Einleitung
Die Krimtataren missbilligen mehrheitlich den Anschluss ihrer Heimat an Russland und haben das Krim-Referendum vom 16. März 2014 boykottiert. Ihre politischen Führer wandten sich mit ihrem gewaltlosen Widerstand gegen die Annexion an die internationale Gemeinschaft. Obwohl sich diese Volksgruppe nach ihrer Rückkehr aus der Deportation auch unter ukrainischer Staatshoheit als Bürger zweiter Klasse empfunden hat, gehört für sie die Krim nach wie vor zur Ukraine. Das entspricht der Einschätzung von hundert Staaten, die am 27. März 2014 auf einer Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution zur territorialen Integrität der Ukraine unterstützt haben – bei elf Gegenstimmen und 58 Stimmenthaltungen. In der Resolution werden Staaten und internationale Organisationen aufgefordert, keine Änderung des Status der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol anzuerkennen.
Die patriotische Euphorie, die in Russland das "Heimholen" der Krim begleitete, erweckte den Eindruck, als habe die Schwarzmeerhalbinsel seit eh und je zum "Russkij mir" gehört. Ergänzungen zu Geschichtsschulbüchern in Russland sollen nun über den Einfluss der Krim auf die Bildung des russischen Staates und über ihre Vereinigung mit Russland informieren. In Wirklichkeit gehört diese Region so selbstverständlich zu Russland wie Algerien zu Frankreich gehört hat – nämlich kolonialgeschichtlich. Mit zarischer und sowjetischer Oberhoheit verbinden die Krimtataren tiefe Einschnitte in ihre Geschichte, wobei sich zwei Jahreszahlen hervorheben: 1783 steht für die russische Eroberung des Krim-Khanats, 1944 für die kollektive Deportation der Krimtataren aus ihrer Heimat.
Historischer Hintergrund
Das Krim-Khanat mit seiner Hauptstadt Bachtschyssaraj und mit einer überwiegend turkstämmigen Völkervielfalt, die im Zuge der mongolischen Expansion aus Eurasien seit dem 13. Jahrhundert in diesen Teil Europas gekommen war, entstand im 15. Jahrhundert als eines von mehreren Zerfallsprodukten der Goldenen Horde. Es umfasste neben der Krimhalbinsel südliche Gebiete der heutigen Ukraine sowie Gebiete in der nordkaukasischen Kuban-Region. Schon kurz nach seiner Gründung musste das Khanat 1475 die osmanische Oberherrschaft anerkennen, konnte aber ein gewisses Maß an Eigenständigkeit wahren. Dabei trat die Krim als ein Zentrum des Sklavenhandels im Schwarzmeerraum hervor. Krimtatarische Raubzüge bildeten eine Herausforderung für christliche Nachbarn wie das russische Zarenreich oder Polen-Litauen. Unter Katharina der Großen nahm Russland nach einem Sieg gegen die Türkei Einfluss auf das nun von osmanischer Oberherrschaft befreite Khanat. 1783 erfolgten dann die Annexion und die Umwandlung des Khanats in das Gouvernement Taurien. Die eingeborene Bevölkerung sah sich in der Folgezeit zunehmender Ansiedlung von Russen, Ukrainern und anderen Volksgruppen ausgesetzt, und bald – so bereits in den 1790er Jahren – folgten erste krimtatarische Auswanderungswellen. Nach der russischen Niederlage im Krimkrieg 1856 zogen an die 100.000 Krimtataren mit dem osmanischen Heer ab. Aus russischer Sicht wurden sie zu einer Volksgruppe, die mit dem Feind sympathisiert.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die krimtatarische Bevölkerung auf der Schwarzmeerhalbinsel gegenüber der Zeit vor der russischen Eroberung um zwei Drittel gesunken. 1936 bestand die Bevölkerung der damals zur russischen Unionsrepublik (RSFSR) gehörenden Krim aus Russen (43,5 %), Tataren (23,1 %), Ukrainern (10 %), Juden (7,4 %), Deutschen (5,7 %) und anderen Volksgruppen. Unter dem NS-Besatzungsregime auf der Krim 1942 kollaborierte ein Teil der Krimtataren mit der Wehrmacht, was Stalin als Vorwand für die kollektive Bestrafung dieser Volksgruppe diente. Ein Dekret des Staatskomitees für Verteidigung vom 11. Mai 1944 ordnete die Deportation der krimtatarischen Bevölkerung aus ihrer Heimat nach Zentralasien, Westsibirien und in die Ural- und Altaj-Gebiete an. Laut krimtatarischen Quellen waren davon 238.500 Personen, darunter vor allem Frauen, Kinder und Greise, betroffen. In den ersten anderthalb Jahren kam mehr als ein Drittel der Deportierten ums Leben. Nach der Deportation wurde das krimtatarische Volk von der ethnographischen Karte des sowjetischen Vielvölkerreichs getilgt. Die Bezeichnung "Krimtataren" (in der eigenen Sprache: Qirimtatar) tauchte in sowjetischen Volkszählungen nicht mehr auf. Erst die letzte Volkszählung in sowjetischer Zeit, die von 1989, registrierte diese Volksgruppe wieder – mit 271.715 Angehörigen. Ihre Sprache wurde zu einem "tatarischen Dialekt" herabgestuft. Dabei unterscheidet sich diese Sprache vom Wolga- oder Kazan-Tatarischen und stellt ein eigenes Idiom dar. Auf der zu einem gewöhnlichen Verwaltungsgebiet der RSFSR herabgestuften Krimhalbinsel wurden viele Kulturdenkmäler vernichtet, die an die jahrhundertealte tatarische Präsenz erinnerten.
Dieses "bestrafte Volk" bewahrte seine Sprache und Kultur gegen äußerst repressive Umstände und bildete eine in der Sowjetunion nach Stalin bedeutende Nationalbewegung. Ihr Kern blieb vor allem in Usbekistan erhalten, wo fast 70 Prozent der deportierten Krimtataren lebten. 1967 stellte der Oberste Sowjet der UdSSR in einem Dekret fest, die Krimtataren seien zwar zu Unrecht deportiert worden, hätten sich aber an ihren neuen Wohnorten verwurzelt. An ihrer Rückkehr auf die Krim wurden sie gehindert. Ihr Führer Mustafa Dschemilew verbrachte viele Jahre im Gulag. Erst 1989 konnte eine breitere Rückkehr beginnen. In der Folgezeit kehrten rund 266.000 Krimtataren in ihre historische Heimat zurück. Etwa 100.000 Angehörige dieser Volksgruppe leben noch in Zentralasien, überwiegend in Usbekistan.
Doch auch nach ihrer Rückkehr auf die Krimhalbinsel, die 1954 von Chruschtschow an die ukrainische Unionsrepublik übertragen worden war, beklagte sich die tatarische Minderheit über Diskriminierung. Das Verhältnis der Krim-Regierung zu dieser Volksgruppe war bereits gestört, als die Krim noch unangefochten zur Ukraine gehörte. Der 2011 von Präsident Janukowitsch eingesetzte lokale Regierungschef Anatolij Mogilew trat mit anti-tatarischen Äußerungen und Handlungen hervor und verhinderte 2013 den offiziellen Tag zum Gedenken an die Deportation der Krimtataren, der jährlich am 18. Mai unter Beteiligung hoher Repräsentanten aus Kiew in Simferopol abgehalten wurde. Gleichwohl bekennen sich die Tataren nach der Annexion der Krim durch Russland mit Nachdruck zur Ukraine, in der sie immerhin ein gewisses Maß an Autonomie erlangt haben. Kiew verfolgte keine konsistente Politik gegenüber dieser ethnischen Minderheit. Zu Beginn ihrer staatlichen Unabhängigkeit war die Ukraine darum bemüht, eine per Referendum erzwungene Loslösung der Krim zu verhindern. Als Kompromiss wurde die Schwarzmeerhalbinsel 1992 als Autonome Republik innerhalb des ukrainischen Staates konstituiert. Die krimtatarische Minderheit gründete 1991 ihre eigene Nationalversammlung (Kurultai) und ihren eigenen Rat (Medschlis) als Repräsentations- bzw. Verwaltungsorgan. Ihre Selbstverwaltung steht nun nach dem Anschluss der Krim an Russland unter Beschuss. Kiew hatte es vermieden, Stellung zum Rechtsstatus dieser Organe zu beziehen und reagierte erst nach der Krim-Annexion durch Russland am 20. März 2014 mit einer Resolution "über garantierte Rechte der krimtatarischen Nation innerhalb des ukrainischen Staates", in der Kurultai und Medschlis als ihre Repräsentationsorgane anerkannt wurden.
Status nach der Annexion
Die Krim und die Sonderzone Sewastopol werden nun als neue Föderationssubjekte an Russland angegliedert: die Autonome Republik Krim als 22. Teilrepublik der Russischen Föderation und als ein eigener Föderalbezirk, die Hafenstadt Sewastopol als föderationsunmittelbare Stadt. Nach dem Vorbild nordkaukasischer Teilrepubliken soll das Republikoberhaupt vom lokalen Parlament auf Empfehlung des russischen Präsidenten hin gewählt werden. Die politische Integration der Krim in die Russische Föderation steckt allerdings noch in den Anfängen. Bis Mitte Oktober 2014 war noch keines von fünf Gesetzesprojekten, die der Staatsduma vom Krim-Parlament vorgelegt wurden, zur ersten Lesung vorbereitet.
Nach dem Krim-Referendum vom 16. März befürchteten Vertreter der Krimtataren Konflikte mit der selbsternannten neuen Krim-Regierung unter Führung des russischen Nationalisten Sergej Aksenow und Zusammenstöße mit prorussischen Milizen. Mustafa Dschemilew gab bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates zur Ukraine an, Tausende seiner Landsleute hätten ihre Heimat bereits verlassen. Die politischen und religiösen Führer der Krimtataren ermahnten ihre Landsleute, in ihrer historischen Heimat zu bleiben. Am 29. März 2014 sprach sich der Kurultai auf einer außerordentlichen Sitzung für eine tatarische "national-territoriale Autonomie" aus. Angeblich wurde dies mit dem ukrainischen Parlament, der Rada, abgestimmt, obwohl die ukrainische Verfassung ein solches Arrangement nicht vorsieht. Zudem wäre die Errichtung einer ethnischen Territorialhoheit dadurch erschwert worden, dass tatarische Siedlungen über die gesamte Krimhalbinsel verstreut sind – mit Bevölkerungsanteilen auf Bezirksebene zwischen 0,5 % und 29,2 %. Der Kurultai gelangte zu folgenden Entscheidungen: Er erklärte das Referendum über den Anschluss der Krim an Russland für illegal, kündigte Aktionen zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Krimtataren an und beauftragte den Medschlis, in Beziehung zu internationalen Organisationen wie der UNO, dem Europarat, der OSZE und der Organisation Islamischer Zusammenarbeit zu treten. Gleichzeitig akzeptierte er aber auch das Angebot, für Posten in der prorussischen Krim-Regierung zu kandidieren. Die krimtatarischen Führer betonten, dass sie keine Konfrontation mit den Behörden Russlands suchen.
Umgekehrt signalisierte auch die russische Führung anfangs noch Entgegenkommen. In seiner berühmten Ansprache zur Krim-Annexion erwähnte Präsident Putin am 18. März das Leid, das der tatarischen Volksgruppe durch Deportation und Terror zugefügt worden war, und versprach, sie zu rehabilitieren. Ihre Sprache solle auf der Krim mit dem Russischen und dem Ukrainischen gleichgestellt werden. Schon zuvor hatte er dem Präsidenten Tatarstans versprochen, die Wiederansiedlung der noch in Zentralasien verbliebenen Krimtataren in ihrer Heimat zu fördern.
Die Krimtataren misstrauten den Versprechungen, wurden sie doch bereits mit Gewaltaktionen prorussischer Milizen konfrontiert. Am 18. März 2014, als Präsident Putin sein Angebot an die Krimtataren machte, wurde bei Simferopol ein krimtatarischer Aktivist bestattet, der gegen die russische Krim-Kampagne protestiert hatte. Er war von paramilitärischen Kräften entführt und zwei Wochen später tot aufgefunden worden. In der Folgezeit kamen weitere Entführungen hinzu.
Um die Krimtataren für sich zu gewinnen, griff Russland auf sein Föderationssubjekt Tatarstan zurück. Dessen Präsident Rustam Minnichanow schlug vor, sie in das 1991 in Russland verabschiedete Gesetz über die Rehabilitation unterdrückter Völker einzubeziehen, was mit finanzieller Unterstützung verbunden gewesen wäre. Noch vor dem Referendum über den Anschluss an Russland hatte das Krim-Parlament die Wiederherstellung der Rechte des krimtatarischen Volkes und seine Integration in die Gesellschaft der Krim betont und ein Quoten-Privileg in Erwägung gezogen, wonach ihm 20 Prozent der Sitze im Parlament eingeräumt werden könnten.
Doch von diesen Angeboten ist nichts übrig geblieben. Ein neuer Verfassungsentwurf für die Krim räumte der Volksgruppe keine Sonderstellung ein. Eine ethnische Quote für Parlamentssitze wurde als unvereinbar mit der russischen Gesetzgebung zurückgewiesen.
Wachsender Druck
Am 14. September 2014 fanden im Rahmen der Regionalwahlen in der Russischen Föderation auf der Krim die ersten lokalen Wahlen nach der Annexion statt, nachdem zuvor sämtliche Sitze im Parlament von selbsternannten "Abgeordneten" besetzt worden waren. Die "demokratischen" Wahlen sollten als Legitimation für den neuen Status der Krim in der Russischen Föderation dienen. Für die Krimtataren markierten sie einen weiteren Wendepunkt mit Angriffen auf ihre Repräsentationsorgane und einer Serie von Hausdurchsuchungen. Die Krimtataren blieben der Wahl fern. Ihr Medschlis rief zum Boykott auf. In Bachtschyssaraj verteilten Frauen unter der Parole "Tschibureki statt Wahlen" traditionelle Fleischpasteten an Fußgänger. Die gesamte Krim-Bevölkerung beteiligte sich mit nur knapp 50 Prozent an den Wahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb zwischen Parteien gab. Gleich nach der Parlamentswahl starteten FSB und Polizei ihre Angriffe auf den Medschlis und durchsuchten zwölf Stunden lang seine Räume, ebenso die Redaktion seiner Wochenzeitung Avdet und das Büro des Krim-Wohltätigkeitsfonds. Dem Medschlis wurden 24 Stunden Zeit gegeben, seine Büros in Simferopol zu räumen.
Um die Gemeinde der Krimtataren auf politischer Ebene zu spalten, versuchen die russischen Behörden und die prorussische Führung in Simferopol, den Medschlis durch Alternativorgane zu verdrängen. Da wurde die Gründung einer Gruppe namens Kyyrym birligi (Einigkeit der Krim) angekündigt, die an seine Stelle treten soll. Sie hat angeblich Rückhalt in der Partei Milli Firka (Nationale Partei), die seit langem in Opposition zum Medschlis steht, während der Euromaidan-Proteste im Gegensatz zum Medschlis auf der Seite von Präsident Janukowitsch gestanden hat und sich gegen den Aufruf zum Boykott des Krim-Referendums vom 16. März gestellt hat. Laut Aksenow unterstützen nur noch 15 bis 20 Prozent der Krimtataren ihren Medschlis. Laut Ilmi Umerow – seit mehr als 20 Jahren Mitglied dieses Organs, von 2002 bis 2005 stellvertretender Ministerpräsident der Krim und bis vor kurzem Verwaltungschef von Bachtschyssaraj – sind es immer noch an die 90 Prozent. Überprüfbar ist keine der beiden Aussagen. Unübersehbar ist aber der wachsende Druck, der auf die krimtatarische Minderheit ausgeübt wird. "Es war nicht ideal für uns in der Ukraine, aber in den vergangenen sechs Monaten haben uns die russischen Machthaber unter beispiellosen Druck gesetzt", so Umerow. "Es gibt immer wieder Durchsuchungen wegen angeblichen Extremismus, man will all unsere politischen und religiösen Strukturen kontrollieren und uns einschüchtern."
Seit April 2014 hatten sich bereits Angriffe gegen Mustafa Dschemilew und seinen Amtsnachfolger im Medschlis-Vorsitz Refat Tschubarow gerichtet. Als Dschemilew von einem Besuch in Kiew zurückkehren wollte, wurde ihm am 22. April die Einreise verweigert. Er darf bis 2019 das Territorium der Russischen Föderation und damit auch die Krim nicht mehr betreten. Zwei Wochen später, am 2. und 3. Mai, versammelten sich Tausende Tataren und Ukrainer an der Grenze zwischen der ukrainischen Region Cherson und der Krim, um Dschemilew zu treffen und gegen seine Verbannung von der Krim zu demonstrieren. Diese Demonstration wurde von den russischen und den neuen Krim-Behörden nachfolgend als Manifestation von "Extremismus" gedeutet, womit nun eine Serie von Kontrollmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen begründet wurde. Regierungschef Aksenow beschuldigte die Tataren, interethnische Konflikte zu schüren. Am 5. Juli wurde nun auch Refat Tschubarows Heimkehr auf die Krim verhindert. Er wollte von einer außerordentlichen Medschlis-Sitzung zurückkehren, die auf ukrainischem Territorium stattgefunden hatte, um Mustafa Dschemilew die Teilnahme zu ermöglichen. Die neue oberste Staatsanwältin der Krim, Natalja Poklonskaja, hielt ihm Aktivitäten vor, die unter das russische Gesetz zu Extremismus fallen. Von ihr ging auch die Initiative aus, jegliche Behauptung, die Krim sei unrechtmäßig an Russland angeschlossen worden, unter Strafe zu stellen und als staatsfeindlich zu ahnden.
Die Krimtataren in der "einzigartigen Vielvölkerzivilisation" Russland
Russland blickt in seiner Ukraine-Politik auf das Nachbarland als auf ein "ahistorisches zusammengeflicktes Etwas" (Putin). Das patriotische Getöse im Gefolge der Krim-Annexion sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland – die "einzigartige Vielvölkerzivilisation", wie Präsident Putin das Land in einer Stellungnahme zur "nationalen Frage" nannte – selbst vor mannigfachen Herausforderungen durch ethno-politische, regionale und wirtschaftliche Integrationsprobleme steht. Mit dem "Heimholen" der Krim beschert sich Russland möglicherweise Probleme, die es an anderen Stellen seines "Reichsterritoriums" bislang nicht in den Griff bekommen hat. Das betrifft etwa die Lage im Nordkaukasus, die durch die Ukraine-Krise in ein trügerisch positives Licht gerückt wurde. Während laut Umfrage des Lewada-Zentrums im Januar 2014 nur 18 Prozent der Befragten die Situation in dieser Region als positiv bewerteten, stieg diese Quote im März auf 41 Prozent an. Nur noch 43 Prozent bezeichneten die Situation im Nordkaukasus als "angespannt", im Januar waren es noch 60 Prozent. Lew Gudkow, der Leiter des Meinungsforschungs-Zentrums, kommentierte diesen Meinungswandel dahingehend, dass die auf die Krim und die Ukraine bezogenen Nachrichten Meldungen über Missstände im Nordkaukasus so weit in den Hintergrund gedrängt hätten, dass viele Russen nun glaubten, die Situation dort habe sich stabilisiert. Der Nordkaukasus – vor den Kämpfen in der Ostukraine die am stärksten von Instabilität und bewaffnetem Aufruhr betroffene Zone im gesamten postsowjetischen Raum – wurde auch in finanzieller und militärischer Hinsicht von der Ukraine-Krise in den Hintergrund gedrängt. So wurden russische Elitetruppen aus dem Nordkaukasus an die ukrainische Grenze verlegt. Gleichzeitig werden der Region Finanzmittel entzogen, die Russland für seine Ukraine-Politik benötigt. Der ehemalige russische Finanzminister Aleksej Kudrin schätzt, dass allein die anstehenden Investitionen für die infrastrukturelle Integration der Krim in die Russische Föderation die Gesamtkosten für Wiederaufbaumaßnahmen im Nordkaukasus nach den Tschetschenienkriegen übertreffen könnten.
Auch ohne gewaltsame Konflikte zwischen russischen, ukrainischen und tatarischen Bevölkerungsgruppen auf der Schwarzmeerhalbinsel birgt die Annexion der Krim ethno-politische Herausforderungen. So besteht die Aussicht, dass sich in Russland und in anderen Teilen des postsowjetischen Raums tätige islamistische Netzwerke der krimtatarischen Frage annehmen – unter der Parole des Kampfs gegen die Unterdrückung von Muslimen. Eine islamistische Organisation wie Hizb-ut-Tahrir, die sich seit den 1990er Jahren besonders in Zentralasien für die Wiedererrichtung des Kalifats engagiert hat, hat angeblich bereits viele Anhänger auf der Krim und in der Ukraine gewonnen, wo sie im Unterschied zu Russland nicht offiziell verboten war. Neuerliche Hausdurchsuchungen bei Krimtataren werden oft unter dem Vorwand durchgeführt, gegen Anhänger islamistischer Organisationen vorzugehen. Wie aus verschiedenen islamischen Teilen des postsowjetischen Raums haben sich auch aus der Krim junge Muslime nach Syrien in den Dschihad begeben. Neben diversen al-Shishani (Tschetschenen) hob sich unter den ausländischen Feldkommandeuren dort ein Abdul-Karim Krymsky hervor. Auch wenn sich die Nationalbewegung der Krimtataren in sowjetischer und nachsowjetischer Zeit von radikalem Islamismus und jeglichem Extremismus deutlich distanziert hat – so der Medschlis zuletzt ausdrücklich gegenüber Hizb ut Tahrir – läuft Russland mit seinem Krim-Anschluss womöglich Gefahr, sich eine neue islamistische Front zu eröffnen.
Die russische Propaganda hebt bereits "islamistische Extremisten mit Verbindung zur Krim" in den Rang von Verbündeten der ukrainischen Seite. Die Warnung vor der "islamistischen Gefahr" wird zunehmend als ein Instrument verwendet, um die Kontrolle über die tatarische Minderheit auf der Krimhalbinsel zu verschärfen und ihre Gemeinde nicht nur auf politischer, sondern auch auf konfessioneller Ebene zu spalten. Zu diesen Instrumenten gehört eine Tauridisches Muftiat genannte Zentrale Geistliche Verwaltung der Krim-Muslime, die im August 2014 mit Hilfe des Leiters der Geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands ins Leben gerufen wurde – in Konkurrenz zur bisherigen Geistlichen Verwaltung der Krim-Muslime, der größten islamischen Institution in der Ukraine.
Fazit
Was die Aufmerksamkeit des Auslands für die Ukraine-Krise betrifft, so hat sich der Fokus im Frühjahr 2014 drastisch verlagert: von der Krim auf die umkämpfte Ostukraine, in der gegen Ende Oktober bereits mehr als 4000 Todesopfer registriert wurden. Die Krimtataren beklagen diesen Aufmerksamkeitsentzug. So hat sich im westlichen Ausland kaum eine Stimme des Protests gegen die Maßnahmen erhoben, mit der ihre politischen Führer als "Extremisten" aus ihrer Heimat verbannt wurden. Die Krimtataren sollten nicht ganz am Rande der Ukraine-Krise stehen, in der die widerrechtliche Krim-Annexion durch Russland in der internationalen Politik zwar formell noch angefochten, aber im Grunde bereits als geopolitische Realität verbucht wird. Über die regionale und internationale Ausweitung der Ukraine-Krise sollte die Krim nicht in Vergessenheit geraten.