktreformen die Angst vor einem sozialen Abstieg erhöhte, ist unbestritten. So war es auch beabsichtigt; die Menschen sollten durch die Androhung von Armut dazu motiviert werden, schlechter bezahlte und weiter entfernt liegende Stellen anzunehmen.
Folgenreiche Angst vor sozialem Abstieg
Diese negative Mobilisierung, die in den ärmeren Ländern Ostmitteleuropas noch eine ganz andere Tragweite hatte, mag zum späteren „deutschen Jobwunder“ beigetragen haben, doch sie führte zugleich zu einer Verunsicherung in breiten Gesellschaftsschichten. Darin liegen die tieferen Ursachen für die hohen Stimmanteile der rechtspopulistischen AfD in Ostdeutschland. Für die Bundesrepublik bedeuteten die Siege der AfD im Osten einen politischen Schock, der wiederum weniger überrascht, wenn man die ehemalige DDR mit Polen, Tschechien oder der Slowakei vergleicht. Da wie dort wählten nicht nur „Transformationsverlierer“ populistische Parteien, sondern auch Wähler aus der Mittelklasse, denen es materiell besser ging als früher, die sich aber an frühere Arbeitslosigkeit und soziale Degradierung erinnerten und Angst hatten – auch unter dem Eindruck der sogenannten Flüchtlingskrise und ihrer Instrumentalisierung durch die Rechtspopulisten – dass sich etwas verändern könne und sie erneut soziale Einschnitte würden hinnehmen müssen. Das Grundproblem liegt wie in der gesamten EU darin, dass die derzeitige Wirtschaftsordnung vor allem jenen Ländern, Regionen und sozialen Gruppen zugutekommt, die bereits gut aufgestellt sind. Dagegen fallen andere Teile Europas und seiner Gesellschaften wirtschaftlich zurück und haben schlechte Zukunftsperspektiven.
Hartz IV bedeutete in mancher Hinsicht eine Umkehrung der Strategie des Jahres 1990. Während die Währungsunion eine rasche Angleichung an den Westen zum Ziel hatte, brachten Hartz IV und vor allem der Billiglohnsektor (der als Idee auf die Chicago School zurückgeht und in den 1980er Jahren in Staaten des sogenannten „Rust Belt“ getestet, dann jedoch wieder verworfen wurde) eine Anpassung der Arbeitskosten an die damals in Polen und der Tschechischen Republik gängigen Löhne mit sich. Man kann daher erneut von einer Kotransformation der gesamten Bundesrepublik sprechen.
Die Hartz-Reformen änderten allerdings wenig an der Misere in den fünf neuen Ländern. Das lag unter anderem daran, dass die Aktivierung für den Arbeitsmarkt – die Arbeitslosen hießen jetzt Arbeitsuchende – in jenen Regionen, in den es wenig oder keine Arbeit gab, nicht viel brachte. Dort blieb dem Staat kaum etwas anderes übrig, als die Arbeitslosen zu alimentieren, verfrüht in Rente zu schicken oder durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) zu beschäftigen. Das war weiterhin kostspielig; insgesamt summierten sich die Nettotransferleistungen in dem Vierteljahrhundert von 1989 bis 2014 auf 1,6 Billionen Euro (netto bedeutet in diesem Fall, dass die Rückflüsse von Ost nach West bzw. Zahlungen in den gesamtdeutschen Staatshaushalt, z. B. durch Steuern ostdeutscher Bürger, berücksichtigt sind). In den Spitzenjahren waren es bis zu hundert Milliarden Euro, die für die Modernisierung der Infrastruktur, die erwähnten Privatisierungen und vor allem Sozialleistungen ausgegeben wurden.
Trotz dieser Geldflüsse erwirtschafteten die neuen Bundesländer im Jahr 2015 pro Kopf nur gut zwei Drittel des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Die Tschechische Republik, die ohne die Unterstützung eines „großen Bruders“ im Westen auskommen musste, hat pro Kopf kaufkraftbereinigt ein fast ebenso so hohes BIP erreicht wie die fünf neuen Länder – ohne die eingangs erwähnten Transferzahlungen.
Die Geschichte Deutschlands nach dem Fall der Mauer ermöglicht also kritische Fragen in verschiedene Richtungen, einerseits gegenüber den neoliberalen Reformrezepten der frühen neunziger Jahre und nach der Jahrtausendwende, andererseits gegenüber der Wirksamkeit staatlicher Ausgabenprogramme. Man sollte außerdem kritisch debattieren, welche langfristigen Folgen die massive gesellschaftliche Verunsicherung durch Massenarbeitslosigkeit, die hohe Abwanderung von Ost nach West und deren Verarbeitung in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit ab 1990 hatten. Das gilt nicht nur für die ehemalige DDR, sondern für alle neuen Mitgliedsstaaten der EU, in denen die Wirtschaftsreformen – egal wie man sie ökonomisch bewertet – einen politischen und gesellschaftlichen Preis hatten. Offensichtlich profitierten zu wenige Menschen von den Reformen.
Eine Folge davon war eine verstärkte Arbeitsmigration von Ost nach West, eine andere kontinuierlich hohe Stimmenanteile von Protestparteien. In den 1990er Jahren profitierte davon vor allem die PDS, später die Linke. In den letzten Jahren zieht vor allem die AfD Proteststimmen an, wobei es wie erwähnt falsch wäre, sie darauf zu reduzieren. Auch in der Programmatik gibt es große Unterschiede, zwar verkaufte sich die PDS als Interessenvertretung der Ostdeutschen, aber sie versuchte nie, „das Volk“ ethno-nationalistisch zu interpretieren und Ausländer und Minderheiten auszugrenzen.
Bei den mit der AfD verbündeten oder ähnlichen Parteien in Ostmitteleuropa ist dies durchwegs der Fall, auch dort konnten sich in der Konkurrenz zwischen Links- und Rechtspopulisten seit der großen Krise von 2008/09 stets die Rechtspopulisten durchsetzen. Die Renaissance des Nationalismus im postkommunistischen Europa und westlichen Ländern, die ebenfalls eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgten, ist jedoch ein eigenes Thema, das über diesen Aufsatz hinausgeht.
Weitere Faktoren
Es wäre zu simpel, sämtliche späteren Probleme oder Erfolge auf neoliberale Reformen oder speziell die Schocktherapie Anfang der 1990er Jahre zurückzuführen. Außerdem schnitten Länder, die damals mit Reformen zögerten, beispielsweise Rumänien oder die Ukraine, keineswegs besser ab. Dennoch ist ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen radikalen Reformen und späterem Wirtschaftswachstum, die Shleifer und Treisman im Sinne von Ursache und Wirkung behaupten, nicht haltbar.
Über den Verlauf der wirtschaftlichen Transformation entschieden auch Faktoren wie das Timing – die Vorreiter bei den Reformen hatten einen großen Startvorteil, ebenso jene Staaten, die bereits in den achtziger Jahren im größerem Ausmaß private Unternehmer zugelassen hatten. Ebenso wichtig war die geographische Nähe zu den westeuropäischen Märkten; die westlich gelegenen postkommunistischen Staaten waren eher das Ziel von Produktionsverlagerungen als weiter entfernte Länder.
Unabhängig davon verfügten alle postkommunistischen Staaten über ein relativ hohes Bildungsniveau (das in der Transformationszeit sträflich vernachlässigt wurde, in Ostdeutschland nicht, das ist langfristig ein Vorteil), gut ausgebildete Fachkräfte und ein niedriges Lohnniveau (wiederum mit Ausnahme Ostdeutschlands). Damit soll nicht gesagt sein, dass eine gute oder schlechte Wirtschaftspolitik keine Rolle spielte, aber die Behauptung, die Schocktherapie sei der Vater aller späteren wirtschaftlichen Erfolge, lässt sich, wie am Beispiel Ostdeutschlands und Polens gezeigt, nicht aufrechterhalten.
Außerdem würde eine reine Erfolgsgeschichte die Probleme beim Aufbau von Demokratien ausblenden. Die globale Finanzkrise von 2009 und die Eurokrise von 2011 stellten die Teloi der Transformation, die reine Lehre der Marktwirtschaft, die liberale Demokratie und die angestrebte Konvergenz mit dem Westen grundsätzlich in Frage. Mit dem „Annus Horribilis“ von 2016 (Mehrheit für den Brexit im britischen EU-Referendum, Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und das Scheitern der reformatorischen Linken im italienischen Verfassungsreferendum) hat ein neues Zeitalter begonnen. Seitdem gibt es „den Westen“ als Wertegemeinschaft nicht mehr wie in der Nachkriegszeit. Insofern ist die teleologisch ausgelegte Transformation, wie sie nach 1989 verstanden wurde, beendet.
Die Stammländer des liberalen Kapitalismus, England und die USA, sind protektionistisch geworden, die parlamentarische Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit sind geschwächt, die europäische Integration ist fast zum Stillstand gekommen, sogar das Wort Reform ist verbreitet in Misskredit geraten. Das alles geschieht in einem guten wirtschaftlichen Kontext, in dem der Wohlstand alles in allem noch zunimmt. Das könnte sich demnächst wieder ändern. Ich habe manchmal große Sorgen, wer politisch davon profitieren könnte, auch im vergleichsweise stabilen Deutschland. Doch in jeder Krise, im jedem Umbruch stecken auch viele Chancen. Das soll man im Rückblick auf das Jahr 1989 und die deutsche Einheit auch nicht vergessen.
Abstract:
The article focuses with a comparative perspective on the economic reforms that were implemented in Germany and East Central Europe during and after the unification in 1990. After the collapse of communism, most politicians and economists considered neoliberal reforms based on deregulation, liberalization and privatization as the only viable model. Although the reforms in East Germany were not labelled as such, they amounted to a "shock therapy", much like in neighboring Poland. The radical privatization and the hasty liberalization, in combination with the currency union of July 1990, resulted in the closure of many factories and mass unemployment. The government tried to compensate the losers of the transformation with welfare payments, but that resulted in a systemic crisis of united Germany, leading eventually to a second round of neoliberal reforms under the center-left coalition government under Chancellor Gerhard Schröder from 2001 to 2005. The widening social gaps and the fear of social dislocation eventually contributed to the rise of right-wing populist parties in Germany, as it did in East Central European countries like Poland.
Zitierweise: Philipp Ther, Der Preis der Einheit: Die deutsche Schocktherapie im ostmitteleuropäischen Vergleich, in: Deutschland Archiv, 02.03.2020, Link: www.bpb.de/305972. Der Text ist als Vorabdruck dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Prof. Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien über die Geschichte der Transformation seit den 1980er Jahren, die Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Vergleichende Nationalismusstudien, Ethnische Säuberungen, Geschichtstheorie, insbesondere Komparatistik und Kulturtransfer. Er ist Wittgenstein-Preisträger der Republik Österreich. Den "Austro-Nobelpreis" erhielt er für sein Projekt "Die Große Transformation. Eine vergleichende Sozialgeschichte globaler Umbrüche", in dem er die Transformation nach dem Ende des Staatssozialismus sowohl aus der Makroperspektive als auch anhand von Fallstudien "von unten" untersucht.
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