So unterschiedlich die innerstaatlichen und regionalen Konflikte in und um die Ukraine, Moldova (Transnistrien), Georgien (Südossetien und Abchasien) sowie zwischen Armenien und Aserbaidschan (Berg-Karabach) auch sind, weisen sie doch mehrere Gemeinsamkeiten auf: Erstens liegen die Konflikte in Regionen, die seit jeher Grenzland sind, d.h., dass in ihnen seit Jahrhunderten verschiedene Kulturen, Sprachen und politische Machtformen auf prekäre Weise koexistieren oder sich bekämpfen. Und zweitens sind die Autonomie- und Souveränitätsansprüche stark ethno-politisch aufgeladen. Sowohl die Grenzlanderfahrungen als auch die ethno-politischen Narrative weisen in die Vergangenheit und stellen die Frage nach den historischen Ursachen der Konflikte.
Historische Ursachen und Hintergründe der Kriege und Konflikte im post-sowjetischen Raum Historische Ursachen und Entwicklungstrends
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Der postsowjetische Raum ist geprägt vom historisch gewachsenen Spannungsverhältnis zwischen imperialer Herrschaft und nationalstaatlicher Ordnung. Mit der Rückkehr zu einer imperialen Machtpolitik gegenüber seiner Nachbarschaft politisiert Moskau ethnische Konfliktlinien und Identitätsdiskurse in der Peripherie und heizt die ungelösten Konflikte an.
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- Ethnizität, nationale Identität und Staatlichkeit in der imperialen Ordnung des zaristischen Russlands
- Interregnum und Bürgerkriege
- Konzept und Wirkung des sowjetischen Ethnoföderalismus
- Instabilität und Unordnung nach 1991: auf der Suche nach einer neuen Ordnung
- Russland und sein "Nahes Ausland"
- Fazit
Ethnizität, nationale Identität und Staatlichkeit in der imperialen Ordnung des zaristischen Russlands
Die territoriale Expansion des zaristischen Russlands begann Mitte des 18. Jahrhunderts und richtete sich zunächst gen Westen und Süden, später dann nach Sibirien und Zentralasien. Anders als andere europäische Kolonialmächte, deren Ausdehnung sich vor allem auf überseeische Gebiete konzentrierte, beschränkte sich Russland auf die Eroberung seiner zumeist dünn besiedelten kontinentalen Nachbarschaft. Nach und nach wurde eine Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichsten kulturellen und ethnischen Prägungen in den russischen Machtbereich eingegliedert. Für den zentralistisch organisierten imperialen zaristischen Staat spielte diese ethnische, religiöse und kulturelle Inhomogenität keine Rolle, solange die Eliten in den Peripherien die Herrschaft des Zaren akzeptierten.
Die Akzeptanz der neuen Herrschaft war je nach Region sehr unterschiedlich: Dort, wo die ethnische, religiöse oder kulturelle Heterogenität groß war, kein gemeinsamer Geschichtsraum und kaum Erfahrungen eigener Staatlichkeit bestanden, konnte sich die russische Macht relativ schnell durchsetzen. Dies gilt z.B. für die Ukraine und Bessarabien. Beide Territorien wurden über Jahrhunderte vom Wechsel und der Rivalität ganz unterschiedlicher Fürstentümer, Königreiche und Imperien, wie Russland, Polen, Habsburg oder das Osmanische Reich, geprägt. Völker mit einem starken Selbstbehauptungswillen und einer ausgeprägten kulturellen Identität, wie diejenigen des Kaukasus, kämpften dagegen mit großer Entschlossenheit und langem Atem gegen die Eingliederung in das russische Reich.
Mit dem Aufkommen des Nationalismus als Idee und Bewegung "gegen Aristokratie und feudale Privilegienordnung" (Kruse 2012) im 19. Jahrhundert in Europa sowie dem Nationalstaat als neuem Ordnungsprinzip erwachte auch im Inneren des russischen Imperiums das nationale Selbstbewusstsein der Völker und der Wunsch nach eigener Staatlichkeit. Dadurch wurden das imperiale Ordnungsprinzip und die Identität des zaristischen Reichs grundsätzlich in Frage gestellt. Während Russland einerseits die Nationalbewegungen in Griechenland, Serbien und Bulgarien unterstützte, um das Osmanische Reich zu schwächen, wurde jegliche nationale Regung in Polen und Litauen konsequent unterdrückt. Spätestens ab 1848 entwickelten sich Ethno-Nationalismus und Separatismus für das russische Imperium zu einem flächendeckenden Problem und schließlich zum Brandbeschleuniger seines Zerfalls nach der Revolution von 1917.
Interregnum und Bürgerkriege
In der Zeit des Interregnums zwischen 1917 und 1921 – also vom Ende der russischen Monarchie bis zur Gründung der Sowjetunion – keimte neues Nationalbewusstsein in den Peripherien auf, nachdem die Sowjetregierung im November 1917 die "Deklaration der Rechte der Völker Russlands" verabschiedet hatte, in der sie die Befreiung der unterdrückten Völker proklamierte. Während die Bolschewiken das Recht auf freie Selbstbestimmung, vor allem im Rahmen eines freiwilligen, föderativ organisierten Gesamtstaats umsetzen wollten, drängten die nationalen Führungseliten vieler nicht-russischer Nationalitäten nach voller Unabhängigkeit. Tatsächlich erlangten in dieser Phase einige Gebiete Eigenständigkeit und Staatlichkeit: So erklärte sich Georgien 1918 für unabhängig und gründete die erste Republik. Die Demokratische Republik Armenien wurde ebenfalls 1918 ausgerufen. Auf dem Territorium der heutigen Ukraine entstanden zum Ende des Ersten Weltkriegs die Ukrainische Volksrepublik und die Westukrainische Volksrepublik, die sich 1919 zusammenschlossen. Die Moldauische Volksrepublik war bereits 1917 ausgerufen worden.
Diesen Unabhängigkeitsbestrebungen wurde im Zuge der Bürgerkriege allerdings in weiten Teilen ein Ende gesetzt: In Georgien übernahmen nach dem von Bolschewiken angezettelten georgisch-südossetischen Krieg (1918-1920) wieder die Sowjets die Kontrolle und zwangen das Land zusammen mit Armenien und Aserbaidschan in die Transkaukasische Sowjetrepublik. Die Ukraine zerfiel nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit Polen auf der einen und der Roten Armee auf der anderen Seite wieder. Der westliche Teil wurde nun von Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei kontrolliert. Die Mitte, der Osten und Süden wurden 1922 als Ukrainische Sozialistischen Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion. Die durch die Bürgerkriege verursachten Opfer, Wunden und Traumata prägen bis heute das kollektive Gedächtnis der betroffenen Völker und bilden einen Nährboden für die aktuellen Konflikte.
Konzept und Wirkung des sowjetischen Ethnoföderalismus
Der von den Bolschewiken geförderte Ethnoföderalismus sollte die Sowjetunion als Vielvölkerstaat zusammenhalten und gleichzeitig das verfassungsmäßig festgelegte Recht auf nationale Selbstbestimmung in geordnete Bahnen lenken. Langfristiges Ziel war die Überwindung aller nationalen und ethnischen Unterschiede und die Formierung eines "Sowjetvolkes". Bei der Umsetzung entstanden jedoch Widersprüche, die sich konfliktfördernd auf die ethnisch-national, kulturell und religiös heterogenen Randregionen der Sowjetunion auswirkten.
Diese Entwicklung lässt sich insbesondere an zwei Ursachen festmachen: Erstens vernachlässigte die von den Bolschewiken betriebene Schaffung administrativer Einheiten entlang ethnischer Kriterien die tatsächliche Vielfalt, wie sie etwa in der Ukraine, im Kaukasus oder in Zentralasien bestand. Von den 125 offiziell gezählten Völker (von etwa 800 identifizierbaren ethnischen Gruppen) erhielten lediglich 53 den Status als Titularnation.
Zweitens wurden mithilfe der "Korenizacija" (Einwurzelung) – einer Form der "positiven Diskriminierung" nicht-russischer Völker – die nationalen Kulturen und Sprachen der randständigen Völker gefördert, um so zur Herausbildung nationaler Kader und letztlich Stärkung des Kommunismus in den Regionen beizutragen (Simon 2013: 107). Doch sie stärkte auch das nationale Identitätsgefühl der ethnischen Gruppen und ermutigte ihr Selbstbewusstsein, weitergehende politische Ansprüche gegenüber der Zentralmacht zu stellen.
Im Bestreben, die Nationalitätenpolitik der Gründungsjahre zu revidieren, wurden ab den 1930er Jahren vermehrt Russen in die Peripherien entsandt. Innerhalb von 10 Jahren wuchs ihre Zahl außerhalb der RSFSR um etwa das Doppelte (ebd.: 113). Die Bereiche Bildung und Kultur wurden zunehmend russifiziert und über das Narrativ von den sozialistischen Nationen als ein "Sowjetvolk" jegliche Ansprüche auf Eigenständigkeit negiert. Mehrere ethnische Umsiedelungen, Deportationen und sogar Säuberungen während der Stalinzeit waren die ersten und schlimmsten Beispiele für Versuche, die fortschreitende kulturelle Differenzierung und Nationsbildung aufzuhalten. Ein Beispiel ist die Deportation der deutschen Minderheit auf Grundlage des Befehls Nummer 00439 vom 25. Juli 1937.
Eine größere Nationalisierungswelle in den Peripherien der UdSSR entstand schließlich in den 1960/70er Jahren im Zuge einer längeren Phase gesellschaftlicher Modernisierung. Sie brachte zum Beispiel in der Ukraine, im Kaukasus und in Zentralasien neue, gut ausgebildete nicht-russische Eliten hervor, die in die Machtstrukturen drängten und antraten, vorrangig die Interessen ihrer Region, und nicht die des Zentrums, zu vertreten. So wurden schließlich in den 1980er Jahren die Fliehkräfte zwischen den Nationen immer größer, bevor diese insbesondere in der Endphase der Sowjetunion zum Motor für die Forderung nach Demokratisierung, Regimeöffnung und letztlich nationaler Selbstbestimmung wurden.
Instabilität und Unordnung nach 1991: auf der Suche nach einer neuen Ordnung
Durch Demokratisierung und Transparenz ("perestroika" und "glasnost") wurde die Brüchigkeit des sowjetischen Gesellschafts- und Nationenvertrags offenkundig. Aufgrund des Fehlens pluralistischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen, die die entstehenden Konflikte hätten auffangen können, vollzog sich die gesellschaftliche Mobilisierung primär über ethno-nationalistische Ideologien (Offe 1991: 518). Das Machtvakuum, das die Auflösung der KPdSU hinterließ, öffnete Räume für die Entstehung radikaler Unabhängigkeitsbewegungen, die sich auf ihr in der sowjetischen Verfassung verbrieftes Recht auf Abspaltung und Eigenständigkeit beriefen.
Dies heizte u.a. die territorialen Auseinandersetzungen zwischen den Titularnationen der Sowjetrepubliken und den auf ihren Territorien lebenden nationalen Minderheiten an. Denn mit der Auflösung der Sowjetunion wurden die ehemals inneren Grenzen der Unionsrepubliken zu Außengrenzen, nicht aber jene zwischen den Republiken und ihren Autonomen Gebieten. Außerdem fanden sich nach 1991 viele Russen in den neuen unabhängigen Staaten als nationale Minderheiten wieder. Die Forderungen sowohl nicht-russischer als auch russischer Minderheiten nach Autonomie oder Sezession wurden zu Kristallisationspunkten für bewaffnete Konflikte in den neuen Staaten.
Ein Beispiel ist der Konflikt in der ehemaligen Moldauischen Sowjetrepublik, wo sich das überwiegend von ethnischen Russen und Ukrainern bevölkerte Transnistrien gegen die Pläne der nationalistischen Demokratischen Bewegung (später Volksfront) wandte, Russisch als offizielle Landessprache abzuschaffen und die ehemalige Sowjetrepublik mit Rumänien zu vereinen. In Georgien heizte der 1991 zum Präsidenten gewählte ehemalige Dissident Swiad Gamsachurdia mit seiner national-radikalen Politik den Konflikt mit den Südosseten an, die in einem Autonomen Gebiet im Norden Georgiens lebten.
Dort, wo die Konflikte nicht politisch oder militärisch entschieden werden konnten, wurden sie "eingefroren". Das heißt, die zwischen abgespaltenen Territorien und Mutterstaaten – durchweg unter russischer Vermittlung – vereinbarten Waffenstillstände wurden nie in einen Friedensvertrag überführt, der ihren Status einvernehmlich klärt. Mit Unterstützung Russlands entzogen sich die "De-Facto-Staaten" der Kontrolle ihrer Mutterstaaten und entwickelten eigene administrative Strukturen (Lynch 2002: 831). Das Verhältnis zwischen beiden Seiten ist bis heute von nationalistischer Rhetorik, Misstrauen und Abschottung geprägt. Die Folgen für die betroffenen Länder und Regionen sind schwache Staatlichkeit, strukturelle Entwicklungsblockaden und Instabilität.
Russland und sein "Nahes Ausland"
Zeitgleich zu Versuchen in den 2000er Jahren, etwa in Georgien oder Moldova, diese Entwicklungsblockaden durch innere Reformen und mehr Westorientierung zu überwinden, ist Russland unter Präsident Wladimir Putin einer Politik der aktiven Einflusssicherung in seinem "nahen Ausland" übergegangen. Russland nutzt u.a. die ethno-nationalen Spannungen in den ungelösten Konflikten, um seine Nachbarn zu destabilisieren und so seine Vormachtstellung in der Region zu sichern. Beispiele dafür sind die Unterstützung pro-russischer Akteure und die gezielte Einbürgerungspolitik gegenüber der russischen Bevölkerung ("Passportisierung") in den separatistischen Gebieten.
Nach dem Fünf-Tage-Krieg mit Georgien 2008 schwenkte Moskau in eine aktivere Abspaltungspolitik ein. Ausdruck dessen sind die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens sowie ihre politische und militärische Anbindung an Russland. Während Moskau noch vor der endgültigen Annexion dieser abtrünnigen Gebiete zurückschreckt, wurde die ukrainische Krim 2014 in das russische Staatsgebiet eingegliedert.
Umgekehrt diskreditiert Moskau die nationalen Emanzipationsbestrebungen seiner Nachbarn wahlweise als "feindlich", "faschistisch" oder "terroristisch". Auf diese Weise wurden etwa in der Ukraine Feindbilder erzeugt, die die Legitimationsgrundlage für die Krim-Annexion und den bewaffneten Unabhängigkeitskampf der Separatisten in der Ostukraine lieferten. Die vielfältigen ethnischen und kulturellen Identitäten, die bis dahin in der Ukraine koexistierten, wurden so in einen gewaltbehafteten Antagonismus gezwungen und die politische Auseinandersetzung im Land auf die Frage "Für oder gegen Russland?" verengt.
Fazit
Die ungelösten Konflikte im post-sowjetischen Raum drehen sich im Kern alle um Selbstbestimmung – und damit um die Neuordnung der Grenzen der 15 unabhängigen Staaten, die nach 1991 auf dem Territorium der untergegangenen Sowjetunion entstanden sind. Treiber dieser Konflikte sind in der imperialen Geschichte des postsowjetischen Raums zu finden, wo die Bildung von nationalen Entitäten vielfach mit der Ausgrenzung von ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppen einhergegangen ist. Die Politisierung dieser historischen Erfahrungen und der Missbrauch von Identität zum Zwecke nationalistischer Mobilisierung stehen heute mehr denn je einer Lösung der Konflikte im Wege.
Die neo-imperiale Einflussnahme Russlands auf seine Nachbarschaft verhindert nicht nur die Lösung der Konflikte, sondern friert auch den sozio-politischen Wandel in den von Russland abhängigen Gebieten ein. Gleichzeitig verstärken sich infolge der imperialen Gängelung die zentrifugalen Effekte. Dazu gehört u.a. die Forcierung der Nationsbildungsprozesse in der Ukraine, in Moldova und Georgien und damit die dauerhafte Emanzipation dieser Länder von Russland und ihre Herauslösung aus dem postsowjetischen Raum. Solange Russland die gesellschaftliche Entwicklung und politische Ordnung in seiner Peripherie allein durch die imperiale Brille betrachtet, kann es nur verlieren.
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Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie studierte Politikwissenschaft, Ostslawistik und osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, am Middlebury College, Vt./USA und an der Universität Hamburg. Von Oktober 2014 bis September 2015 vertrat sie die Professur für Internationale Politik, insbesondere auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
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