Dass Deutschland einmal Kolonien in Afrika besessen hat, ist aus dem nationalen Gedächtnis weitgehend verdrängt worden. Dabei war die imperialistische Expansion für Generationen von Deutschen eine nationale Schicksalsfrage. Erst 1884 widmete sich das Deutsche Reich dem wirtschaftlichen Aufbau, verlor jedoch schon im Ersten Weltkrieg die Kolonien wieder.
Einleitung
Wenige Weltgegenden erscheinen heute von Deutschland aus so weit entfernt wie Afrika. Der Berichterstattung über afrikanisches Leben zufolge herrscht dort für Tiere das Paradies, für Menschen jedoch dieHölle. Keine der menschlichen Apokalypsen - Armut, Hunger, Seuchen, Staatszerfall und Kriege -, die nicht auf Afrika inExtremform zutrifft. Seit den achtziger Jahren gilt Afrika geradezu als "vergessener" Kontinent. Nahezu jeder Optimismus, von Europa aus für ein gutes Jahrhundert genährt, ist inzwischen verschwunden. "Im Herzen des Kontinents sind ganze Landstriche in die Unentdecktheit zurückgesunken."
Dabei war das nach 1945 teilweise aktiv verdrängte Erbe des Kolonialismus bis dahin überaus lebendig. Anfang der vierziger Jahre besaß der Reichskolonialbund fast zwei Millionen Mitglieder, beträchtliche Geldbeträge flossen in die Kolonialforschung. In den Schubladen zahlreicher Instanzen lagen ausgearbeitete Pläne für eine erneute Inbesitznahme der im Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete bereit. Unzählige Freiwillige meldeten sich für einen baldigen Einsatz auf dem südlichen Kontinent. Die fachlichen Kenntnisse der deutschen Kolonial- und Tropentechnik waren auf dem neuesten Stand. Und einer der letzten Spielfilme des "Dritten Reiches", der nicht mehr uraufgeführte "Quax in Afrika", ließ Heinz Rühmann 1945 noch einmal zum schwarzen Kontinent fliegen - wo er freilich eine Bruchlandung erlebte.
Diese Bilanz war für den deutschen Kolonialrevisionismus nach 1918, vielleicht sogar für den deutschen Kolonialismus seit 1884 insgesamt zu ziehen. Doch zeigen die Filme und die Erwartungen der Koloniallobby zugleich, wie stark die afrikanischen Phantasien in Deutschland lange Zeit waren. Als die Sieger des Ersten Weltkriegs Deutschland 1919 aus dem Kreis der aktiven Kolonialmächte ausschlossen, rief dies einen Aufschrei der Empörung hervor. Die politische Zustimmung zu den Kolonien war in Deutschland am einmütigsten, als die kolonisatorische Mission der Deutschen von außen her für beendet erklärt wurde und Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo als Mandatsgebiete in die Verwaltung der ehemaligen Kriegsgegner übergingen. Wirtschaftlich und finanziell traf der Verlust das Deutsche Reich freilich kaum. Der Anteil der Kolonien am deutschen Außenhandel betrug 1913 gerade einmal 0,6 Prozent. Nicht zuletzt brandmarkten die Kolonialgegner die dreißig Jahre, in denen Deutschland einige wenig ertragreiche Gegenden in Afrika, einen Brückenkopf in China sowie einige südpazifische Besitzungen besessen hatte, oft genug als "nationales Verlustgeschäft".
Imperialistischer Denkstil
Wie ist dieser Widerspruch zwischen der geringen Bedeutung der deutschen Kolonien und der heftigen Empörung über ihren Verlust zu erklären? Verständlich wird die Emphase, mit der die Kolonialrevisionisten nach 1918 auf Kolonien als Siedlungs- und Lebensräume, als Rohstoff- und Absatzmärkte pochten, nur vor dem Hintergrund einer Weltsicht, die eine ganze Epoche des europäischen Kolonialismus zwischen dem ausgehenden 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts prägte. In Europa und Amerika ging man im Zeitalter des Imperialismus von der unbedingten Notwendigkeit einer weltweiten Erschließung von Raum und Ressourcen aus. Die dynamische Entwicklung der Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem die rasante Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationseinrichtungen, schoss über die nationalen Grenzen hinaus und ließ eine aktive Raumordnung angeraten sein. Dabei bildete sich ein nationaler Leistungswettbewerb sowie eine weltweite Rivalität um Ressourcen heraus, die für ein stetiges Wachstum der "jungen" und "kräftigen" Nationen notwendig schienen. Der modernen Technik und der Medizin kamen dabei zentrale Funktionen zu, denn sie bestätigten dem Augenschein nach die Überlegenheit der "entwickelten" Völker und Nationen. Die Europäer verstanden es als ihre Mission, die "Segnungen der Technik", die sie zu Hause als so umwälzend erlebten, in die Welt zu tragen. Der wissenschaftlich-technische "Fortschritt" wurde zu einer Erfolgsideologie, die durch fortgesetzte Triumphe - etwa den Bau des Suezkanals, die Vollendung der transkontinentalen Eisenbahnlinien in den USA oder die Verlegung der Unterseekabel - immer wieder bestätigt wurde.
"Die Weltmachtpolitik ist eng gebunden an die Beherrschung der weltwirtschaftlichen Hochstraßen. (...) Eisenbahn und Telegraf, Dampfschiff und Kabel sind die Werkzeuge, durch die der moderne 'homo sapiens' sich alle Teile der Erde erschlossen und unterworfen hat - sie sind zugleich hervorragende Werkzeuge politischer Macht und die besten Waffen eines neuzeitlichen Staates im Kampfe um die Teilung der Welt."
Eng verknüpft mit der Gründung eines Nationalstaats erschien es vielen Deutschen schon 1848 selbstverständlich, dass sich aus einem geeinten Reich gleichsam naturwüchsig so etwas wie deutsche "Weltpolitik" entwickeln werde. Zahlreiche "Lehnstuhl-Eroberer" glaubten schon lange vor der aktiven deutschen Kolonialpolitik aus der Beobachterposition heraus, die besseren Kolonisatoren zu sein.
Das 1884 durch die Verleihung von "Schutzbriefen" an Abenteuer suchende Händler wie Adolf Lüderitz oder Conquistadoren wie Carl Peters entstandene deutsche Kolonialreich war in seiner Ausdehnung willkürlich und zufällig. Peters räumte später ein,bei der Auswahl der deutschen Kolonien hätten weder "geographische noch ethnographische, landwirtschaftliche, noch handelspolitische, sprachliche, noch klimatische oder militärische Gesichtspunkte" eine Rolle gespielt.
Nicht zuletzt aus Prestigegründen fiel es vielen Kolonialenthusiasten schwer, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Am lautstärksten agitierte der "Alldeutsche Verband" für territoriale Erweiterungen. Deutsche "Weltpolitiker" verwiesen zudem darauf, dass man zwar eine Fläche von 2 953 000 qkm verwaltete, also fünfmal mehr als das Deutsche Reich. Die Niederländer, Portugiesen, Spanier, Belgier, Franzosen und vor allem Briten jedoch besäßen im Verhältnis zum "Mutterland" noch weitaus größere Kolonialreiche. Doch trotz des imperialistischen Konkurrenzdenkens gab es bis 1914 nur selten die Gefahr militärischer Konflikte. Ein Räderwerk an territorialen und politischen Kompensationsgeschäften nahm dem europäischen Wettlauf um Raum und Ressourcen viel an Zündstoff. Durch ihre fortgesetzten Forderungen und das diplomatische Ungeschick gerade ihres Kaisers Wilhelm II. brachten sich die Deutschen dennoch immer wieder in Bedrängnis. Letztlich überwog aber die Einigkeit der europäischen Kolonisatoren bis zum Ersten Weltkrieg, besonders dann, wenn ihr Anspruch von den Kolonisierten, wie im Falle des chinesischen Boxeraufstandes, einmal kollektiv in Frage gestellt wurde.
Das koloniale Dilemma
Unter Bismarck wollte das Deutsche Reich zunächst lediglich als Sicherungsmacht in den Kolonien präsent sein, der offizielle Ausdruck "Schutzgebiete" dokumentierte dies sinnfällig. Dieser Ansatz beruhte auf der Erwartung, dass die lautstarke Koloniallobby - seit 1887 zur "Deutschen Kolonialgesellschaft" zusammengeschlossen - sich in privater Initiative für die Erschließung der neu erworbenen Gebiete einsetzen würde. Die wirtschaftliche Entwicklung und Teile der Verwaltung wurden daher Terrain-, Charter- und Handelsgesellschaften übertragen, denen auch der Aufbau einer Infrastruktur überlassen wurde. Es erwies sich jedoch, dass deutsche Unternehmer in Afrika zwar an Gewinnen, nicht aber an einer koordinierten Entwicklung der Gebiete interessiert waren. Ohne dauerhafte staatliche Investitionen waren die Kolonien weder in lohnende Wirtschafts- noch in Siedlungsgebiete zu verwandeln. Auch vom anhaltenden Widerstand der indigenen Bevölkerung war man überrascht. Die ersten Maßnahmen bestanden daher in einer "Befriedung" der Gebiete - die meist gewaltsam erfolgte und selten dauerhaft gelang - sowie in der medizinischen Vorsorge und Ungezieferbekämpfung, um den Aufenthalt weißer Soldaten, Verwaltungsbeamter und Siedler überhaupt zu ermöglichen. Weil die Anlage von Wasserstellen, Häfen, Straßen oder Eisenbahnen echte Pionierarbeiten waren, wurden sie von Unternehmern und Siedlern als staatliche Aufgaben verstanden. Damit bewegte sich die deutsche Kolonialpolitik von Beginn an in einem Missverständnis zwischen privater und öffentlicher Initiative. Zum Austragungsort dieser Spannungen wurden die Debatten des Reichstags, der über die kolonialen Etats entschied. Manche Parlamentarier lehnten den Imperialismus kategorisch ab, andere hielten das Projekt Kolonien für ein zu riskantes und teures Unternehmen, und sie sahen sich durch die ersten zehn bis fünfzehn Jahre deutscher Kolonialpolitik fast durchgängig bestätigt.
Hinzu kam, dass bald eine Reihe von Unregelmäßigkeiten und höchst anfechtbare Verhaltensweisen der deutschen Kolonisatoren bekannt wurden, vor allem Vergehen gegen die einheimische Bevölkerung. Manche der Soldaten und Verwaltungsbeamten, aber auch Siedler oder Unternehmer glaubten, den Afrikanern mit einem ausgeprägt "herrischen" Auftreten begegnen zu müssen. Zum bekanntesten Kolonialskandal wurde der "Fall Peters": Die Symbolfigur der deutschen Koloniallobby hatte seine schwarze Geliebte mitsamt ihrem Liebhaber aufhängen lassen, was Kolonialgegner nicht nur für seine Absetzung nutzten, sondern auch zu einer Generalabrechnung über die deutschen Kolonialmethoden.
Der um die Jahrhundertwende so eklatante Widerspruch zwischen der fortgesetzten deutschen Behauptung nach einem "Platz an der Sonne" und der tatsächlichen Entwicklung in den Kolonien hatte mehrere Ursachen: - Die Deutschen waren vergleichsweise unerfahren in der praktischen Kolonisation der Tropen. Sie mussten daher viele der Erfahrungen, die Briten oder Franzosen bereits seit längerem besaßen, beschleunigt nachholen. Bismarcks Versuch eines "Kolonialreichs mit beschränkter Haftung" scheiterte.
- Die deutsche Öffentlichkeit begeisterte sich nur zögerlich für die Kolonien. Denn jenseits der exotischen Faszination für das "Fremde" wurden die zukünftigen Entwicklungen selbst an deutschen Stammtischen zum Teil ungemein realistisch eingeschätzt: "Wenn die deutschen Pioniere ihre Kulturaufgabe in Asien, Afrika usw. erfüllt haben werden und man hier glauben wird, der Moment sei gekommen, um die erhofften Glücksgüter zu sammeln, da werden die fremden Völkerstämme sich aufraffen und das Sklavenjoch von sich werfen, und der deutsche Michel hat dann das Nachsehen."
"Kolonisation der Erhaltungsmittel"
Auf dem ersten deutschen Kolonialkongress 1902 wertete der Bonner Professor Ferdinand Wohltmann die ersten 18 Jahre der deutschen Kolonialzeit "gleichsam als die phantasiereichen sorglosen Flitterwochen, die ein jedes lebensfrisches Paar und ein lebensfrohes Volk, das glücklich Kolonien heimführt, durchmachen muß". Nach seiner Auffassung lag die Zukunft der Kolonien "mehr in der Dichte und Kaufkraft der eingeborenen Bevölkerung als in Pflanzungsanlagen".
Am 15. Juli 1902 beleuchtete die "Deutsche Zeitung" am Beispiel Deutsch-Ostafrikas den vermuteten Zusammenhang zwischen Steuereinnahmen, Arbeitsleistung, Konsum, Sicherheit und Infrastruktur: "Sobald Eisenbahn-Verbindungen aus dem Innern zur Küste hergestellt sind, kann die Steuererhebung nicht nur räumlich weiter und weiter ausgedehnt werden, sondern die Steuerschraube kann auch fester angezogen werden. Statt drei Rupien Hüttensteuer können ohne jede Schwierigkeit sechs Rupien von der Familie erhoben werden, da mit der Möglichkeit des Absatzes der Wert der Arbeit ins Vielfache steigt, und der Neger die Bedeutung wirtschaftlicher Vorteile außerordentlich schnell erfaßt. Derart werden sich die Einnahmen der Kolonie von Jahr zu Jahr heben und die geringe Garantiesumme für den Bahnbau mit Leichtigkeit decken." Doch die Bahnbauten kamen nur schleppend voran, erst 1894 wurde ein Teilstück der sogenannten Usambarabahn eröffnet. Die Eisenbahnfrage sollte die gesamte zweite Hälfte der deutschen Kolonialzeit vor 1914 bestimmen.
Tatsächlich tat das Deutsche Reich seit Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts mehr für die Entwicklung der deutschen Kolonien. Die Berliner Kolonialverwaltung wurde aufgewertet, ein Kolonialdirektor eingesetzt, ein Kolonialrat gebildet, Gouverneure und Verwaltungspersonal an eine kürzere Leine genommen. Um die Jahrhundertwende entstand eine Reihe von Einrichtungen, die sich der Erforschung und Entwicklung der deutschen Kolonien annahmen, darunter das 1896 gegründete Kolonialwirtschaftliche Komitee, das vor allem agrarische Grundlagenforschung betrieb. Im Mai 1891 wurde in Dahlem eine Botanische Zentralstelle für die Kolonien eingerichtet, ab 1899 wurden in der Deutschen Kolonialschule bei Witzenhausen "Kulturpioniere" ausgebildet. 1900 entstand in Hamburg das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten, 1902 folgte das Biologisch-Landwirtschaftliche Institut Amani in Deutsch-Ostafrika, um nur einige zu nennen. Denn alle Kolonialmächte waren nun davon überzeugt, dass Imperien nicht mehr primär durch Kraft und Willen, sondern vielmehr durch wissenschaftliche Information zu festigen seien.
Kritisiert wurde jedoch, dass noch immer "zu viel in Theorie und zu wenig in Praxis gemacht"
Ein wirklicher Durchbruch zu einer neuen Kolonialpolitik vollzog sich erst nach einer Reihe blutiger Erhebungen. Wegen der schärferen Gangart bei der Erschließung brachen 1904 sowohl in Deutsch-Südwestafrika als auch in Deutsch-Ostafrika lang anhaltende Aufstände der "Eingeborenen" aus. Eine Rolle spielten dabei offenbar nichteingelöste Zusagen an nomadisierende Völker, ihre Lebensgrundlagen nicht über Gebühr einzuschränken. Die Herero und Nama in Südwestafrika wehrten sich mit strategischem Geschick gegen die deutsche Kolonialmacht, die hierauf - und auf den nahezu zeitgleichen Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika - mit beispielloser Härte reagierte.
Die Kriege bescherten den Kolonien im Deutschen Reich zum ersten Mal wirkliche Aufmerksamkeit. Der entrichtete "Blutzoll" - gemeint waren die getöteten deutschen Siedler und Soldaten - ließ kein Zurück zu einer halbherzigen Kolonialpolitik zu. 1907 wurde zu einem Wendejahr. Nach der so genannten "Hottentottenwahl", die im Reichstag eine kolonialfreundliche Mehrheit schuf, führte der Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg ein modernisiertes koloniales Management ein. Nicht mehr nur Kritiker wie Matthias Erzberger, der noch 1906 eine vernichtende "Kolonial-Bilanz" vorgelegt hatte, befassten sich mit den Kolonien.
Immerhin wurden die afrikanischen Arbeitskräfte in der Folge besser behandelt. Gegen 1913 waren in den deutschen Kolonien ca. 150 000 Afrikaner getauft, und 120 000 lernten an deutschen Schulen. Auch wurden bis 1914 in den deutschen Kolonien etwa 3 754 Kilometer Eisenbahnen gebaut. Trotzdem blieb die Kolonialpolitik ein unrentables Zuschussgeschäft, lediglich Togo trug sich finanziell selbst. Schätzungen zufolge wurden von der Gründung bis zum Ausbruch des Krieges 646 Millionen Reichsmark für die afrikanischen Kolonien aufgewandt. Die Einfuhr an Sisal, Baumwolle, Kaffee, Erdnüssen, Kopra oder Bananen war auf dem Weltmarkt leicht zu kompensieren.
Koloniale Folgen
Als Deutschland im Juli 1911 nach der zweiten Marokko-Krise in Gestalt von Neu-Kamerun ein Kompensationsobjekt von immerhin 280 000 Quadratkilometern hinzugewann, setzte dies Erwartungen an ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialgebiet frei. Die Vorstellung wurde nach 1914 zu einem deutschen Kriegsziel. Doch nach Ausbruch des Krieges drangen Franzosen, Briten und ihre Dominions in die deutschen Kolonien ein und versuchten, durch die Verdrängung eines lästigen Konkurrenten ihre Sicherheitsinteressen zu befriedigen.
Aus den deutschen Kolonien wurden laut Versailler Vertrag Mandatsgebiete des Völkerbundes. Nicht unbedingt zu ihrem Vorteil, denn der Erste Weltkrieg hatte die finanziellen Spielräume für eine Gestaltung der kolonialen Ökonomie stark eingeschränkt. Während Briten und Franzosen sich nach und nach auf ein investitionsintensives "colonial development" einließen - dadurch aber Befreiungsbewegungen eher beförderten als unterdrückten -, war Deutschland zumindest von diesen Lasten befreit. So konnte Carl von Ossietzky 1928 in der "Weltbühne" schreiben: "Deutschland ist unter allen Ländern des Krieges das einzige, das mit Fug und Recht behaupten kann, der Friedensvertrag habe ihm Nutzen gebracht. Es hat zwar Gebiete verloren, es muß schwere Reparationen leisten, und noch ist ein Stück Rheinufer besetzt. Dafür aber ist es aus der Sphäre des Imperialismus heraus, und es hat kein Deutschland in Übersee zu verteidigen."
Die Spitze dieser Behauptung richtete sich deutlich gegen den Kolonialrevisionismus. Denn nichts traf die Deutschen nach 1919 so empfindlich ins Herz wie die Behauptung der Alliierten, dass sie sich kolonisatorisch als unfähig erwiesen hätten. Die Weimarer Nationalversammlung legte im März 1919 mit 414 gegen sieben Stimmen Protest ein und forderte die "Wiedereinsetzung Deutschlands in seine kolonialen Rechte". Doch weder vier Millionen Unterschriften noch der Verweis auf die "Treue" der ostafrikanischen Askari vermochten den Artikel 119 des Versailler Vertrages zu verhindern, in dem es hieß: "Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche in bezug auf seine überseeischen Besitzungen."
Die deutsche Kolonialzeit endete damit zwar als Realgeschichte, als Phantasie- und Projektionsgeschichte jedoch noch lange nicht. In Gestalt der "Farbigen" unter den belgischen und französischen Besatzungssoldaten im Rheinland schien Afrika ab 1920 sogar bedrohlich nahe zu rücken. Deutsche Nationalisten sahen ihr Land nun selbst zu einer Kolonie herabgewürdigt und werteten die militärische Verwendung farbiger Truppen als eine schwere Gefahr für die ganze "weiße Rasse", die aller kolonialen Erfahrung ins Gesicht schlage.
Die Debatte, die später um die so genannten "Rheinlandbastarde" fortgeführt wurde, war symptomatisch für die zunehmende Vermischung des geopolitischen Denkens mit rassischen Elementen. Die deutsche Koloniallobby vollzog diese Wandlung jedoch nur teilweise mit. Sie bildete eine kleine, aber gut organisierte Minderheit im politischen Spektrum Weimars, die es verstand, die Kolonialfrage immer wieder zu einem Prüfstein für die internationale Wiederanerkennung der Deutschen zu machen. Dabei stützten sie sich auf die Erwartung, dass die verbliebenen Kolonialmächte mit der Erschließung der Tropen langfristig überfordert sein würden. Die Aufarbeitung des europäischen "Ergänzungskontinents" sollte nun vielmehr zu einem gesamteuropäischen Projekt der Völkerverständigung werden. Noch im Schuman-Plan vom Mai 1950 klang diese eurafrikanische Perspektive an.
Bei vielen Deutschen hinterließen die Kolonien in Afrika eine Art von "Phantomschmerz". Bis in die frühen vierziger Jahre hinein wurde die Hoffnung genährt, dass sie wieder in Besitz genommen werden könnten. Doch langfristig überwogen diejenigen Kräfte, die Afrika mitsamt seiner unvollständig angestoßenen "Entwicklung" wieder sich selbst überlassen wollten. Die deutsche Wirtschaft verschmerzte den Verlust der Kolonien rasch, stellte sich auf die neuen Begebenheiten ein und begann, es als einen Vorteil zu sehen, dass Deutschland nicht mehr kolonial belastet war. Die industrielle Forschung forcierte die Entwicklung synthetischer Rohstoffe, die Deutschland von kolonialen Ressourcen unabhängig machen sollten. Geopolitiker orientierten sich neben Afrika auf andere Expansionsgebiete und empfahlen erneut die "friedliche Durchdringung" des Balkans bis zum Nahen Osten. Hitler und seine NS-Bewegung verfolgten dagegen den Plan, deutschen Lebensraum im Osten Europas zu erobern. Nach der "Machtergreifung" schaltete er die Kolonialbewegung gleich, nutzte sie zu außenpolitischen Strategiespielen und "wickelte" sie nach Beginn des Russlandfeldzuges rasch "ab". "Als das deutsche Kolonialreich auf dem Reißbrett fast fertiggestellt und perfekt organisiert war," bilanzierte Klaus Hildebrand, "da beendete Anfang 1943 ein im Auftrag Hitlers von Martin Bormann erlassener Befehl jede Tätigkeit auf kolonialem Gebiet."
Gerade dadurch konnte die deutsche Afrika-Sehnsucht auch in der zweiten Nachkriegszeit noch einmal aufflackern. Manche Autoren sahen in Afrika auch nach 1945 noch "Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1". Andere blickten dagegen mit gemischten Gefühlen auf die von den Europäern angestoßenen Wandlungsprozesse.
Spielt Afrika deshalb keine Rolle mehr für die Deutschen? Gelegentlich sieht man an alten Hauswänden noch einen verblichenen Hinweis auf einen "Kolonialwarenladen". Auch können zahlreiche Museen, botanische Gärten oder Forschungseinrichtungen auf eine koloniale Vorgeschichte zurückgeführt werden. In Hamburg oder Berlin lässt sich an vielerlei Spuren nachverfolgen, dass Afrika einmal ein reichhaltiger und dauerhafter Phantasieraum der Deutschen war.