Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Eine bessere Demokratie durch neue Formen politischer Partizipation? | bpb.de

Eine bessere Demokratie durch neue Formen politischer Partizipation?

Markus Linden

/ 15 Minuten zu lesen

Neue Formen der Partizipation an der Demokratie sind begrüßenswert, doch wird ihr Wert gemeinhin überschätzt. Sinnvoll sind neue Partizipationsformen dann, wenn sie den argumentativen Streit um Alternativen fördern. Der unreflektierte Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten indes führt zu mehr Intransparenz und Ungleichheit.

Demokratiekrise und demokratische Resilienz

Der Tenor der Debatte in westlichen Demokratien ist eindeutig: Der Demokratie geht es schlecht, so lautet das Credo, welches von Wissenschaftlern und Journalisten gleichermaßen postuliert wird. Diese Unzufriedenheit manifestiert sich offensichtlich auch auf Seiten der Bürger. Angeführt werden in diesem Zusammenhang Daten der Politischen Kulturforschung. Demnach hat etwa das Vertrauen in Parteien und Parlamente erheblich abgenommen. Auch die Beteiligung an Wahlen geht zurück. Über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systemalternative, auf den kurzzeitig ein naives "End-of-History-Denken" folgte, dominieren negative Zeitdiagnosen die Diskussion.

Das wohl prominenteste Beispiel hierfür bildet Colin Crouchs Buch "Postdemokratie". Analog zur Fortsetzung erfolgreicher Kinofilme ist mittlerweile ein weiteres Buch des Autors erschienen, dessen deutsche Ausgabe den Untertitel "Postdemokratie II" trägt. Den Begriff "Postdemokratie" gab es schon vorher, aber Crouch hat daraus eine griffige Leitvokabel gemacht. Seine These lautet, dass die demokratischen Institutionen des Westens zwar intakt seien, man aber nicht mehr von wirklichen Demokratien sprechen könne. Crouchs zentrales Kriterium hierfür ist die Abkopplung der Parteien von ihren Milieus. Im Ergebnis führe dies zum Aufstieg neoliberaler gegenüber egalitären Politiken und zur Ausschaltung bürgerschaftlicher Mitbestimmung. Die Sicherung dieses Herrschaftssystems erfolge insbesondere durch mediale Manipulation. Es ist deshalb kein Wunder, dass "Postdemokratie" im Jahr 2003 zuerst auf Italienisch erschien.

Man könnte Crouchs Diagnose natürlich auch mit klassischen Elitentheorien begründen: Folgt man Gaetano Mosca, so sichert die herrschende Klasse ihre Macht durch die Fähigkeit zur Organisation. Dieses Organisationsmonopol, so ließe sich argumentieren, konnte in der "funktionierenden Demokratie" durch die enge Bindung zwischen Parteien und ihren Unterstützergruppen gebrochen werden. Fallen diese Bindungen zwischen Gesellschaft und Parteien weg, entfalten die elitären Verflechtungen zwischen Industrie, Politik und Medien ungehemmt ihre Macht. Die Politik ist dann Dienerin des Kapitals. Crouch spricht von der Herrschaft des globalen Unternehmens.

Soweit diese zugegebenermaßen recht vordergründige Krisendiagnose. Crouchs These von der Abwärtsentwicklung der Demokratie lässt viele positive Aspekte gänzlich außer Acht. Man denke etwa an die Etablierung der Anliegen der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, von Homosexuellen oder von ethnischen Minoritäten. Auch Crouchs Lösungsvorschlag ist recht einfallslos. Er plädiert für stärkeren sozialen Protest. Institutionelle Reformperspektiven nennt er nicht. Gerade hierin besteht aber eine Stärke der Demokratie gegenüber der Diktatur. Demokratien verfügen über eine starke institutionelle Resilienz.

Der Begriff der "demokratischen Resilienz" bezeichnet die Anpassungsfähigkeit demokratischer Institutionen an neue Herausforderungen, darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, neue Verfahren in die bestehende Demokratie zu integrieren. Demokratische Resilienz bedeutet, dass die Demokratie sich ändern und anpassen kann, ohne ihren Status als Demokratie in Frage zu stellen.

Folgt man nun wieder dem allgemeinen Tenor der Debatte, so ist es recht offensichtlich, wie die Demokratie reformiert werden sollte. Idealtypisch lässt sich diese Reformperspektive zum Beispiel in den Schriften des amerikanischen Politikwissenschaftlers Russell J. Dalton nachlesen. Laut Dalton sind die herkömmlichen Institutionen der Demokratie, also Parteien und Parlamente, nicht mehr geeignet, die Ansprüche der Bevölkerung zu erfüllen. Die repräsentative Demokratie müsse demnach um neue Partizipationsformen ergänzt werden. Daltons populäre These lautet, mehr Partizipation mache die Demokratie demokratischer, verbessere die Identifikation der Bürger mit der Demokratie und führe zu einer Berücksichtigung unterdrückter Anliegen. Demokratische Resilienz wäre demnach also eine Frage der Implementation neuer Partizipationsformen. Die entstandene Kluft zwischen Gesellschaft und Politik soll so geschlossen werden.

Zwei Erwägungen bzw. Indizien lassen aber erste Zweifel an der Formel "Mehr Partizipation gleich mehr Demokratie" aufkommen: Zum Ersten ist im Bereich der politischen Theorie eine Renaissance des Repräsentationsprinzips zu verzeichnen. Dafür stehen etwa die Arbeiten von Jane Mansbridge, Nadia Urbinati, Michael Saward oder Bernhard Manin. In ihren Schriften wird die Repräsentation als demokratieförderliches Verfahren beschrieben, das der direkten Demokratie auch normativ überlegen ist. Zum Zweiten ist die Diskussion über das Verhältnis von Partizipation und Repräsentation natürlich ebenso wenig neu wie die These von der Krise der Demokratie. Bereits im Jahr 1975 hatten Samuel P. Huntington, Michel Crozier und Joji Watanuki eine Bestandsaufnahme des Themas geboten. Ihr Buch "Crises of Democracy" kann als Reaktion auf partizipatorische Demokratietheorien der frühen 70er-Jahre und auf die damalige Rezession gelesen werden. Die Situation ist also durchaus vergleichbar mit der heutigen. Crozier, Huntington und Watanuki kommen dabei zu einem ganz anderen Schluss als etwa Dalton. Sie argumentieren, der Demokratie fehle es nicht an Partizipationsmöglichkeiten, sondern an repräsentativer Verantwortlichkeit. Die mangelnde Transparenz des Gegenübers von Regierung und Opposition – und nicht das Fehlen von Beteiligungsmöglichkeiten – schwäche die Demokratie. Letztlich stehe die Forderung nach mehr Partizipation der Regierbarkeit und der Transparenz der Demokratie entgegen. Giovanni Sartori argumentiert ähnlich, wenn er behauptet, die Demokratie müsse verständlich bleiben und dafür stehe nun mal die Wahl zwischen Regierung und Opposition.

Ob neue Partizipationsformen die Demokratie heute stärken oder schwächen, soll im Folgenden anhand von drei unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten überprüft werden. Erörtert werden Schlichtungsverfahren, die direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen und die neuen Möglichkeiten der Onlinedemokratie. Um die These vorwegzunehmen: Diese Verfahren werden häufig überschätzt. Außerdem besteht die Gefahr, dass sie nicht als herrschaftskritisches, sondern als herrschaftsstabilisierendes Element eingesetzt werden. Der Glaube, die Krise der Demokratie allein mit neuen Partizipationsformen überwinden zu können, ist naiv. Das zeigt die folgende Betrachtung der drei Partizipationsformen.

1. Schlichtungsverfahren

Vor allem auf der lokalen Ebene gelten Schlichtungsverfahren mit Bürgerbeteiligung als hervorragendes Instrument zur Verbesserung der demokratischen Qualität von Entscheidungen. Solche Verfahren stehen für die sogenannte "kooperative Demokratie". Dahinter steckt die Idee der Deliberation am Runde Tisch. Die Betroffenen und die politisch Verantwortlichen sollen zusammenkommen, um im Einzelfall Lösungen zu finden, die die Interessen aller Beteiligten berücksichtigen.

Die Befürworter solcher Verfahren beziehen sich gern auf die politische Theorie von Jürgen Habermas. Habermas glaubt, dass der politische Prozess qua Deliberation weitgehend rationalisiert werden könne. Kämen alle relevanten Argumente in einer herrschaftsfreien Debatte gleichermaßen zu Wort, sei eine Verständigung über beste Politikergebnisse möglich, so Jürgen Habermas. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Generierung von "Wahrheit" und von der Durchsetzung "verallgemeinerungsfähiger Interessen".

Diese Zusammenfassung der Grundidee, die Habermas seit den 60er-Jahren in einem beeindruckenden Werk vertritt, ist natürlich stark verkürzt. Trotzdem werden schon hier die Defizite der deliberativ-rationalen Demokratietheorie und daran angelehnter Schlichtungsverfahren deutlich. Eine optimale Problemlösung kann es im Bereich der Politik nicht geben. Im Gegensatz zur Technik zeichnet sich das Politische durch Wert- und Interessendifferenzen aus. Wer glaubt, Politikergebnisse könnten alle Beteiligten gleichermaßen zufriedenstellen, negiert den Pluralismus. Dieser Pluralismus von individuellen Werten, Wertehierarchien und Interessen ist aber ein unhintergehbares demokratisches Axiom. Insofern steht Habermas' Rationalisierungsideal in der Tradition des utopischen Demokratieentwurfs Jean-Jacques Rousseaus. Die pluralistische Demokratie wird demgegenüber immer Mehrheiten und Minderheiten kennen. In der Wirklichkeit sind diese beiden Gruppen dann keineswegs homogen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Robert A. Dahls, dass Mehrheiten sich immer aus vielen Minderheiten zusammensetzen.

Aus dem Gesagten folgt, dass Schlichtungsverfahren zwar zur Moderation und Mäßigung beitragen können, nicht jedoch zu allseits akzeptierten Ergebnissen. In Deutschland wurden Schlichtungsverfahren beispielsweise beim Ausbau des

Demonstration gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens am 1. Dezember 2007 in Wiesbaden (© ddp/AP, Bernd Kammerer)

Frankfurter Flughafens und beim Umbau des Stuttgarter Bahnhofs eingesetzt. Beide Projekte blieben auch danach umstritten.

Nun wäre aber zweifellos schon die argumentative Mäßigung ein brauchbares Ergebnis von Schlichtungen. Man muss die Ziele ja nicht zu hoch veranschlagen. Dem stehen dann aber in der Praxis Probleme entgegen, die mit der institutionellen Ausgestaltung von Schlichtungsprozessen zusammenhängen. In den allermeisten Fällen finden solche Verfahren erst Anwendung, wenn ein Streit bereits entbrannt ist, also zu spät. Meist gibt es keine gesetzlichen Regeln über den Ablauf und die Verbindlichkeit der Schlichtung. Außerdem werden Mediationsverfahren oft von der jeweiligen Exekutive und Verwaltung strukturiert. Die Türen für eine administrative Einflussnahme sind also weit geöffnet.

Besonders problematisch ist die Bestellung eines prominenten Schlichters. Dessen Machtpotential ist mitunter immens. Im Falle des Stuttgarter Bahnhofs wurde der ehemalige Spitzenpolitiker Heiner Geißler zum Schlichter bestellt. Geißler pries das Verfahren als beispielhaft für neue Formen der unmittelbaren Demokratie.

Heiner Geißler vor der Präsentation des sogenannten Stresstests für den geplanten Tiefbahnhof in Stuttgart ("Stuttgart 21"), 29. Juli 2011 (© picture-alliance/dpa)

In Wirklichkeit hatte die Person Geißler einen sehr hohen Einfluss auf das Verfahren. Seinen abschließenden Kompromissvorschlag hatte er zusammen mit einem Schweizer Ingenieurbüro entworfen – und nicht mit den Beteiligten des Schlichtungsverfahrens. Mit "checks and balances" hat das wohl wenig zu tun.

2. Direkte Demokratie

Mit anderen Problemen behaftet ist die direkte Demokratie in Form von Sachplebisziten. In Deutschland wird seit langem die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene gefordert. Man kennt sie hier bislang nur auf kommunaler Ebene und in den einzelnen Bundesländern. In anderen Staaten, insbesondere der Schweiz, hat man hingegen eine lange Erfahrung mit dieser Partizipationsform. Auf den ersten Blick leuchtet es auch durchaus ein, einer Krise der Repräsentation mit der Einführung der direkten Demokratie zu begegnen. Der Bürgerentscheid über Sachfragen bietet sich als offensichtliches Mittel zur Herstellung von bürgerschaftlicher Identifikation und Autonomie geradezu an.

Gegner des umstrittenen Bahnprojekts Stuttgart 21 halten am Samstag (16.10.2010) in Stuttgart auf dem Schlossplatz während einer Demonstration grüne Luftballons mit der Aufschrift "Kein Stuttgart 21" und dem Protestslogan "Oben bleiben" in den Händen. (© picture-alliance/dpa, Daniel Maurer)

Indes zeigt eine differenzierte Betrachtung, dass auch die direkte Demokratie kein Allheilmittel darstellt. So sehen Kritiker in der direkten Demokratie traditionell ein Einfallstor für Demagogie und Populismus. Gewichtiger dürfte aber ein zweiter Kritikpunkt sein: Bei der direkten Demokratie wird über eine geschlossene Frage entschieden. Die Art und der Zeitpunkt der Fragestellung erlangen somit eine wichtige, das Ergebnis determinierende Bedeutung. Gesteigert wird also nicht nur der Einfluss der Bürger, sondern auch der Einfluss der Fragesteller.

Ein dritter Kritikpunkt an der direkten Demokratie ergibt sich aus dem Vergleich zur repräsentativen Demokratie. Die direkte Demokratie kennt keinen Kompromiss. Sie entfaltet deshalb kaum mäßigende Wirkung. Demgegenüber fördert die repräsentative Demokratie ein Wechselspiel von Repräsentanten und Repräsentierten – zumindest, wenn Parteien und Parlamente als Institutionen intakt sind. Die moderierende Wirkung, die ein funktionierendes Wechselspiel von Repräsentanten und Repräsentierten gewährleisten kann, ist mit der direkten Demokratie kaum zu erreichen.

Ein vierter und letzter Kritikpunkt an der direkten Demokratie wird nur selten genannt, ist aber empirisch relativ gut belegt. Minderheiten und sozial Schwache werden durch Sachplebiszite tendenziell benachteiligt. Für die Schweiz hat eine Forschergruppe um Adrian Vatter herausgefunden, dass vor allem schlecht integrierte Minderheiten von Verfahren der direkten Demokratie negativ betroffen sind.

In Zürich wird ein Plakat für die Annahme der Schweizer Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten" geklebt, Oktober 2009 (© Ullsteinbild/Ex-Press; Miriam Kuenzli)

Das jüngste Beispiel bildet das dortige Minarettverbot. Sozial schwache Milieus wiederum neigen dazu, Plebiszite zu meiden, selbst wenn es um für sie wichtige Fragen geht. So konnte im Jahr 2010 eine Schulreform zur besseren Integration schwächerer Schüler in Hamburg mit den Mitteln des Plebiszits gestoppt werden. Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 40 Prozent, und insbesondere Menschen aus ärmeren Quartieren blieben der Wahl fern.

3. Onlinedemokratie

Noch stärkere Hoffnungen als mit der direkten Demokratie und mit lokalen Schlichtungsverfahren sind mit Verfahren der Onlinedemokratie verknüpft. Im Einzelnen sind es fünf Versprechen bzw. Ideale, welche die digitale Demokratie so attraktiv machen: Durch den barrierefreien Zugang erhofft man sich erstens die Umsetzung des Gleichheitsideals in der Demokratie. Damit wäre die Differenz von Herrschenden und Beherrschten zumindest partiell aufgehoben. Das zweite Versprechen besteht in der Verwirklichung des Partizipationsideals. Jeder kann sich demnach von überall und jederzeit beteiligen. Außerdem postulieren die Verfechter der digitalen Demokratie das Informationsideal. Demnach ermöglicht das Internet die Bereitstellung aller relevanten Informationen für alle. Viertens steht die digitale Demokratie für das Responsivitätsideal. Mit den neuen technischen Mitteln soll die kommunikative Ankopplung der Repräsentanten an die Repräsentierten wieder gelingen. Fünftens schließlich vertreten auch Verfechter der digitalen Demokratie das Rationalitätsideal im Anschluss an Jürgen Habermas. Ähnlich wie bei Schlichtungsverfahren erhofft man sich rationale und beste Lösungen, denen alle aufgrund argumentativer Einsicht zustimmen können.

Ist der Versuch der konsensuellen Rationalisierung des politischen Prozesses aus tiefster Überzeugung oben bereits abgelehnt worden, so müssen auch die anderen vier Versprechen der digitalen Demokratie stark relativiert werden. Hier seien nur die wichtigsten Einwände kurz erörtert:

Es ist so, dass die Beteiligungsraten bei Verfahren der digitalen Demokratie sehr gering sind. Die Partizipationsform ist insofern selbstreferentiell, als vor allem "Netzthemen" eine erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit im Internet ausüben. Häufig sind Versuche der digitalen Demokratie jedoch dadurch gekennzeichnet, dass kaum jemand partizipiert.

Laptop eines "Piraten", aufgenommen auf der Berliner Landesmitgliederversammlung der Piratenpartei, 15. September 2012 (© Ullsteinbild/Boness/IPON)

Damit erhalten gut organisierte Lobbygruppen einen zusätzlichen Einflusskanal, vor allem dann, wenn keine Pflicht zur Diskussion mit Klarnamen besteht. Darüber hinaus ist die argumentative Diskussion über Sachfragen im Internet relativ anspruchsvoll. Hier gilt dann die Faustregel, dass die soziale Disparität der Beteiligung mit dem argumentativen Anspruch steigt. Bildungsferne Schichten werden folglich bei der digitalen Demokratie benachteiligt. Zudem steht die Partizipationsform für eine gewisse, anonyme Distanz zum jeweils behandelten Sachverhalt. Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn vertritt die These, dass das heutige Protestverhalten primär symbolischer Natur sei. Es gehe demnach nicht darum, wirklich etwas zu bewirken, sondern eher um das politische Happening. Für eine solche konsequenzlose politische Partizipation, die in erster Linie das Gewissen der Partizipierenden beruhigen soll, können auch Formen der digitalen Demokratie stehen.

Neben den genannten Aspekten ist ein letzter Kritikpunkt relevant, der nur selten diskutiert wird. Zumeist sind Verfahren der digitalen Demokratie an die Exekutive oder die Verwaltung angebunden. Parteien und Parlamente bleiben in der Regel außen vor. Es handelt sich in der Praxis dann um geschickt verpackte Publicity-Veranstaltungen unter dem wohlklingenden Emblem der Bürgerbeteiligung. Die Partizipationsform krankt oft daran, dass keine Diskussion über Alternativen stattfindet, sondern allein exekutive Vorschläge thematisiert werden. Ohne Opposition aber ergibt Demokratie keinen Sinn. Diese Opposition kann sich jedoch nicht allein aus einer stark vordeterminierten digitalen Partizipation ergeben. Opposition ist in ihrer Entstehung auch auf das Handeln oppositioneller Repräsentanten angewiesen. In der politischen Theorie spricht man davon, dass Repräsentanten die repräsentierten Gruppen mit konfigurieren. Repräsentation bringt das Repräsentierte mit hervor. Diesem Aspekt von Demokratie, also dem Wechselspiel von Regierung, Opposition, regierungsunterstützenden und regierungskritischen Bevölkerungsgruppen, kann die digitale Demokratie in der derzeit praktizierten Form nicht gerecht werden.

Fazit

Zusammenfassend ergibt sich also ein recht skeptisches Resümee. Neue Partizipationsformen führen nicht automatisch zu einer besseren Demokratie. Im Gegenteil: Der Einsatz dieser Partizipationsformen kann dazu führen, den Einfluss von Exekutiven, gut organisierten Lobbies und wirtschaftlich starken Bevölkerungsgruppen zu erhöhen.

Auf der theoretischen Ebene lässt sich dieses Urteil mit zwei Klassikern der Demokratietheorie begründen. In seiner "Ökonomischen Theorie der Demokratie" kommt Anthony Downs zu dem Schluss, dass die Demokratie im Normalfall den ärmeren Bevölkerungsschichten diene. Diese sind ja schließlich in der Mehrheit. Der Effekt wird nach Downs jedoch konterkariert, wenn die Politik von den Bürgern als zu komplex wahrgenommen wird, es also eine große Unsicherheit über die Funktionsweise und die Wirkung der eigenen Wahlentscheidung gibt. Später hat Danilo Zolo dieses Argument aufgegriffen. Zolo zufolge sind die heutigen Gesellschaften und Demokratien durch eine enorme Komplexität gekennzeichnet. Eine Demokratie sei so nicht mehr zu erreichen, bestenfalls eine liberale Oligarchie, so Zolo.

Wer dem normativen Ideal der emanzipatorischen Demokratie anhängt, wird sich damit nicht zufrieden geben können. Die Grenzen zwischen liberaler Oligarchie und Fremdbestimmung sind schließlich fließend – man denke nur an die Demokratie der Europäischen Union, an die aktuelle Entwicklung in Ungarn oder an das Italien Silvio Berlusconis. Neue Partizipationsformen sind jedoch kein Königsweg zur besseren Demokratie. Sie stehen allzu oft eher für mehr Komplexität und Intransparenz als für mehr Demokratie. Demnach können diese Partizipationsformen zwar einen positiven Beitrag zur Demokratie leisten. Sie sollten aber an die Grunderfordernisse des Repräsentationsprozesses angepasst werden, anstatt diese zu unterlaufen. Partizipationsformen sind dann sinnvoll, wenn sie die positiven und demokratiefördernden Eigenschaften des Repräsentativsystems stützen.

Repräsentative Demokratie ist zu begreifen als geordnetes, argumentatives Wechselspiel von Regierung und Opposition auf der einen und Repräsentierten auf der anderen Seite. Als zentrale Institution der Demokratie ist das Parlament nicht ersetzbar. Die Hierarchie zwischen der parlamentarisch-parteipolitischen Repräsentation und anderen Beteiligungsformen muss also gegeben sein. Wer einer rein zivilgesellschaftlichen Demokratie anhängt, vergisst, dass diese gesellschaftliche Ungleichheiten auf den Bereich der Politik überträgt.

Die repräsentative Demokratie verlangt insbesondere, dass ein transparentes Gegenüber von Regierung und Opposition erkennbar bleibt. Nur so bleiben politische Alternativen transparent, die die pluralistische Demokratie auszeichnen. Neue Partizipationsformen können diese Transparenz und Wahlfreiheit zwischen Alternativen durchaus stärken. So sollten etwa Verfahren der digitalen Demokratie immer an das Parlament und nicht an die Exekutive angeschlossen werden. Hierzu bedarf es auch keiner neuen Institutionen. Es genügt etwa die Durchführung des Öffentlichkeitsprinzips. Repräsentation ist ohne Öffentlichkeit nicht vorstellbar. Daraus ergibt sich, dass zum Beispiel alle relevanten parlamentarischen Ausschusssitzungen live im Netz übertragen und kommentierbar gemacht werden sollten. Der Vorschlag ist vielleicht radikaler als die derzeit diskutierten Demokratieplacebos, fügt sich aber problemlos in die Funktionslogik des parlamentarischen Systems ein. Der argumentative Streit um Alternativen würde dadurch gestärkt.

Was die direkte Demokratie betrifft, so handelt es sich dabei durchaus um ein wirksames Instrument zur Durchbrechung von Machtkartellen. Verfahren der direkten Demokratie sollten aber primär als Vetoinstrument institutionalisiert werden, mit dem die Bürger eine Entscheidung ans Parlament zurückgeben können. Das bürgerschaftliche Veto könnte in Situationen, in denen die Bürger einen breiten Konsens der Politik nicht akzeptieren, zu einer Erneuerung der Debatte und zum Aufzeigen neuer Alternativen beitragen.

Schließlich gilt Ähnliches für Verfahren der kooperativen Demokratie zwischen Repräsentanten und Bürgern, die hier am Beispiel von Schlichtungsverfahren diskutiert worden sind. Sie brauchen eine klare gesetzliche Grundlage, müssen im Politikprozess recht früh eingesetzt werden und sollten immer an das Parlament als zentrale Institution angebunden sein. Eine exekutive Dominanz bei diesen Verfahren hingegen fördert auf lange Sicht das Gefühl der Fremdbestimmung unter den Bürgern.

Die zentrale Frage in der Demokratie ist wohl, wer die Macht in Händen hält. Aus den vorstehenden Ausführungen ist ersichtlich, dass die Einführung neuer Partizipationsformen nicht unbedingt eine Steigerung der "Bürgermacht" zur Folge hat. Es sind traditionell vor allem realistische Demokratietheoretiker, die auf den Wert repräsentativer Verantwortlichkeit abstellen. Am eindringlichsten machen dies vielleicht Giovanni Sartori und Elmer Eric Schattschneider. Deren Argumente können aber sehr wohl als Basis für eine normativ anspruchsvolle Demokratievorstellung gelesen werden. Schließlich besteht der Hauptunterschied zur Diktatur darin, die Regierung abwählen zu können. Ist dieses Grunderfordernis mangels Alternativen nicht mehr gegeben, kann man nicht mehr von Demokratie sprechen. Insofern stellt die Bereitstellung von Alternativen das Hauptziel politischer Kommunikation und Öffentlichkeit dar. Neue Partizipationsformen tragen dann zu einer besseren Demokratie bei, wenn sie den argumentativen Streit um Alternativen fördern. Der unreflektierte Ausbau neuer Partizipationsformen fördert hingegen Intransparenz und Ungleichheit.

(Der Beitrag basiert auf einem Vortrag d. Vf. auf der Konferenz "Democrazia e Comunicazione" der Partito Democratico am 21.9.2012 in Cortona.)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.

  2. Für einen Überblick über verschiedene aktuelle und hergebrachte Krisendiagnosen vgl. Markus Linden/Winfried Thaa, Krise und Repräsentation, in: Dies. (Hg.), Krise und Reform politischer Repräsentation, Baden-Baden 2011, S. 11–41.

  3. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008 (Orig. 2003).

  4. Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Frankfurt a. M. 2011.

  5. Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, München 1950.

  6. Gern wird der Resilienzbegriff mit dem Faktor "Sicherheit" in Verbindung gebracht. Die hier gewählte Verständnisweise dieses recht neuen sozialwissenschaftlichen Konzepts fokussiert hingegen auf grundsätzliche Prozesse der institutionellen Beharrung, Adaption und Innovation.

  7. Vgl. z.B. Russell J. Dalton, Citizen Politics. Public Opinion and Political Parties in Advanced Industrial Democracies, 5. Aufl., Washington 2008.

  8. Vgl. Bernard Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, Berlin 2007 (Orig. 1997); Jane Mansbridge, Rethinking Representation, in: American Political Science Review, 97 (2003) 4, S. 515–528; Michael Saward, The Representative Claim, Oxford 2010; Nadia Urbinati, Representative Democracy. Principles and Genealogy, Chicago 2006.

  9. Michel Crozier et al., The Crises of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975.

  10. Vgl. Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997 (Orig. 1987), S. 23.

  11. Vgl. Jörg Bogumil u.a., Kooperative Demokratie. Das politische Potential von Bürgerengagement, Frankfurt a. M. 2006.

  12. Vgl. insb. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990 (Orig. 1962); ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, sowie ders., Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1994.

  13. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1986 (Orig. 1762).

  14. Vgl. Robert A. Dahl, Vorstufen zur Demokratie-Theorie, Tübingen 1976 (Orig. 1956), S. 125f.

  15. Vgl. z.B. sein Interview mit dem Magazin "Drehscheibe", Externer Link: www.drehscheibe.org/interview-mit-heiner-geissler.html [1.11.2012].

  16. Vgl. Heiner Geißler/SMA und Partner AG, Frieden in Stuttgart, Eine Kompromiss-Lösung zur Befriedung der Auseinandersetzung um Stuttgart 21, 29.7.2011, Externer Link: www.schlichtung-s21.de/fileadmin/schlichtungs21/Redaktion/pdf/110729/frieden_in_stuttgart.pdf [1.11.2012].

  17. Vgl. Frank Decker, Direkte Demokratie versus parlamentarisches Repräsentativsystem. Was sagen uns die Erfahrungen aus den Ländern, in: Linden/Thaa (Anm. 2), S. 217–237.

  18. Vgl. Adrian Vatter (Hg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Zürich 2011.

  19. Ingolfur Blüdorn, billig will Ich. Post-demokratische Wende und simulative Demokratie, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19 (2006) 4, S. 72–83; ders., Das postdemokratische Doppeldilemma. Politische Repräsentation in der simulativen Demokratie, in: Linden/Thaa (Anm. 2), S. 45–74.

  20. Vgl. z.B. Lisa Disch, Toward a Mobilization Concept of Political Representation, in: American Political Science Review 105 (2011) 1, S. 100–114.

  21. Downs spricht in seiner Terminologie von "Ungewißheit und Kostspieligkeit der Information": Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968 (Orig. 1957), S. 199.

  22. Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft. Für eine realistische Theorie der Politik, Göttingen 1997 (Orig. 1992).

  23. Sartori (Anm. 10); Elmer Eric Schattschneider, The Semi-Sovereign People, New York 1960.

Dr., Politikwissenschaftler am Forschungszentrum Europa an der Universität Trier.