Eine undurchsichtige Affäre
Wenn es um die Skandale der Treuhandanstalt (THA) geht, dann wird an vorderster Stelle die Leuna-Minol Privatisierung genannt. Der Fall inspirierte im Jahr 2008 den langjährigen Moderator der Tagesthemen, Ulrich Wickert, zum Schreiben eines Kriminalromans. Am Schluss lässt Wickert die Leser wissen: „Das Bemerkenswerte an dem größten Korruptionsskandal der deutsch-französischen Geschichte ist die Unauffälligkeit, mit der er zu den Akten gelegt wurde.“
Wie kam es dazu? Nach den Parlamentswahlen in Frankreich im März 1993, die von den Konservativen gewonnen wurden, kam es zu einem Wechsel an der Spitze des Staatskonzerns ELF Aquitaine. Unter der Regierung von Premierminister Édouard Balladur wurde ELF privatisiert. Der neue Konzernchef, Philippe Jaffré, sah sich mit Unterlagen seines Vorgängers, Loïk Le Floch-Prigent, konfrontiert, die auf schwarze Kassen hindeuteten. Seit Ende der 1960er Jahre hatte sich bei ELF eine Kultur der Korruption und Selbstbedienung, vor allem bei Öl- und Waffengeschäften mit afrikanischen Staaten, entwickelt. Als es Ende der 1990er Jahre in Paris zu Prozessen gegen die Beteiligten kam, behaupteten ELF-Manager, dass auch im Zusammenhang mit dem Leuna-Minol-Vertrag Provisionszahlungen in Millionenhöhe an deutsche Lobbyisten und Politiker geflossen seien.
Da ELF 1991 beim Verkauf der modernsten ostdeutschen Raffinerie in Schwedt zu spät gekommen war, hätten Lobbyisten dem ELF-Chef Le Floch-Prigent die Anwendung „afrikanischer Methoden“ empfohlen, um in Leuna zum Zuge zu kommen. Über diese Zahlungen seien der französische Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Bilde gewesen. Ziel des Lobbyings, bei dem der deutsche Geschäftsmann Dieter Holzer eine Schlüsselrolle spielte, sei es gewesen, die Höhe der auf 6 Milliarden D-Mark veranschlagten Investitionen durch den Erhalt von 2 Milliarden D-Mark an Subventionen rentabel zu gestalten. Für die Lobbying-Maßnahmen wurden rund 270 Millionen Francs als Provisionszahlung auf ein Konto der Offshore-Gesellschaft Nobleplac bei einer Schweizer Bank überwiesen. Holzer hat dann die Gelder über eine Reihe von Konten ohne erkennbaren wirtschaftlichen Hintergrund hin und her bewegt. Beweise für „Schmiergeldzahlungen“ an deutsche Politiker fanden jedoch weder die Staatsanwaltschaft noch der Ende 1999 eingesetzte Parteispenden-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages. Auch angeblich kurz vor dem Regierungswechsel im Herbst 1998 verschwundene Leuna-Akten tauchten in mehreren Ministerien wieder auf.
Wer nun gehofft hatte, mit den inzwischen der Forschung zugänglichen Akten der THA sowie den Tagebüchern von Klaus Schucht und André Leysen – sie gehörten dem Vorstand beziehungsweise dem Verwaltungsrat der THA an – mehr Licht in die Affäre bringen zu können, dürfte enttäuscht sein. Die THA-Akten und das Schucht-Tagebuch enthalten zwar eine Fülle von Details über das jahrelange Tauziehen um die Privatisierung des Tankstellennetzes Minol und den Neubau einer Raffinerie in Leuna, aber, kaum verwunderlich, nichts über die „Schmiergeldaffäre“. Während sich die öffentliche Debatte nahezu ausschließlich um dubiose Geldflüsse und die Frage drehte, ob es sich dabei um eine spezielle Form einer Parteispende an die CDU gehandelt habe, blieben die Konflikte um die Privatisierung der zweitgrößten ostdeutschen Raffinerie in Leuna der Öffentlichkeit verborgen. Diese sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
Kanzlerversprechen und der Eier-Wurf von Halle am 10. Mai 1991
Kurz nachdem die erste Euphorie über den Mauerfall verklungen war, beurteilten die Vorstände der westdeutschen Chemieindustrie die Möglichkeiten der Übernahme ostdeutscher Chemiestandorte sehr zurückhaltend. Am besten wäre es, so der Präsident des Verbandes der chemischen Industrie und Vorstandsvorsitzende der Bayer AG, Hermann J. Strenger, über diese Werke ein großes Tuch zu decken: „Vor dem rauen Weltmaßstab hat dort nichts mehr Bestand.“ Lediglich für die Raffinerie in Schwedt, die Polyurethanfabrik in Schwarzheide, das Waschmittelwerk Genthin, das Chemiewerk Nünchritz sowie die Düngemittelwerke in Rostock und Piesteritz gab es Kaufinteressenten. Die größten Werke mit den meisten Beschäftigten, darunter die Stammwerke der ehemaligen Kombinate in Leuna, Schkopau, Bitterfeld und Wolfen waren in Gänze unverkäuflich. Die ökologischen Altlasten in schwer zu beziffernder Höhe, verschlissene Infrastrukturen, veraltete Produktionssortimente und hohe Beschäftigtenzahlen schreckten Investoren ab.
Ein bei der THA Ende November 1990 unter der Leitung von Ernst Schraufstätter – er hatte in den 1980er Jahren die weltweiten Pharmaaktivitäten der Bayer AG gesteuert – gebildetes Chemieteam kam zu einer pessimistischen Lageeinschätzung. Die THA ließ daraufhin von mehreren Consultingfirmen „Überlebenskonzepte“ erarbeiten. Es zeichnete sich dabei frühzeitig ab, dass der komplette Verkauf der Unternehmen der Großchemie nicht möglich sein würde. Die Chemieregion um Halle/Saale drohte zu einem sozialen Notstandsgebiet zu werden, ökologisch war sie es ohnehin längst.
Im Frühjahr 1991 war die Malaise offensichtlich. Die Unternehmen der Großchemie mussten mit Liquiditätskrediten in dreistelliger Millionenhöhe gestützt werden, ohne dass sich Perspektiven abzeichneten. Als erste Massenentlassungen sowie Kurzarbeit angekündigt wurden, reagierten die Belegschaften mit Prosteten, die sich gegen die THA richteten. Die überforderte Behörde wurde als „Jobkiller“ gesehen. Mitte März 1991 bildeten tausende Menschen eine Lichterkette rund um das riesige Gelände des Leuna-Werks. Sie kämpften um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.
Angesichts der Hiobsbotschaften aus dem Beitrittsgebiet herrschte inzwischen in Bonn Krisenstimmung. Die Bundesregierung sah sich zu Kurskorrekturen gezwungen. Die schnelle Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft behielt Priorität, aber zur Sicherung von Arbeitsplätzen sollte nunmehr auch die Sanierung noch nicht privatisierungsfähiger Unternehmen größere Beachtung finden. Eine Tendenz zur Politisierung der Arbeit der THA war unverkennbar. Die im Frühjahr 1991 verabschiedeten Gesetze und Beschlüsse stellten keinen generellen Schwenk in der Privatisierungspolitik dar, liefen aber darauf hinaus, die THA stärker zur Übernahme industriepolitischer Verantwortung zu verpflichten. Den Verfechtern der reinen neoliberalen Lehre war dies gar nicht recht. So plädierte der Sachverständigenrat für die Begutachtung gesamtwirtschaftlicher Fragen, das Gremium der führenden Ökonomen des Landes, dafür, bei der Transformation der ostdeutschen Wirtschaft weiter „Kurs zu halten“ und auf die Marktkräfte zu vertrauen. Der einflussreiche Unternehmensberater Roland Berger kritisierte diese Position. Die weitere Umsetzung der „reinen Lehre vom Markt“ würde aus Ostdeutschland eine Schafweide machen. Auch Birgit Breuel erteilte der von den „Wirtschaftsweisen“ geforderten Fortsetzung des marktradikalen Privatisierungskurses bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt als Präsidentin der THA vor der Kölner Industrie- und Handelskammer am 17. April 1991 eine Absage. Freilich blieb, wie schon bei ihrem Vorgänger Detlev Rohwedder, noch vollkommen offen, wie das Verhältnis von Privatisierung, Sanierung und Stilllegung künftig austariert werden sollte. In der kurzen Amtszeit von Rohwedder war trotz seiner Ankündigungen, der Sanierung einen größeren Stellenwert einzuräumen, nicht ein einziger nennenswerter Sanierungskredit vergeben worden. Trotzdem hält sich bis heute hartnäckig die Legende, Rohwedder hätte erst sanieren und dann verkaufen wollen, wohingegen erst seine Nachfolgerin, einseitig auf schnellstmögliches Verkaufen gesetzt habe. Die „Ramschprivatisierung“ (Hans Werner Sinn) begann jedoch bereits unter Rohwedder.
Die Anfänge einer Strukturpolitik, die später unter dem Slogan „Erhalt von industriellen Kernen“ subsummiert wurde, sind in den Krisenmonaten des Frühjahrs 1991 zu verorten. Der Auftakt dafür sollte im mitteldeutschen Chemiedreieck stattfinden. Am 3. Mai 1991 stellte THA-Direktor Wolf Klinz die Konturen eines Projekts zur Restrukturierung der Großchemie vor. Er brachte die volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten ins Spiel. Damit sollte der Umfang der Stilllegungen begrenzt werden. Allerdings wurde nur für Leuna und Schkopau ein vergleichsweiser hoher Chemieanteil als haltbar angesehen.
Das entscheidende Signal zum Umsteuern sollte aus der Politik kommen. Bundeskanzler Kohl äußerte gegenüber dem Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt, Johannes Ludewig, den Wunsch nach einem Termin vor Ort. Ludewig verwies auf die bereits bestehenden Kontakte zur Buna AG in Schkopau. Aus Schkopau läge eine Einladung vor.
Als Kohl am Vormittag des 10. Mai 1991 in Schkopau eintraf, schwankte die Stimmung zwischen Bangen und Hoffen. Betriebsrätin Ingrid Häußler begrüßte ihn und appellierte: „Bitte enttäuschen sie unser Vertrauen nicht.“ Darauf Kohl: „Das ist für mich eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass ich dies versuche im Rahmen meiner Möglichkeiten.“ Er wich vom Manuskript ab und gab anstelle einer unverbindlichen Erklärung eine de facto Bestandsgarantie für die Unternehmen des Chemiedreiecks. Der Schlüsselsatz lautete: „Ich werde alles tun, dass dieses Chemie-Dreieck erhalten bleibt und weiter ausgebaut wird.“ Während im korrigierten Redemanuskript noch stand, dass „Leuna, Buna, Bitterfeld und Wolfen als Produktionsstandorte erhalten bleiben“ fehlte im Bulletin der Bundesregierung vom 17. Mai 1991 diese Passage. Im öffentlichen Bewusstsein blieb aber die mündliche Rede ausschlaggebend und natürlich beriefen sich Landes- und Kommunalpolitiker, Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte in der Folgezeit immer wieder auf die Standortgarantie. Dies setzte die THA unter Zugzwang. Bis zu den Demonstrierenden vor dem Rathaus in Halle, die am Nachmittag auf den Kanzler warteten, um ihre Wut und Enttäuschung über den Niedergang der Wirtschaft und die Massenentlassungen herauszuschreien, hatte sich die Botschaft noch nicht herumgesprochen oder sie wurde als Täuschungsmanöver empfunden. Die Situation geriet außer Kontrolle als der Kanzler mit Eiern beworfen wurde, kurzzeitig die Selbstbeherrschung verlor und auf einen der Werfer, den 21jährigen Jurastudenten Matthias Schipke, stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten in Halle, zustürmte. Nur mit Mühe konnten seine Begleiter eine Schlägerei verhindern. Der „Eierwerfer von Halle“, wurde verhaftet, blieb aber straffrei, da Kohl auf eine Anzeige verzichtete. Der Eier-Wurf von Halle wurde später von Kommentatoren als ein symbolischer Wendepunkt für das Verhältnis zwischen dem „Kanzler der Einheit“ und Teilen der ostdeutschen Bevölkerung betrachtet. Dabei geriet fast in Vergessenheit, dass mit dem „Kanzlerversprechen“ am 10. Mai 1991 die Weichen für die Zukunft der Chemieregion gestellt wurden.
ELF oder BP?
Da sich die westdeutsche Chemieindustrie zurückhielt, sollten internationale Firmen für ein Engagement im Osten gewonnen werden. Das verantwortliche Vorstandsmitglied in der THA für den Bereich der chemischen Industrie war seit April 1991 der spätere Wirtschaftsminister Sachsen-Anhalts, Klaus Schucht. Er erkannte, dass die THA Industriepolitik betreiben musste: „Wir müssen uns dann nur von der Vorstellung lösen, die Treuhandanstalt wäre ein Gebilde auf Zeit, nur errichtet, um zu privatisieren. Dies darf man natürlich heute niemandem sagen, weil dann der Schwung in der Privatisierung verlorengeht.“
Der französische Staatskonzern ELF und British Petroleum (BP) waren beim Verkauf der PCK-Raffinerie in Schwedt/Oder benachteiligt worden und hatten auch noch keine Anteile am ostdeutschen Tankstellennetz „Minol“ erwerben können. Ihr Interesse richtete sich daher auf die Raffinerie in Leuna. BP hatte schon im Dezember 1990 mit der Leuna AG einen Vertrag zur Gründung von Vertriebsgesellschaften geschlossen. Dem britischen Ölkonzern ging es dabei nur um die gemeinsame Vermarktung von Mineralölprodukten.
Berater der Investmentbank Goldman Sachs schlugen der Treuhand vor, die „Braut zu schmücken“. Dies bedeutete, die Leuna-Raffinerie sollte zusammen mit den Minol-Tankstellen zum Verkauf ausgeschrieben werden. Minol gehörte zu den ganz wenigen ostdeutschen Unternehmen, die hohe Gewinne erwirtschafteten. Das Management von Minol hoffte daher auf den Erhalt der Eigenständigkeit. Doch weder die Ölkonzerne noch die THA hatten Interesse am Aufbau eines neuen Players im Mineralölmarkt. Für die THA waren die Minol-Tankstellen nur Manövriermasse.
Die Entscheidung fiel zwischen BP und ELF. BP wollte für die Modernisierung der Leuna-Raffinerie rund 3 Milliarden D-Mark aufwenden. Das Angebot von ELF lag um 1,5 Milliarden D-Mark höher. ELF wollte die alte Raffinerie nicht ertüchtigen, sondern eine neue bauen. Der französische Konzern hatte bis dahin nur einen Marktanteil von rund zwei Prozent in Deutschland, Konkurrent BP hingegen sieben bis acht Prozent. Unter Verletzung sämtlicher bürokratischer Regeln brachte Schucht den Vorvertrag zur Unterschrift. Die Beamten des Bundesfinanzministeriums wurden unruhig, da sich Schucht weigerte zu sagen, mit wem die THA den Vorvertag abschließen wollte. John von Freyend, Leiter der Abteilung Industrielles Bundesvermögen des Bundesfinanzministeriums: „Wir sind ja nicht die Agenten von BP. Wir wollen ja nur wissen, wenn BP den Zuschlag nicht bekommt, woran es liegt.“ Schucht gab die Eckwerte des Vertrags aber nicht preis, da er seitens der Bonner Ministerien, nicht ganz unbegründet, Indiskretionen befürchtete. Als sich abzeichnete, dass die THA gewillt war, die Raffinerie in Leuna zu halten oder dort einen Neubau mit hohen Subventionen zu unterstützen, regte sich bei den übrigen Ölkonzernen Unmut. Seit langem gab es im europäischen Raffineriemarkt Überkapazitäten. Daher bekämpften sie den industriepolitischen Ansatz der THA vehement. Rücksichtnahmen auf die schwer von der Deindustrialisierung getroffenen Regionen waren ihnen fremd. Ein Konsortium unter Führung der Deutsche Shell AG Hamburg wollte eine Produktenpipeline nach Mitteldeutschland bauen. Damit sollte der Erhalt mehrerer alter Raffinerien in Hamburg gesichert werden. Ein Neubau in Leuna hätte sich in diesem Fall erübrigt. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt blockierte jedoch das Pipeline-Projekt, indem sie das Raumordnungsverfahren ablehnte.
Nachdem ELF den Zuschlag für das Leuna/Minol-Projekt erhalten hatte, wurden die Joint Venture Verträge zwischen Leuna und BP im Dezember 1992 aufgelöst. Die BP-Manager gaben der THA eine Warnung mit auf den Weg. Sie vermuteten, dass ELF den Preis noch drücken würde. Tatsächlich geschah genau dies. Dazu Schucht: „Dies war natürlich zu erwarten, denn ganz verborgen wird der Gruppe Elf auch nicht geblieben sein, dass sie wesentlich mehr als die Konkurrenz geboten haben.“
Vertragspoker
Die Details des Vertrages blieben umstritten: ELF erwartete möglichst hohe Subventionen für das Megaprojekt. Die Verhandlungen verliefen in gereizter Atmosphäre. Ein Schachzug von ELF bestand darin, neue Forderungen nach Subventionen nicht der THA, sondern direkt dem Bundeskanzleramt vorzutragen. Die THA reduzierte daraufhin den Kaufpreis und kam ELF auch bei anderen Kostenpositionen entgegen. Dafür wurde das im Vorvertrag zugesagte Investitionsvolumen für den Raffinerieneubau von 3,3 Milliarden D-Mark auf 4,3 Milliarden D-Mark erhöht. Im Juli 1992 wurde schließlich der Hauptvertrag unterzeichnet.
Als es 1993 zum Wechsel an der Spitze von ELF kam, wollte der neue Konzernchef Phillipe Jaffré, der in Absprache mit der französischen Regierung handelte, aus dem Leuna-Minol-Vertrag ausscheiden, oder nur noch eine Minderheitsbeteiligung übernehmen. Die THA lehnte aber eine „Rückverstaatlichung“ ab. Lobbyist Holzer schrieb an Kohl: „Um das Projekt zu retten, würde ich eine politische Intervention auf höchster Ebene in Paris für geboten erachten, andernfalls ist die Katastrophe perfekt.“ Die Erfüllung des Vertrages, so Jaffré gegenüber Breuel, werde in „eine gemeinsame Katastrophe“ führen. Die THA-Präsidentin drohte ihm mit einer Schadensersatzforderung in Höhe von 2 Milliarden D-Mark und wollte auch die Börsenaufsicht in New York informieren, was der kurz bevor stehenden Börseneinführung der ELF-Aktie in den USA schwer geschadet hätte. Jaffré: „Verehrte Frau Präsidentin, vor mir öffnet sich ein Abgrund, und hinter mir graben Sie eine Schlucht.“ Letztendlich waren die Probleme nur noch auf Regierungsebene lösbar. Kohl schrieb am 18. Februar 1994 einen Brief an Premierminister Balladur und bat ihn, seinen Einfluss geltend zu machen, um das Projekt vertragsgemäß zu realisieren. Ein drohender Vertragsschaden hätte gravierende Folgen.
Ende März 1994 wurde ein Kompromiss gefunden: Die noch in THA-Besitz befindliche Buna AG übernahm 33 Prozent der Anteile und das russische Mineralölunternehmen Rosneft 24 Prozent. Damit konnte ELF das Risiko minimieren. Rosneft und weitere russische Partner zahlten den Kaufpreis für 24 Prozent der Anteile teils in bar, teils durch Rohöllieferungen. ELF erklärte den Anteilsverkauf Anfang 1997 für hinfällig aufgrund nicht termingerechter Zahlungen. Als Rosneft daraufhin von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) deren 33prozentigen Anteil an der Leuna-Raffinerie erwerben wollte, lehnte die BvS ab, da sie einen Vergleich mit ELF anstrebte, um gegenseitige Forderungen zu verrechnen. Im Zuge des Vergleichs gingen die Raffinerieanteile im Dezember 1997 komplett an ELF über. Der Konzern erhielt außerdem eine Entschädigung in Höhe von 360 Millionen D-Mark, da die THA einen Teil ihrer vertraglichen Verpflichtungen nicht eingehalten hatte.
Fazit
Der Leuna-Minol-Vertrag stellte die größte französische Investition in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Trotz erheblicher Zweifel am Raffinerieprojekt und zermürbender Auseinandersetzungen um Beihilfen und Baukosten realisierte EFL das Großprojekt termin- und qualitätsgerecht. Im Ergebnis ging im Dezember 1997 die modernste Raffinerie Europas in Betrieb. Angesichts anhaltend niedriger Margen im Raffineriegeschäft erwirtschaftete ELF mit der Leuna-Raffinerie viele Jahre kaum Gewinne. Noch im Jahr 2003 erklärte Jaffré, dass er lieber auf den Vertragsabschluss verzichtet hätte. Für den deutschen Staat und vor allem den Standort Leuna erwies sich das Engagement von ELF im Chemiedreieck als ein gutes Geschäft. Vom Raffinerieneubau ging das erhoffte Signal für die Privatisierung der Leuna-Chemie aus. Es kam bis Mitte 1996 zu mehr als 40 geschäftsfeldbezogenen Einzelprivatisierungen. Vereinfacht gesagt gab die Treuhand beziehungsweise ihre Nachfolgerin in den meisten Fällen sehr viel Geld aus, um neue Betreiber zu finden. Die Ansiedlung neuer Firmen im Chemiepark Leuna wurde durch die Gründung einer Non-Profit Infrastrukturgesellschaft erleichtert. Bis zum Jahr 2000 wurde die Restrukturierung des Standorts mit Investitionen von rund 9,5 Milliarden D-Mark abgeschlossen. Rund 9 000 Arbeitsplätze wurden nachhaltig gesichert. Das entsprach etwa 35 Prozent der bis 1990 vorhandenen Arbeitsplätze. Die heutige Total Raffinerie Mitteldeutschland GmbH ist das umsatzstärkste Unternehmen in Sachsen-Anhalt. „Wenn 2050 nur noch die besten Raffinerien am Markt sind, dann wird Leuna dazugehören“, prognostizierte der ehemalige Geschäftsführer der Total-Raffinerie, Reinhard Kroll 2018. Trotz eines Überangebots an Raffineriekapazitäten in Europa konnten die zu DDR-Zeiten vorhandenen Kapazitäten von 22 Millionen Tonnen pro Jahr mit der Modernisierung der Raffinerie in Schwedt und dem Neubau in Leuna erhalten werden. Die deutschen Raffinerien können insgesamt rund 100 Millionen Tonnen Rohöl verarbeiten. Mithin entfällt mehr als ein Fünftel der Verarbeitungskapazitäten allein auf die beiden Raffinerien in Ostdeutschland. Nur wenige Branchen der ostdeutschen Industrie verfügen über einen ähnlich hohen Anteil.
Also rundum eine Erfolgsgeschichte staatlicher Industriepolitik? Im Fall von Leuna führte die Privatisierungsstrategie der THA mit Billigung der EU-Kommission und hohen Beihilfen zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen Industriekomplexes. Andernfalls wären wohl tatsächlich dort nur die von Roland Berger genannten Schafweiden übriggeblieben. Kleinere Raffineriestandorte in Zeitz und Lützendorf hatten das Nachsehen. Die dortigen Betriebe wurden mit harten wirtschaftlichen und sozialen Folgen geschlossen, die bis heute spürbar sind.
Zitierweise: Rainer Karlsch, "Die Leuna-Minol-Privatisierung: Skandalfall oder Erfolgsgeschichte? ", in: Deutschland Archiv, 26.05.2020, Link: www.bpb.de/310467