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Eine Brücke zwischen Orient und Okzident

Yeşim Tabak

/ 6 Minuten zu lesen

Von wegen Grenze. Das am Meriç gelegene Edirne war noch vor Istanbul die Hauptstadt des Osmanischen Reiches und das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum im Westen. Das vergisst man heute leicht.

Blick auf den Meriç und Edirne (© Inka Schwand)

Verknüpft man den Lauf des Evros, der auf Türkisch Meriç heißt, mit den Grenzen der Regionen, durch die er fließt, wird schnell klar, welche Bedeutung dieser Fluss hat. Im heutigen Bulgarien, aber auch in der Türkei und in Griechenland trafen im Einzugsgebiet des Meriç die Völker aufeinander. Nicht selten kam es dabei zu Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen.

Noch deutlicher wird die historische Bedeutung des Meriç wenn man die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei betrachtet: Das historische Thrakien war schon immer die wichtigste Grenzregion im Spannungsfeld zwischen Ost und West, verankert in der Erinnerung an zwei große Reiche, die in diesem Gebiet aufeinanderfolgend herrschten: das Byzantinische Reich und das Osmanische Reich.

Gründungsort des Osmanischen Reiches

Am Anfang der osmanischen Geschichte des Meriç stand ein Hilfegesuch. Es stammte von dem byzantinischen Herrscher Kantakuzenos. Der hatte im Byzantinischen Bürgerkrieg (1341-1347) das Emirat von Aydın um Truppennachschub gebeten. Kurz darauf führte Umur Bey von Aydın (1309-1348) seine Flotte über Izmir an die Flussmündung des Meriç. Damit betrat im Jahre 1342 erstmals ein türkisches Fürstentum europäisches Gebiet.

Kurz darauf traf der osmanische Prinz Süleyman Paşa (1316-1357) in Edirne ein, das damals noch Hadrianopolis hieß. Auch Süleyman Paşa war ein Verbündeter von Kantakuzenos, der die größte Stadt am Ufer des Meriç gegen die bulgarischen und serbischen Kräfte zu verteidigen versuchte. Die Osmanen wussten um die strategische Lage der Stadt, eroberten sie zwischen 1361 und 1371 (die genaue Jahreszahl ist nicht bekannt) und erklärten sie nach Bursa zu ihrer neuen Hauptstadt.

Dies war nicht nur die Eroberung einer Stadt. Es war der Beginn einer neuen Epoche. Immer weiter zog es die Osmanen in Richtung Westen in die europäischen Gebiete. Und Edirne, vormals Grenzstadt zwischen dem Osmanischen Reich und Europa, entwickelte sich zu einem Zentrum der osmanischen Herrschaft. Edirne war klug gewählt. Hier verlief nicht nur ein wichtiger Handelsweg. Bei Edirne treffen auch der Meriç und seine Nebenflüsse Tunca und Arda zusammen. So fungierte die Stadt seit jeher als ein Knotenpunkt des Handels und des Austausches. Zwar war die Stadt immer wieder den Angriffen feindlicher Mächte ausgesetzt. Doch der Bogen, mit dem sich der Fluss Tunca um die Stadt herumschlängelt, bildete auch einen natürlichen Schutzwall.

Handelsrouten zwischen Ost und West

Die geschichtliche Bedeutung des Flusses Meriç ist auch ein Ergebnis seiner Funktion als Wasserstraße. Umgeben von fruchtbaren Landschaften, waren diese Wege gleichzeitig Umschlagplätze für Handel, sie ermöglichten den Austausch von Informationen, sie dienten Pilgerfahrten und Reisen und waren Korridore für Kriegszüge.

Das Osmanische Reich griff auf seinen Feldzügen nach Anatolien in den Osten und nach Westen nach Rumelien, wie das auf europäischem Boden gelegene Territorium des Reichs genannt wurde, auf drei Hauptrouten zurück – den sağ kol, die rechte Route, den orta kol, die mittlere Route, und den sol kol, die linke Route.

Besaß man die Kontrolle über den orta yol, die mittlere Route in Richtung Balkan, war man Herrscher über die Hauptverbindung zwischen der heutigen Türkei und der Balkan-Halbinsel. Nach Aussagen des Historikers Tayyib Gökbilgin verband die berühmte orta yol im Osmanischen Reich Istanbul, das nach seiner Eroberung 1453 Hauptstadt geworden war, mit Edirne in Rumelien und über die Täler des Meriç und der Morava auch mit zahlreichen anderen Hauptstädten Europas.

Während die Straßen dem natürlichen Verlauf der Täler folgten, wurde der Meriç im Süden von Edirne bis zur Stadt Enez (historisch Ainos) an der Ägäis zu einer weiteren wichtigen Handelsroute. Enez war die wichtigste Hafenstadt im Osten Thrakiens und schöpfte seine Bedeutung und seinen Ruhm aus der günstigen Lage am Meriç. Auch die von der Kolonie Odessos am Schwarzen Meer – in der Antike begründet durch Griechen aus Milet – in den Süden zum Ägäischen Meer verlaufende Handelsstraße führte über das Tal des Meriç – entweder auf den Straßen auf dem Festland oder mit Handelsschiffen auf dem Fluss.

Während der Meriç in der Antike aufgrund seines kürzeren Fahrwegs als Verbindungsweg zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis dem Bosporus vorgezogen wurde, finden sich auch Hinweise darauf, dass diese Route noch im Mittelalter genutzt wurde. So nahm Umur Bey, der bereits erwähnte Emir von Aydın, diesen Weg, um im Jahre 1343 seine Kriegsschiffe erfolgreich über den Meriç nach Dimetoka zu überführen.

Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein fuhren Hunderte von kleinen Transportschiffen auf dem Meriç bis nach Edirne und nutzen den Fluss als Wasserweg: die Getreideernten wurden über Edirne nach Enez über die Meriç-Route und von Enez nach Istanbul über die Meeresstraße transportiert. Der osmanische Beitrag zum Ausbau des Meriç als Wasserstraße ist nicht von der Hand zu weisen. Bayezid I. (1360-1403) etwa verfügte, dass die Dörfer, die sich dem Schiffsbau widmeten, weniger Steuern zahlen mussten.

Edirne, die Stadt der Brücken

Natürlich hatte der Meriç einen großen Einfluss auf die städtebaulichen Maßnahmen in diesem Gebiet. Besonders Edirne wurde unter den Osmanen zu einer Stadt der Brücken. Auch die Brücken, die an anderen Orten über den Fluss führten, wurden zu dominierenden Wahrzeichen der Städte. So ist der Name des bulgarischen Städtchens Svilengrad auf den Namen der Brücke unter den Osmanen, zurückzuführen: Cisr-i Mustafa Paşa. Uzunköprü (Lange Brücke), eine Kreisstadt im Distrikt Edirne, erhielt ihren Namen durch die Steinbrücke über den Meriç. Mit ihren 174 Bögen gilt sie bis heute als längste Steinbrücke der Welt.

Die Selimiye Moschee von Sinan aus dem 16. Jahrhundert gilt als Höhepunkt der osmanischen Architektur (© Inka Schwand)

Als die Osmanen Edirne den Byzantinern entwendeten, hatte Edirne noch die für das byzantinische Reich typische Grundform: eine Stadt, umgeben von Stadtmauern, mit Sichttürmen in allen vier Himmelsrichtungen. Die osmanische Stadt entwickelte sich im Laufe der Zeit von diesem Stadtkern aus. Laut Amy Singer, einer Historikerin und Kennerin der osmanischen und türkischen Geschichte, deuten die architektonischen Überreste vom Anfang des 15. Jahrhunderts auf eine rege Stadtkultur jenseits der Stadtmauer hin. Am Ufer des Flusses entstanden Häuschen und Moscheen, die Stadttore waren belebte Durchgangsorte.

Auch nach der Eroberung Konstantinopels 1453 und der Ernennung Istanbuls zum Hauptsitz des Osmanischen Reiches blieb Edirne und das Tal um den Meriç eine der dynamischsten Regionen des Osmanischen Reiches. Jahr für Jahr verbrachte das Staatsoberhaupt eine bestimmte Zeit in Edirne, und das Palastvolk wurde mitgeführt. Sobald der Sultan, mit oder ohne Harem, außerhalb von Edirne seine Zelte aufschlug, verlagerte sich der Schwerpunkt des Regierungssitzes ebenfalls hierhin. Schon im Frühjahr begannen sich die Truppen dort anzusiedeln, bevor sie im Herbst wieder nach Istanbul aufbrachen. Nach Eroberungszügen wurden in Edirne die Sklavenmärkte mit den Gefangenen abgehalten.

Die multikulturelle Stadt

Die Osmanen hatten kaum Schwierigkeiten, sich die vielfältige und multiethnische Struktur der Stadt Edirne anzueignen. Im 15. und 16. Jahrhundert lebten etwa 25.000 bis 30.000 Menschen in der Stadt. Somit zählte Edirne zu einer der größten Städte des Osmanischen Reiches. In Edirne lebten auch Juden, Griechen und Armenier. Es war Sitz vieler karitativer und Bildungseinrichtungen. In religiöser, sozialer und wissenschaftlicher Hinsicht entstand in Edirne eine osmanische Elite.

Während die Sultane in Bursa in Anatolien begraben wurden, war Edirne der Ort der Prinzen. Hier wurden sie begraben, hier lieferten sie sich ihre Thronkämpfe, hier feierten sie ihre Thronbesteigungen und andere Feste. Auch mit der Hauptstadt Istanbul blieb Edirne das Tor zum Balkan und Teil des osmanischen Machtzentrums im Westen des Reichs.

Im Flussbecken des Meriç befanden sich neben Großstädten wie Edirne auch unzählige kleine Ortschaften. Menzil nannte man die Orte, in denen sich die Truppen während eines Feldzuges zurückziehen und wo sich die Karawanen sicher unterstellen konnten. Zudem logierten hier Pilger, Reisende und Boten, die die Nachrichten aus dem Topkapı-Palast in Istanbul in die Provinzen brachten. Die Region um den Meriç beherbergte viele Völker und Kulturen.

Heutzutage ist Edirne die einzige Stadt in der Türkei, durch die der Meriç fließt, eine ruhige Grenzstadt. Und wieder ist sie, zwischen der Türkei und der Europäischen Union gelegen, ein Ort der Flüchtlingsbewegungen geworden. Dabei vergisst man leicht, dass das Becken des Meriç in der Blütezeit des Osmanischen Reiches ein Ort der verbindenden Kräfte war, eine Brücke zwischen Orient und Okzident.

Fussnoten

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Yeşim Tabak ist Filmkritikerin und Kuratorin und lebt in Istanbul