DA: Herr Jahn, was verbinden Sie mit dem Datum des 17. Juni? Wurden die Ereignisse in Ihrer eigenen Familie thematisiert?
Roland Jahn: Der 17. Juni 1953 hat in unserer Familie eine sehr große Rolle gespielt, weil er immer ein Argument meiner Eltern war, doch lieber die Hände von der Politik zu lassen. Sie sagten: Damals am 17. Juni hat man gesehen, dass Protest wenig bringt. Wenn protestiert würde, dann kämen die sowjetischen Panzer. Daher sollte man, so ihr Rat, also lieber ruhig bleiben und nicht aufbegehren.
DA: Dann haben Sie für Ihren eigenen Lebenslauf die Ermahnung Ihrer Eltern nicht ganz angenommen?
Roland Jahn: Doch, doch. Viele, viele Jahre haben die Argumente meiner Eltern zum 17. Juni auch auf mich gewirkt. Es war natürlich der Rat der Eltern, darauf hinzuweisen, was passieren kann, wenn man sich zu deutlich gegen den Staat stellt. Was passieren kann, wenn man seine Freiheitsrechte einfordert - oder gar die Deutsche Einheit. Die Drohgebärde des 17. Juni mit seinem Schrecken, den er für viele Menschen hatte, wurde in die nächste Generation weitergetragen.
Das habe ich nicht nur im Umfeld der Eltern erlebt, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung Anfang der 1980er Jahre, als wir in der Diskussion - unter anderem mit Kirchen-Vertretern - über die Auseinandersetzung mit dem Staat gerungen haben: Welchen Weg werden wir gehen? Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 war noch lebendig. Manche haben damals gesagt: "1953 steckt uns noch in den Knochen". Es sei doch angebrachter, "nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und Wege zu gehen, die auch den Kompromiss mit dem Staat einschließen."
DA: Und dann kamen Sie 1983 bei Ihrer gewaltsamen Ausweisung aus der DDR auf einmal in ein Land, in dem der 17. Juni nationaler Gedenktag war. Sie wurden konfrontiert mit einer Gedenkkultur, in der der zivile Ungehorsam von Bürgern in der DDR zur Gedenk-Maxime erhoben wurde. Wie haben Sie das damals empfunden?
Roland Jahn: Ich war durchaus noch geprägt von der Agitation der DDR-Propaganda, die den 17. Juni als einen faschistischen Putsch dargestellt hat. Und dieser Begriff hat ja sogar auf Leute gewirkt, die meine Idole waren - wie z.B. Wolf Biermann. Ich erinnere mich gut an sein Konzert von 1976 in Köln, wo er die Janusköpfigkeit des 17. Juni benannt hat: "Schon ein Arbeiteraufstand, noch ein faschistischer Putsch". Mit diesen Gedanken bin ich im Westen angekommen.
Ich erinnere mich, wie ich der Einladung der Bundestagsfraktion der Grünen 1983 zu ihrer Veranstaltung zum 17. Juni gefolgt bin. Die Grünen waren für mich unverdächtig, die DDR gutzuheißen. Wenige Monate zuvor waren sie neu in den Deutschen Bundestag eingezogen. Wenn man so will, handelte es sich damals um eine Art Gegenveranstaltung zur Feierstunde des Deutschen Bundestages zum 17. Juni, zum damaligen Tag der Deutschen Einheit.
Eine Fraktionssitzung als Gegenveranstaltung - und ich wurde als DDR-Oppositioneller eingeladen. Unter dem Beifall von Otto Schily, Joschka Fischer und Petra Kelly sprach ich ebenfalls davon, dass der 17. Juni in der DDR noch ein faschistischer Putsch war. Im Nachhinein frage ich mich natürlich: Was war das für eine Veranstaltung bei den Grünen? Ich empfand sie damals als richtig.
Damals waren wir noch nicht so weit zu sagen: Wir verstehen den 17. Juni 1953 in seiner historischen Bedeutung - nämlich als Volksaufstand.
DA: Nun haben Sie diese Transformation aber schon vor dem Mauerfall an sich selbst erlebt - ebenso wie mancher bundesrepublikanische Politiker. Glauben Sie, dass sich mittlerweile ein gesamtdeutsches Erinnern an den 17. Juni 1953 entwickelt hat?
Roland Jahn: Nein, zumindest nicht genug. Wir müssen uns auch im vereinten Deutschland weiter darum bemühen. Vor dem Mauerfall habe ich im Westen, abgesehen von der Grünen-Veranstaltung zum Jahrestag, den 17. Juni zwar als Feiertag wahrgenommen - als Tag der Deutschen Einheit, aber auch als einen Tag, an dem die Leute Urlaub machten, Sommerfrische geschnuppert haben, Ausflüge unternahmen. Ich habe ihn nur punktuell als Gedenktag wahrgenommen - eben als einen Tag, an dem der Aufständischen gedacht wurde, die ihr Leben riskiert und teilweise auch verloren haben. Gerade an die mutigen Akteure von damals gilt es heute, gesamtdeutsch mehr zu erinnern.
DA: Hatte sich in der DDR eine Wahrnehmung des 17. Juni eingestellt, die als Referenz der Protestierenden diente, zum Beispiel im Spätsommer und Herbst des Jahres 1989?
Roland Jahn: Ich kann nicht die einzelnen Akteure der Friedlichen Revolution beurteilen und kenne nicht ihr Denken und Fühlen im Einzelnen. Aber es wurde deutlich, dass das Trauma des 17. Juni nicht mehr wirkte. 1989 gab es eine Generation von jungen Menschen, die die Angst abgelegt hatten, ihre Angst überwunden hatten - oder diese Angst vielleicht nie in sich getragen haben.
Es war eine junge Generation da, die den Protest, den Wunsch nach Freiheit, auf die Straßen getragen hat. Und da habe ich gesehen, dass 1989 wohl in der Tradition des 17. Juni 1953 steht - es vielleicht sogar die Fortsetzung oder - wenn man so will - die Zu-Ende-Führung dieses Volksaufstandes war. Aber ich glaube, dass er in dem Bewusstsein der demonstrierenden Menschen nicht vordergründig eine Rolle gespielt hat. Zumindest ist dies nicht deutlich artikuliert worden.
DA: Und nun hatten die Menschen im Spätsommer 1989 natürlich auch schon die Ereignisse in Polen als Beispiel und konnten auch dadurch eine innere Distanz zum Trauma des 17. Juni aufbauen…
Roland Jahn: Viele Oppositionelle in der DDR haben die polnische Solidarnosc als Hoffnungsträger angesehen, aber keinen Bezug zum 17. Juni gesetzt. Ich persönlich habe den 17. Juni als Oppositioneller nicht gelebt. Die Gedanken der Menschen des 17. Juni hatten wir vielleicht im Hinterkopf: Freiheit und Selbstbestimmung. Diese Gedanken haben wir damals Anfang der 1980er Jahre formuliert, allerdings ohne Bezug auf den 17. Juni.
Jemand wie ich, der im Jahr 1953 geboren wurde und aus dieser Sicht betrachtet eine ganz persönliche Verbindung zu diesem Jahr hat, kann im Nachhinein sagen: Ich hätte mich an den Idealen, die dieser Volksaufstand formuliert hat, orientieren können. Aber ich habe es nicht getan, weil man mir das ausgeredet hat, und ich nicht genug hinterfragt habe.
DA: Diese Feststellung knüpft an eine Debatte in Deutschland an, in der die Frage der Einordnung des 17. Juni 1953 gestellt wird: Haben wir hier einen Aufstand für die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten? Haben wir es mit einem Aufstand gegen kommunistische Unterdrückung zu tun? Oder handelt es sich eher um einen Massenprotest gegen soziale Zumutungen - etwa gegen Normerhöhung und die Versorgungslage? Welche Sicht trifft den 17. Juni 1953 Ihrer Meinung nach am ehesten?
Roland Jahn: Auf den Punkt gebracht war der 17. Juni ein Volksaufstand.
DA: … der dann viele Gesichter haben kann?
Roland Jahn: Der kann viele Gesichter haben, aber entscheidend ist, dass der Begriff die historische Bedeutung benennt.
In dem Sinne halte ich es für wichtig, dass sich im Zuge des 50. Jahrestags des 17. Juni der Begriff des Volksaufstands durchgesetzt hat - und dass einige Historiker gerade auch diese Debatte vorangetrieben haben und nicht stehen geblieben sind bei den Interpretationen vom Arbeiteraufstand.
Die Frage der Deutschen Einheit stand natürlich zur Debatte. 1953 hat diese Frage eine noch viel größere Rolle gespielt als 89: Die DDR war gerade einmal vier Jahre alt. Die Forderung nach Deutscher Einheit war sehr präsent. Die Grenzen waren noch relativ offen, die Verbindung zum Westen war stark. Dagegen war die Friedliche Revolution von 1989 getragen von Menschen, die in die DDR hineingeboren wurden und die das einheitliche Deutschland nicht miterlebt haben.
DA: Inwieweit hat die Forderung nach der Deutschen Einheit 1989 dann eine Rolle gespielt?
Roland Jahn: Freiheit und Selbstbestimmung, demokratische Wahlen - das waren die zentralen Forderungen der Friedlichen Revolution. Der Gedanke an die Deutsche Einheit entwickelte sich erst im Verlauf dieser Revolution. Vorerst ging es um ein selbstbestimmtes Leben in der DDR, es gab aber auch Diskussionen um eine Konföderation. Und es gab sogar Beiträge von SED-Funktionären, die in ihrer Art und Weise durchaus erstaunt haben. Ich erinnere mich an ein Rundfunk-Interview von Otto Reinhold, Mitglied des Zentralkomitees der SED. Er sagte: Wenn die DDR reformiert wird - etwa über die Gewährung demokratischer Rechte, wie sie in der Bundesrepublik vorhanden sind - dann stelle sich schon die Frage nach der Existenzberechtigung der DDR. Warum sollte, so Reinhold, dann die DDR noch existieren als zweiter deutscher Staat, wenn er genauso geprägt ist wie die Bundesrepublik? Am Ende wollte die Mehrheit der DDR-Bürger die Deutsche Einheit.
DA: Erinnern Sie sich noch an den 17. Juni 1990?
Roland Jahn: Nein, ich habe keine Erinnerungen daran. Dies zeigt, dass sich der 17. Juni damals nicht als Tag der Deutschen Einheit durchgesetzt hat. Das Bewusstsein der Deutschen Einheit ist oft fixiert auf den 9. November 1989, weniger auf den 3. Oktober 1990. Hier stellt sich die Frage: Wie gestaltet man Erinnerung?
Ich habe es nie verstanden, dass der 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit erklärt und der 17. Juni als Feiertag abgeschafft wurde. Ich glaube, es ist das falsche Zeichen. Am 3. Oktober trat ein Vertrag in Kraft, aber am 17. Juni ist das Volk aufgestanden und trat für die Deutsche Einheit ein.
DA: Insbesondere viele jüngere Deutsche können mit dem Datum des 17. Juni wenig anfangen, gerade im Vergleich mit dem 3. Oktober oder dem 9. November. Was denken Sie, können jüngere Menschen aus dem Jahrestag des 17. Juni mitnehmen? Immerhin scheiterte der Protest, während sich der vom 9. November doch recht erfolgreich entwickelte.
Roland Jahn: Wir müssen deutlich machen: Die Proteste des 17. Juni 1953 sind zwar mit militärischer Macht niedergeschlagen worden - dennoch sind die Forderungen des 17. Juni am Ende erfolgreich umgesetzt worden. Denn sie münden in der späteren Friedlichen Revolution mit den Maximen Freiheit und Einheit. Die Botschaft an die nächste Generation ist, dass sich der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung auf Dauer nicht unterdrücken lässt.
DA: Der 17. Juni bewegt auch die Geschichte des Sicherheitsapparates der DDR in hohem Maße. Der Historiker Edgar Wolfrum hat in einem Aufsatz von 2005 gesagt, dass sich die SED-Machtelite nie wieder vom 17. Juni 53 erholt hat. Können Sie das aus Ihrer Sicht und nach Ihrem heutigen Kenntnisstand bestätigen? Was bedeutete der 17. Juni für die Strategie und die Planungen des MfS in der Folge?
Roland Jahn: Der 17. Juni 1953 war ein Trauma: Nicht nur für die Menschen, die die Niederschlagung des Aufstandes erlebt haben, sondern auch für die SED-Führung. Sie hatte Angst, dass sich dieser 17. Juni wiederholt und hat fortan alles dafür getan, dass es nicht so kommt.
Eine Erkenntnis für die SED-Führung aus dem 17. Juni war, die Geheimpolizei der Staatssicherheit weiter auszubauen und gezielter ein System zu konstruieren, das den Fluss von Informationen an die SED sicherstellt. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde beauftragt, regelmäßige Berichte an die SED-Führung zu liefern. Das Spitzelsystem wurde ausgebaut, daneben kam es immer wieder zu repressiven Maßnahmen bis hin zu Verhaftungen und Verurteilungen, besonders in der Folge des Mauerbaus 1961.
DA: Eine bedeutende Rolle wird dem Westberliner Rundfunksender RIAS beim Aufstand des 17. Juni 1953 zugewiesen. Der Sender verbreitete Informationen unter den Menschen und trug damit auch zur Motivation bei, sich Protesten anzuschließen. Sie haben nach Ihrer Ausweisung aus der DDR 1983 für die Fernsehsendungen "Kennzeichen D" und "Kontraste" gearbeitet, haben den Kontakt zu DDR-Oppositionellen gehalten, haben sie teilweise mit Material ausgerüstet, um Informationen über Proteste, über Selbstorganisation in der DDR öffentlich zu machen, indem Sie ein wenig wie der RIAS aus Westberlin, aus Westdeutschland, Informationen weitergegeben haben. War dafür implizit oder explizit die Rolle des RIAS ein Vorbild?
Roland Jahn: Ich denke schon, dass gerade der RIAS dabei eine wichtige Rolle gespielt hat, über die Missstände in der DDR zu informieren. Und ich war ja selber Hörer des RIAS - ich konnte den Sender damals in Jena über den Sender Ochsenkopf in Bayern empfangen. Ich war geprägt von diesen Informationen und mir war wichtig, dass das Informationsmonopol der SED gebrochen wird. DDR-Bürger erhielten damit ein kleines Stück Freiheit, nämlich die Informationsfreiheit über westliche Medien. Diese Möglichkeiten vom Westen Berlins aus, in die DDR hineinzusenden, wollte ich nutzen - auch um der Opposition in der DDR eine Stimme zu geben.
DA: Können wir möglicherweise in der Rolle freier Medien einen heutigen Anknüpfungspunkt an den 17. Juni 1953 finden? Gegenwärtig beobachten wir, wie unabhängige Medien - aber auch Neue Soziale Medien und Netzwerke dafür sorgen, Massenproteste zu organisieren gegen das, was als unzumutbare Einschränkung der Freiheit, aber auch der sozialen Gerechtigkeit angesehen wird.
Roland Jahn: Natürlich, denn die Einschränkung der Informationsfreiheit ist eine Machtstütze von Diktaturen. Und wenn die Einschränkung von Informationen nicht mehr funktioniert, wird auch die Unterdrückung der Meinungsfreiheit nicht mehr funktionieren. Wer gut informiert ist, hat mehr das Bedürfnis, sich zu artikulieren, sich mit Gleichgesinnten zu versammeln. Man muss Rahmenbedingungen schaffen, dass Menschen Freiheits- und Informationsrechte wahrnehmen können. Es entwickelt sich eine Eigendynamik - das sehen wir auch in vielen Ländern der Welt: Dort, wo die Möglichkeiten für freie Information gegeben sind, Menschen auf die Straße gehen und sich artikulieren.
DA: Dann ist der 17. Juni doch nicht nur ein deutsches Datum, sondern vielleicht auch ein europäisches Datum?
Roland Jahn: Der 17. Juni war der erste Aufstand gegen den Kommunismus in Osteuropa, insoweit ist er auch ein europäisches Datum. Und ich denke, auch der Weg von 53 bis 89 in der DDR ist von Bedeutung. Es lässt sich durchaus sagen: Der 17. Juni 1953, gerade in der Fortführung im Zuge der Friedlichen Revolution des Herbst 1989, ist ein Signal für die Menschen in anderen Ländern. Es lohnt sich, nicht aufzugeben. Die Friedliche Revolution hat Vorbildcharakter, aber auch die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts. Der Geist dieser Friedlichen Revolution von 1989/90 ist Teil dieser Republik. Dazu gehört es aber auch, an diejenigen zu erinnern, die schon 1953 den Kopf hingehalten haben für die Ideale, die zur Grundlagen unserer Gesellschaft geworden sind: Freiheit und Selbstbestimmung.
Das Interview führte Clemens Maier-Wolthausen im Juni 2013 aus Anlass des 60. Jahrestags des 17. Juni 1953