Die Leinwand ist schwarz, der Name des Stars erscheint: Harrison Ford. Dazu der erste Ton des Films, ein weit entfernter Donner aus dem Synthesizer. Er klingt, als würde irgendwo ein gewaltiger Krieg in seinen letzten Atemzügen liegen. Dieser Ton blieb einem vom ersten Kinobesuch an unvergesslich. Ebenso unvergesslich wie das erste Bild: die Totale von Los Angeles im Jahr 2019. Es ist keine Stadt mehr, die man da sieht, es ist eher der Traum eines Molochs, der, aus diversen Kraftwerksschloten Feuer speiend, wie ein vielköpfiger Drache auf dem Mars auf der Lauer liegt. Der ständige Regen, die ewige Dunkelheit einer Welt nach dem Atomkrieg, die Überlagerungen auf der Tonspur von im Bild verorteten Geräuschen und Soundeffekten aus der Musik, die irre Architektur, der Qualm, der von überall präsenten Ventilatoren durch die Dekorationen ins Gegenlicht geblasen wird, die anonymen Feuersäulen am Horizont, dieses ganze Katastrophen-Design des Jahres 2019, das eigentlich eher nach einem zehnfach vergrößerten Tokio aussieht – Tokio war in den Endsiebzigern ja absolut angesagt und die japanische Kultur aufgrund ihres Minimalismus auf der Höhe der Zeit –, kurzum: Der Stil, die Atmosphäre des Films bilden mit der Story zusammen vom ersten Augenblick an eine untrennbare Einheit.
Es war ein Coup: Der Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Do Androids Dream of Electric Sheep?) des genialsten Science-Fiction-Autors Amerikas, dem kurz vor der Premiere des Films verstorbenen Philip K. Dick, war von dem Engländer Ridley Scott ("Alien", 1979) so umgesetzt worden, dass vor allem die bedrohlichen Elemente übrig blieben: die paranoide Atmosphäre, die tiefe Gebrochenheit der Figuren und die typische Dicksche Unberechenbarkeit und Verunsicherung auf allen Erzählebenen. Die Handlungsstränge und die Hauptpersonen des Romans waren zwar im Einzelnen stark verändert worden, aber das Klima des Ganzen passte hundertprozentig in die 1980er Jahre.
Es gab wohl seit Fritz Langs "Metropolis" (1925/26) keinen Science-Fiction-Film mehr, der seinen Erfolg so sehr einem sensationellem Design verdankte. In "Blade Runner" nutzten die Production-Designer den veredelten Punk-Look und das Loft-Design der Spätsiebziger, entwarfen fliegende Autos, die aussahen wie vom Jahrmarktkarussell geklaut, und garnierten das Ganze nostalgisch mit Art-Déco-Anleihen und der Ikonografie des Gangsterfilms der 1930er Jahre. Entscheidend im Vorteil gegenüber "Metropolis" ist "Blade Runner" aber vor allem, weil er nicht eine platte Sozialrevoltenkolportage erzählt, sondern von einem tiefen philosophischen Konflikt, von Identitätskrisen und von Todesreflektionen geprägt ist.
Die Fragen des Films, die 1982 ins Schwarze trafen, sind vor allem: Leben wir noch? Oder sind wir innerlich schon so tot, dass wir das nicht mal mehr spüren, während wir andererseits panisch jene Maschinenmenschen jagen, die uns vermeintlich bedrohen? Und sind diese Maschinenmenschen, die wir selbst ins Leben gerufen haben, in ihrer unbändigen Sehnsucht nach Freiheit nicht längst viel lebendiger als wir?
"Blade Runner" ist ein Gangsterfilm im Gewand eines Science-Fiction-Films. Er ist sozusagen der Film noir unter den großen Science-Fiction-Filmen. Harrison Ford spielt einen Samurai, einen scheinbar eiskalten Engel der Polizei im L.A. des Jahres 2019. Er jagt und tötet aufständische Roboter, Replikanten genannt, die von Menschen kaum noch zu unterscheiden sind. Er scheint äußerlich unbeirrbar auf seinem Weg, er erlegt einen Gegner nach dem anderen, aber er gerät mehr und mehr in eine schizophrene Krise. Denn er liebt eine Replikantin – und vor allem: Bis zum Ende des Films kann er sich selbst die entscheidende Frage nicht beantworten, ob er nicht vielleicht selbst ein Replikant ist?
"Blade Runner" hat eine relativ einfache Geschichte und besteht überwiegend aus faszinierenden langen Szenen. Dieser Film, der kaum kurze Übergangssequenzen hat, ist so eindrucksvoll, dass er sich ab und zu sogar eine sehr verknappende Dramaturgie leisten kann. Ich habe beispielsweise nie ganz akzeptiert, dass der Replikant Roy (Rutger Hauer) gemeinsam mit dem Gentechniker J.F. Sebastian (William Sanderson) so einfach zu seinem "Vater", dem unnahbaren Konzernchef Tyrell (Joe Turkel) ins Boudoir durchkommt, um ihn dann dort auch prompt zu ermorden. Gibt es keine Bodyguards für den Schöpfer aller Maschinen? Keine Sicherheitschecks in dieser babylonischen Mega-Pyramide des Konzerns, in dem Tyrell haust? Ebenso wird die Reaktion der ansonsten permanent präsenten Polizei auf den Mord an dem Fürsten Tyrell ausgespart. Aber solche Details sind letzten Endes egal, und kleine dramaturgische Ungereimtheiten sind auch ein häufiges Merkmal vieler großer Filme. Da geht es eher um Bilder, um charismatische Figuren, um Momente, um tolle Einzelszenen, um Atmosphäre; es geht mehr um das Filmische an sich als um Motivationen, um mögliche Kürzungen oder um Logik. In seinen Meisterwerken realisiert sich das Kino vollends als eine Art Symphonie aus Tönen und Bildern. Selten ist nur, dass diese Ausnahmefilme bereits kurz nach ihrem Erscheinen als solche erkannt werden. Auch "Blade Runner" floppte zunächst beim großen Publikum, wurde aber doch sehr zügig ein Kultfilm erster Ordnung und ist heute ein Klassiker.
1991 schob Scott dann den ersten Director´s Cut der Filmgeschichte nach: "Blade Runner" hat seitdem keinen Ich-Erzähler mehr, der daherschwadroniert wie Humphrey Bogart in den Chandler-Verfilmungen. Und die Dunkelheit bleibt nun bis zum Ende des Films – was ich am Director´s Cut übrigens immer bedauert habe. Denn die sonnenüberflutete Landschaft, über die am Ende der Produzentenfassung von 1982 Harrison Ford und Sean Young in eine sehr zerbrechliche Zukunft fliegen, war allgemein schnell identifiziert worden als Restmaterial aus Stanley Kubricks Anfangssequenz in "The Shining" (1980). Diesen Recycling-Anteil des Films fand ich immer bewundernswert mutig. Entscheidend aber an der Director´s-Cut-Fassung ist, dass sie durch den Einhorn-Traum Deckards ergänzt wurde und somit später seine Erinnerung als konstruiert und fremd entlarvt.
Die schönste Figur des Films ist natürlich Sean Young, die melancholische Roboterfrau, die anfangs gar nicht weiß, dass sie ein Replikant ist. Die nicht weiß, dass ihre Kindheits-Erinnerungen implantierte Daten in ihrem elektronischen Gehirn sind. "Vielleicht sind es die Erinnerungen von Tyrells Tochter?" Und Sean Young war eine Ausnahmeerscheinung. Sie hatte in den 1980ern kurz danach gleich nochmal einen phänomenalen Auftritt, und zwar in dem paranoidesten aller Politthriller Hollywoods jener Zeit, in "No Way Out - Es gibt kein zurück" (No Way Out, R: Roger Donaldson, 1987) neben Kevin Costner. Seitdem ist es leider still um sie geworden.
Das Neue an den starken Filmen der 1980er gegenüber den starken Filmen der vorangegangenen Dekaden war ihre völlig selbstverständliche Desillusioniertheit. Dass alles verrottet war in den oberen Etagen der Welt, das war nicht einmal einen Skandal mehr wert. Es war allen damals schon klar, dass man in Zukunft in unseren Gesellschaften übermächtigen Konzernen, ihren Überwachungsstrategen und den völlig korrupten und machtberauschten Medien- und Politfunktionären gegenüberstehen würde. Und dass man von nun an immer auf der Hut vor dem Staat würde sein müssen. Dass die Menschen sich trotz aller Utopien der Hippie-Ära noch schlechter verstanden als zuvor, das war inzwischen jedem ins Bewusstsein gedrungen. Dass die Popmusik zur kapitalistischen Hymne mutiert war, dagegen hatte es zwar kurzfristig den Punk als Medizin gegeben, aber der war inzwischen verschwunden oder ebenfalls Teil des Besänftigungsapparats geworden. Es war aber andererseits auch offenbar geworden, dass die Zerstörung aller gesellschaftlichen und individuellen Illusionen wiederum neue, verborgene Kommunikationswege eröffnet hatte. Sinnliche Wege. Oben plärren zwar die Lautsprecher der Werbung und der Politik, aber darunter erzählen die Augen, die Blicke, die unbeobachteten Gesten der Menschen, was wirklich gefühlt und gedacht wird. Wie unter der Haut der Gesellschaft liegende Verkehrsadern eines anderen, geheimen Gesprächs, so weisen die Blicke der Figuren in "Blade Runner", die knappen Dialoge, die Schweigsamkeit des ganzen Films, die Künstlichkeit, die Dunkelheit zwar auf ein totales Misstrauen in die üblichen Kommunikationsformen hin, aber gleichzeitig auf eine neue Kultur. Vielleicht eine Gegenkultur, die auch nicht vor Mitteln des Terrors zurückschreckt? Aber Vorsicht! Denn das war ja die Lehre aus den Siebzigern gewesen: Auch unter den Gleichgesinnten kann es keine lange Freundschaft geben. Die gemeinsamen Ideale versinken schnell, und aus den Freunden werden Gegner und Verräter.
Und die Liebe? Ist auch nur ein Traum. Man ist letztendlich immer allein, kann höchstens für kurze Zeit gemeinsam einen Traum träumen. Aber die Erkenntnis dieser Einsamkeit hat auch etwas Grandioses. In den Augen von Sean Young können wir noch sehen, wie die Sehnsucht nach dem Menschsein und das Wissen um alle grausamen Wahrheiten gleichzeitig ihren Blick erfüllt. Sie und Harrison Ford treffen sich in ihrer Melancholie und in ihrer Erschöpfung wie die einsamsten Menschen auf dem Planeten. In Vangelis´ Saxofonschnulze jault ihr unendliches Sehnen auf, nach kurzer Erlösung in der Umarmung.
Es war eine knapp bemessene Ära der Wahrhaftigkeit damals. Man fühlte in dem Zeitraum nach der Revolte der Siebziger sogar bei uns in Deutschland einen frischen Wind. Wer in einer solchen Zeit, also nach der Revolution, geistig geboren wird, der empfindet von da an jede, auch die schärfste Desillusionierung als eine Befreiung. Aber als der frühere Bundeskanzler Kohl an der Wende zu den 1990ern seine berüchtigten "blühenden Landschaften" versprach und als die Menschen solche falschen Versprechungen auch wieder hören wollten, da waren die offenen Zeiten ja auch schon wieder vorüber. Und Lüge, Selbstbetrug und kindische Träume der Gesellschaft gingen wieder von vorne los.
Drei Briten schufen innerhalb von sieben Jahren, zwischen 1975 und 1982 mit Hilfe von US-Dollars und mit amerikanischen Roman-Copyrights drei der bedeutendsten Science-Fiction-Filme der Filmgeschichte: Es waren Nicolas Roeg mit "Der Mann, der vom Himmel fiel" (The Man Who Fell to Earth, 1975), Donald Cammell mit "Des Teufels Saat" ("Demon Seed, 1976) und Ridley Scott mit "Blade Runner".
Mit "Blade Runner" wurde der letzte ganz große Science-Fiction-Film in den Filmkanon aufgenommen. Alles was danach in diesem Genre kam, von "Robocop" (R: Paul Verhoeven, 1987) über "The Terminator" (R: James Cameron, 1984) bis zu Terry Gilliams "12 Monkeys" (1995), all das ist aus meiner Sicht nur noch in kurzen Momenten vergleichbar. Philip K. Dicks Erzählungen und Romane lieferten inzwischen auch die Vorlagen zu "Total Recall – Die totale Erinnerung" (Total Recall, R: Paul Verhoeven, 1990), zu "Minority Report" (R: Steven Spielberg, 2002), und aus seinem Werk stammen fast alle interessanteren Versatzstücke von "The Matrix" (R: Andy & Larry Wachowski, 1999). Aber keiner dieser Filme reichte auch nur entfernt an "Blade Runner" heran. Einzig und alleine Abel Ferraras Adaption von William Gibsons "New Rose Hotel" (1999) kann es mit den genannten drei Meisterwerken der Briten an thematischer Schärfe, an Dringlichkeit, an Verzweiflung, an Sehnsucht, an Eros und an Geist aufnehmen.
Dass Scotts Film nun bei uns im Filmkanon auftaucht, verdankt er nicht nur seinen Stärken, sondern wohl auch zum Teil seinen kleinen Schwächen. Der Film hat einen gewissen Hang zum globalen Weihespiel, und Philip K. Dicks Welt ist im Grunde wirklich ziemlich anders, dies sei noch einmal gesagt. Dick selbst ist satirischer, verrückter als "Blade Runner". Er fabriziert weniger eine abgeschlossene Kunstwelt als viel eher einen grellen Supermarkt, der kitschige Trashrequisiten und kalifornische Porno-Sehnsüchte mit Tiefenpsychologie und Philosophie in ein und demselben Regal anbietet. An Stanislaw Lem, den Autor von Solaris, hatte Dick einmal geschrieben: "Sehen Sie, Mr. Lem, hier in Kalifornien gibt es keine Kultur, nur Kitsch [...]. Wenn Gott sich uns offenbarte, dann täte er das in Gestalt einer Spraydose, für die im Fernsehen geworben wird." Die Satire und diese Art von Kulturlosigkeit der Romane Dicks findet sich in der Verfilmung nicht wieder. Ebensowenig auch der Ehestreit seiner Hauptfiguren, die übrigens alle seine Romane ungemein beleben.
Das Fehlen eines solchen bittersüßen Sarkasmus ist der einzige Punkt, der dem Haltbarkeitsdatum von "Blade Runner" auf Dauer etwas anhaben könnte. Aber vielleicht wird man später auch sagen, dass ihn gerade sein Pathos in die Position gehoben hat, die er nun innehat: Eine der letzten "Mütter aller Filme" zu sein, die bislang gemacht wurden. Er ist eine kreative Turbine, dieser Film, hat eine enorme Wirkung entfaltet (David Finchers "Sieben" [Se7ven, 1995] zum Beispiel diente er als Inspiration für das Production Design) und ist inzwischen so etwas wie eine Stahlschraube im Gebäude unseres kulturellen Bewusstseins.