Ursprünglich fand der 17. Juni 1953 europaweit enorme Beachtung. Er war ein denkwürdiges europäisches Ereignis. Anschließend ist er als „Tag der deutschen Einheit" in der Bundesrepublik national vereinnahmt und zugleich verengt worden. In der DDR wurde der Tag mit einem Tabu belegt und geriet zur „verdrängten Revolution". Mittlerweile ist kein anderer Tag der DDR-Geschichte so umfassend erforscht wie der Volksaufstand des 17. Juni. Aber die rein nationale Ikonisierung ließ ihn aus dem Geschichtsbewusstsein Europas verschwinden. Wie kann der Platz des 17. Juni 1953 in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder zurückgewonnen werden? Lässt sich der Volksaufstand „europäisieren"?
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich um die Mittagszeit des 17. Juni 1953 die Nachricht, dass der Ausnahmezustand über Ost-Berlin verhängt worden war. Seit 13 Uhr herrschte dort Kriegsrecht. Sowjetische T 34-Panzer riegelten den Potsdamer Platz und weitere wichtige Straßenzüge ab. Überall Menschenansammlungen und Massenaufläufe. Demonstranten forderten den Rücktritt der SED-Regierung: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht Volkes Wille", skandierten sie – Spitzbart, das war Walter Ulbricht, Bauch Wilhelm Pieck, Brille Otto Grotewohl, das ungeliebte Führungstrio der DDR. Oft hörte man „Nieder mit den Normen", gelegentlich auch „Russen raus!", häufig „Freiheit für politische Gefangene" und vor allem „Freie Wahlen".
1953 – welch ein Menetekel, vier Jahre nach der Staatsgründung des angeblich „besseren", weil aus der Vergangenheit die richtigen Lehren ziehenden Deutschland, des ersten „Arbeiter- und Bauernstaates" auf deutschem Boden: Berliner Arbeiter stiegen auf das Brandenburger Tor, rissen die dort gehisste rote Fahne herab. Umgekehrt aber auch, welch aufgesetztes Pathos und publicitywirksame Sakralisierung der Ereignisse vom Westen her: Viele Bonner Bundestagsabgeordnete versuchten mit eingesetzten amerikanischen Dakota-Sondermaschinen nach Berlin zu fliegen, um am Tatort des großen, so unerwartet und eruptiv hereingebrochenen Geschehens zu sein. Nicht alle bekamen Plätze in den Flugzeugen. Gerd Bucerius, CDU-Bundestagsabgeordneter, hatte Glück und kam bald darauf triumphierend mit einem Stück eben jenes Fahnentuches nach Bonn zurück, das die Aufständischen vom Tor heruntergerissen hatten. Er präsentierte es seinen neidischen Kollegen wie einen Skalp. Ein britischer Beobachter kommentierte sarkastisch: „Bald werden so viele Fetzen von der heruntergeholten Fahne gezeigt werden wie Holzsplitter vom Kreuze Christi. Wenn man sie alle zusammennähen würde, hätte man einen so großen Laken, dass man das ganze Bundeshaus darin einwickeln könnte." Während Westdeutsche in Berlin Devotionalien sammelten, gab es im Osten der Stadt Tote.
Ungläubig rieben sich ausländische Journalisten am 17. Juni 1953 die Augen: Die obrigkeitshörigen Deutschen, der deutsche Michel mit der Schlafmütze im Aufruhr gegen eine unrechtmäßige Regierung, hier im Land, wo noch nie eine Revolution erfolgreich war, wo sich der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nur auf kleine Gruppen beschränkt hatte? Viele konnten, manche wollten es nicht glauben. Der Chefredakteur von Associated Press, Augenzeuge in Berlin, hielt das Ganze für ein von den kommunistischen Machthabern inszeniertes Schauspiel, dazu bestimmt, den westlichen Zuschauern zu zeigen, dass der Arbeiter in der DDR nicht nur ein Streikrecht besitze, sondern auch der Regierung die Meinung sagen dürfe. Einige beharrten energisch auf ihren alten Vorurteilen und sprachen von einer dem Reichstagsbrand von 1933 vergleichbaren „Provokation".
Doch solcher Unsinn war rasch verflogen, und plötzlich dominierte Respekt. Der 17. Juni habe die durch den Nationalsozialismus beschädigte „nationale Würde" Deutschlands wieder hergestellt, hieß es. Endlich auch hier ein Kampf gegen Willkür und Unmenschlichkeit, den andere Nationen schon lange zuvor geführt hatten. BBC London kommentierte: Mit diesem 17. Juni nehme Deutschland im Denken der anderen Völker wieder einen ehrenwerten Platz ein. „Deutschland ist in den Kreis der westlichen Völkerfamilie heimgekehrt. Deutschland und der Westen sind an diesem Tage zum ersten Mal seit 150 Jahren nicht Gegner gewesen, sondern Verbündete".
Ob in England, der Schweiz, in den Benelux-Ländern oder den Vereinigten Staaten von Amerika: Überall pries man den Ausdruck demokratischer Gesinnung, die in dieser revolutionären Erhebung zum Ausdruck kam. Besonders viele Franzosen zeigten sich mit den Freiheitskämpfern solidarisch, sammelten Geld für die Witwen der Erschossenen und zogen den Hut. Die philosophischen Weihen und die Überhöhung zu einem internationalen, weltumspannenden Akt folgten auf dem Fuß: Der Dichter und Philosoph Albert Camus teilte auf einer Pariser Großkundgebung von Gewerkschaften und Sozialisten mit, er sehe viele Thesen seines bekannten Werkes „Der Mensch in der Revolte" durch die ostdeutschen Ereignisse aus der Theorie in die Praxis der Aktion übersetzt. Als schließlich der schwedische Ministerpräsident Tage Erlander Anfang Juli in Stockholm den Kongress der Sozialistischen Internationalen eröffnete, würdigte er dieses „bessere Deutschland", das sich in den aufständischen Menschen gezeigt habe.
Phantom des Kalten Krieges
Seither hat der 17. Juni einen langen Weg vom Ereignis, das in der DDR verdrängt wurde, zur nationalen Ikone zurückgelegt. Nur wenige Daten der deutschen Geschichte sind mittlerweile so umfassend erforscht, nach der Wiedervereinigung 1990 setzte ein wahrer Boom ein. Alljährlich ist der Aufstand in den Medien präsent, und diese Massenmedialisierung beförderte die Erinnerungskultur auf eine neue Stufe. Von der Peripherie wurde die Erhebung als positives Erbe in das Zentrum der DDR-Geschichte gerückt – und verengte sich damit wieder als „deutscher Schicksalstag". Die Bewegung des 17. Juni 1953 war spontan, weitgehend unorganisiert, führerlos. Ausgehend von den Arbeitern weitete sich die Erhebung zum Volksaufstand. Der Elan war schnell gebrochen, in einigen Städten dauerte der 17. Juni nur wenige Stunden. Für viele Ostdeutsche war die Lehre bitter: Moskau war die Schutzmacht der SED. Bis zum Schluss steckte das „Juni-Syndrom" der Partei- und Staatsführung in den Knochen. Sie wusste: Ihre Herrschaft konnte nicht auf mehrheitliche Unterstützung der Bevölkerung rechnen. Zweifel nisteten sich ein: War auf die Russen auch in Zukunft Verlass? Die paranoide Angst vor einem zweiten Aufstand verschwand niemals wieder aus den Hirnen der SED-Oberen.
Vier Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer schrieb Rudolf Augstein 1965 in Der Spiegel, der Feiertag des 17. Juni, der „Tag der deutschen Einheit" sei die Lebenslüge der Bundesrepublik. Hatte der streitbare Spiegel-Herausgeber etwa Recht? Auf den ersten Blick mag es von heute aus gesehen durchaus so scheinen. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung von 1990 der Feiertag des 17. Juni abgeschafft worden ist? Gehört diese ostwestlich vereinbarte Abschaffung, gehört dieser sang- und klanglose Untergang eines Symbols nicht zu den seltsamsten Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung?
Das Problem war: Im Westen hatte sich seit 37 Jahren jeder sein eigenes Bild des 17. Juni modelliert. Der 17. Juni geriet in die Fänge parteipolitischer Vereinnahmungen, die sich wiederum im Zeitverlauf infolge internationaler Rahmenbedingungen, generationeller Umbrüche und eines Wertewandels grundlegend veränderten. Mit einem gehörigen Schuss Sarkasmus könnte man sagen: Zum Glück für die Bundesrepublik ereignete sich der 17. Juni 1953. Denn seit der Republikgründung 1949 gab es eine breite, ziemlich glücklose Debatte darüber, wie sich das neue Gemeinwesen begreifen sollte. Welches waren seine Symbole, wo lag sein Ort in der Geschichte? Der Nationalsozialismus und die deutsche Teilung waren turmhohe Hindernisse, sich selbst zu begreifen. Nach den Aufständen in der DDR einigte man sich im Bonner Parlament kurz entschlossen auf ein Gesetz, das den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit" erhob – als Symbol der deutschen Einheit in Freiheit.
Im offiziellen Geschichtsbild der DDR firmierte der 17. Juni 1953 unter der Rubrik „imperialistische Machenschaften", als ein von außen inszenierter, konterrevolutionärer „faschistischer Putschversuch" unter Verführung eines kleinen Teils der Arbeiterschaft. Das lernte jedes Schulkind. In vielen Familien wurde der 17. Juni anders erinnert, hoffnungsvoll, subversiv. Die SED belegte ihn jedoch mit einem Tabu. Wie unter einem Brennglas bündelten sich in der jeweiligen Aneignung des 17. Juni der Stand und die Zukunft der deutschen Frage. Zwischen 1953 und 1990 oszillierten die Deutungen im Westen zwischen weit auseinander liegenden Polen: In den 1950er Jahren wurde er vor allem als ein Aufstand für die Wiedervereinigung interpretiert und als „deutscher Reichsfeiertag" begangen – er verpflichte, so hieß es, Deutschland in den Grenzen von 1937 wieder herzustellen. Schnell deutete man ihn als Sturm auf die Bastille kommunistischer Zwangsherrschaft oder als Aufstand gegen den Totalitarismus, indem man ihn mit dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 parallelisierte. Seit dem Bau der Berliner Mauer und besonders in den 1970er Jahren wandelte sich sein Bild hin zu einer gescheiterten oder steckengebliebenen Revolution, so wie die Revolutionen von 1848 oder von 1918 – eine typisch deutsche Revolution eben. Bisweilen wurde der 17. Juni seither gar verkleinert zu einer bloßen Auflehnung gegen soziale Zumutungen.
Europäischer Gründungsmythos
Niemals haben westeuropäische Gesellschaften in derartigem Maße die kollektive Auflehnung, den Massenprotest, so geliebt, wie im frühen Gedenken an den 17. Juni. Denn diese Massen blieben jenseits der eigenen Plätze. Über die Jahrzehnte hinweg hat sich dieser Aufstand als nationaler Gedenktag verengt. Selbst jene, die ihn als Vorläufer des Mauerfalls von 1989 interpretieren, lassen ihn schrumpfen; denn während 1989 die „friedliche Revolution" siegte, war der 17. Juni wahlweise „gescheitert" oder „unvollendet".
Der 17. Juni 1953 ist ein Schlüsselereignis für die deutsche Geschichte, gewiss. Alljährlich hören wir diese Melodie wieder, wenn die Kränze an den Gräbern niedergelegt werden. Ein solches Opfergedenken ehrt eine Gesellschaft, es erstickt jedoch im deutschen Klein-Klein und immergleichen Ritual jeden weiterführenden Gedanken. Der 17. Juni wurde viel zu lange auf den nationalen Rahmen begrenzt interpretiert. Dabei handelte es sich doch um eine revolutionäre Volksbewegung für Werte, die Europa hochschätzt: Menschenwürde und individuelle Grundrechte. Es ging um System sprengenden Eigensinn und um Grenzüberschreitungen in einer Diktatur. Die Akteure und Opfer des 17. Juni können sich retrospektiv und symbolisch mit anderen Aufständischen in europäischen Ländern solidarisieren.
Doch ein solch erweiterter Zugang wird auch durch eine Tendenz innerhalb der Geschichtswissenschaft versperrt. Nicht wenige Historiker vertreten das Argument, es habe sich in den letzten Jahrzehnten ein säkularer Trend vollzogen: ein radikaler Wechsel von einer heroisch verfassten „Stolzkultur" zu einer opferorientierten „Schamkultur". Diese Interpretation mag plausibel erscheinen und doch ist sie zu einfach. Denn die eng geflochtenen Stränge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lassen sich nicht einfach kappen. Menschen leben nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und sind auf die Zukunft hin orientiert. Allein mit „Scham" lässt diese sich nicht gestalten. Im Motiv, das dem 17. Juni wie so vielen anderen europäischen Aufständen zugrunde lag, nämlich: Freiheit und Menschenwürde, verschränken sich in der Gegenwart die Vergangenheit und die Zukunft gleichermaßen. Würde man dies stärker als bislang hervorheben, könnte es gelingen, dass historisches Wissen zu einem lebendigen Wissen wird, indem es in soziales Handeln der Menschen einmündet.
Dass dieses Freiheitsmotiv eines ist, welches West- und Osteuropa miteinander verbindet, zeigt sich auch an einem ganz anderen Beispiel. Das Symbol europäischer Freiheit und Freizügigkeit, das Schengener Abkommen, wurde unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges 1985 verabschiedet, jedoch erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs umgesetzt. Die Idee, die Grenzkontrollen zwischen den Staaten abzubauen, ging wiederum auf die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. „Offene Grenzen" und Abbau der Grenzkontrollen – dies wurde nicht einfach aus dem Westen in den Osten übertragen, vielmehr gingen die Revolutionen, die zum Fall des Eisernen Vorhangs führten, vom Osten aus. So ist die gesamteuropäische Melodie der Freiheit in einer Art von kommunizierenden Röhren zwischen West und Ost entstanden.
Dieses Beispiel zeigt, dass das Streben nach Freiheit auch im weiteren Sinne in ganz Europa, ob im Westen oder im Osten, präsent war. Freiheit meint dabei: die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens, das Recht auf Diversität, das Aufbegehren gegen Unterdrückung, die Herrschaft des Rechts. Damit sind wir wieder beim 17. Juni angelangt. Was wir benötigen, ist eine „Kontextualisierung" des Aufstandes in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Statt ihn ausschließlich in eine nationale Meistererzählung zu integrieren, sollte er in den Kontext eines Freiheit suchenden Europas nach den Traumata der beiden Weltkriege gestellt werden. Der Untergang des alten Europas im Ersten Weltkrieg, anschließend in einigen Ländern eine Selbstbehauptung und ein Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seinen Krieg, sodann Aufstände im Sowjetblock, 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1970, 1976 und seit 1980 in Polen; aber auch die Überwindung rechter Diktaturen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Süden Europas, in Griechenland, Spanien, Portugal, schließlich die Revolutionen im Osten seit 1989. Welch eine Vielfalt an Grenzüberschreitungen innerhalb von Diktaturen, welch ein Panorama von Verzweiflung und Niederlagen, Selbstbefreiung und Siegen. Europa habe, das wird uns in der heutigen Krise gesagt, ein gravierendes Defizit, es besitze keinen Gründungsmythos. So stehe der Untergang einmal wieder bevor. Aber ist es wirklich so? Wir haben doch einen: Überwindung von Diktaturen, Durchbrüche zur Freiheit und Aufbau von Zivilgesellschaften. Oder, um den Ruf der Aufständischen von 1953 zu zitieren: „Wir wollen freie Menschen sein!"