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Äthiopien | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Äthiopien

Benedikt Kamski

/ 9 Minuten zu lesen

Nach dem Waffenstillstand von November 2022 mit der „Tigray People’s Liberation Front“ (TPLF) sieht sich die äthiopische Regierung mit Gebietsstreitigkeiten und zunehmender Gewalt in den Bundesstaaten Amhara und Oromia konfrontiert. Gleichzeitig verschärfen sich die Konflikte mit den Nachbarländern Eritrea und Somalia.

16.12.2021: Ein durch Rebellen der "Tigra People'S Liberation Front" zerstörtes Militärfahrzeug in der Nähe von Dessie. (© picture-alliance, AA)

Aktuelle Situation

Das Abkommen von Pretoria beendete im November 2022 die zweijährigen Kämpfe in Afar, Amhara und Tigray zwischen der Tigrayer Volksbefreiungsfront (TPLF) und der äthiopischen Bundesregierung mit ihren Verbündeten. Seit Mitte 2023 haben sich die Konflikte in der Amhara-Region verschärft, insbesondere durch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den amharischen Fano-Milizen und Sicherheitskräften der Regierung. Die Konflikte in der Region spiegeln sich auch in den Spannungen innerhalb der regierenden Wohlstands-Partei (Prosperity Party – PP) wider, vor allem zwischen der amharischen und der oromischen Fraktion. Die fragmentierte Struktur der Fano-Milizen im Bundesstaat Amhara verhindert Verhandlungen und erschwert so eine friedliche Lösung. Gleichzeitig führt die Oromo-Befreiungsarmee (OLA) ihren bewaffneten Kampf gegen die Zentralregierung fort. Im Jahr 2022 scheiterten Friedensverhandlungen, und das einseitige militärische Vorgehen der Regierung und regionaler Sicherheitskräfte in Oromia stößt auf wachsenden Widerstand in der Bevölkerung.

Der Nationale Dialog und die Umsetzung des Rahmenwerks für eine Übergangsjustiz, die im Mai 2024 durch das Parlament beschlossen wurden, zeigen wegen der anhaltenden bewaffneten Konflikte und des zunehmend autoritären Regierungsstil kaum Wirkung. Im Oktober 2024 suspendierte die nationale Wahlbehörde die Registrierung von elf Parteien. Auch der Status der TPLF als politische Partei bleibt trotz Aufhebung des Verbots als terroristische Organisation unklar. Der Rückhalt der Regierung, insbesondere in den Regionen, die Abiy Ahmed während des Krieges mit Tigray und seit seinem Machtantritt maßgeblich unterstützten, schwindet zunehmend. Die oppositionelle Nationale Befreiungsfront von Ogaden (ONLF) und der Oromo-Föderalistische Kongress (OFC) kritisierten bereits öffentlich die mangelnde Inklusivität und Transparenz der von der Regierung initiierten und geführten nationalen Friedensprozesse. Die demokratische Legitimität der PP ist zudem brüchig. Bei den Parlamentswahlen 2021 konnten nicht alle Regionen abstimmen. In Tigray wurden keine Nachwahlen durchgeführt. In Oromia konnte die PP nur deshalb eine klare Mehrheit erringen, weil oppositionelle Parteien nicht zur Wahl antraten.

Äthiopiens Wirtschaft steht unter massivem Druck durch die Auswirkungen des Tigray-Kriegs, verstärkt durch die COVID-19-Pandemie und den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank drängten auf eine Liberalisierung des Wechselkursregimes, um die Finanzierung von Reformen und eine Umstrukturierung der hohen Schulden zu ermöglichen. Die Regierung hat daher seit Mitte 2024 massive Sparmaßnahmen eingeleitet, doch Korruption und Missmanagement könnten die angestrebten Reformziele gefährden. Armutsreduzierende Programme werden vernachlässigt, während hohe Ausgaben für Prestigeprojekte, wie den Bau zweier Paläste in Addis Abeba, das Budget belasten und die Reformziele untergraben. Gleichzeitig verschlechtern Steuererhöhungen, die Kürzung von Subventionen für Treibstoff, Strom und Wasser sowie die hohe Inflation die sozioökonomische Situation. Zusätzlich verschärfen sich ethnische und religiöse Spannungen, sowohl zwischen Muslimen und Christen als auch innerhalb der christlich-orthodoxen Tewahedo-Kirche (EOTC).

Außenpolitisch ist Äthiopien zunehmend isoliert. Die strategische Allianz mit Eritrea ist in Folge des einseitigen Friedensschlusses mit der TPLF zerbrochen, und die Spannungen mit Somalia und Ägypten verschärfen sich. Grund dafür ist eine Absichtserklärung zwischen Äthiopien und der de-facto autonomen Republik Somaliland, die Äthiopien Zugang zu Häfen am Roten Meer im Austausch für die Anerkennung der Unabhängigkeit Somalilands vorsieht. Diese Ambitionen Äthiopiens werden von Nachbarstaaten als Bedrohung wahrgenommen. Eritrea, Ägypten und Somalia reagierten mit einem strategischen Bündnis. Kairo hat ein Sicherheitsabkommen mit Mogadischu geschlossen, das u.a. die Stationierung ägyptischer Truppen in Interner Link: Somalia vorsieht. Im Dezember 2024 verständigten sich Äthiopien und Somalia in der Ankara-Deklaration darauf, dass „ein gesicherter Zugang Äthiopiens zum Meer“ bei Wahrung der territorialen Integrität Somalias „potenziell vielfältige Vorteile“ für beide Seiten habe.

Die humanitäre Lage in Äthiopien ist katastrophal, auch wenn mittlerweile Hilfslieferungen die ehemaligen Kriegsgebiete im Norden erreichen. Doch Teile von Nord-Tigray und Amhara bleiben aufgrund anhaltender Kampfhandlungen schwer zugänglich. Zudem wirken die Folgen des Klimawandels wie ein Brandbeschleuniger für die Konflikte. Anhaltende Dürren und heftige Überschwemmungen setzen Kleinbauern und nomadischen Viehhirten massiv unter Druck. Im Jahr 2024 waren bis zu 21 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Zahl der Binnenvertriebenen, die durch Konflikte und klimatische Extrembedingungen ihre Heimat verloren haben, ist 2024 auf 4,4 Mio. gestiegen.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

In Äthiopien, dem mit fast 125 Mio. Einwohnern bevölkerungsmäßig zweitgrößten afrikanischen Staat (nach Nigeria mit rd. 220 Mio.), leben über 80 ethnische Gruppen. Die Herrschaft von Kaiser Menelik II (1889 bis 1913) war geprägt von der territorialen Expansion des Königreichs Shewa und der Konsolidierung eines zentralisierten Staates, die die Grundlage für eine straffe zentralistische Führung legte. Dieses zentralistische System hielt das Land sowohl während des Kaiserreichs (bis 1974) als auch unter der prosowjetischen Diktatur von Mengistu Haile Mariam (1974–1991) zusammen. Diese repressive und gewaltträchtige Vergangenheit prägt bis heute die zerklüftete Konfliktlandschaft des Vielvölkerstaates.

Ein zentraler Konfliktgrund liegt im Versuch, aus einem Mosaik vielfältiger Ethnien, Sprachen und Religionen ein einheitliches Bild eines Nationalstaates zu formen. Früher wurde Äthiopien maßgeblich von der christlichen Hochlandkultur der Tigrayer und Amharen geprägt, die als dominierende Struktur fungierte. Mit dem Aufstieg eines neuen Oromo-Nationalismus hat sich diese Vormachtstellung verschoben, ohne jedoch eine kohärente nationale Integration der unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu erreichen. Statt Einheit zu schaffen, haben sich die Risse vertieft: Ethnien, insbesondere die Amharen, fühlen sich ausgegrenzt, und der Kampf um politische Teilhabe und kulturelle Anerkennung wird erbittert geführt.

Die Eskalation ethnischer Konflikte hat ihre Ursache daher vornehmlich in gebrochenen Versprechen: Politische Teilhabe wurde nicht verwirklicht, und die historische Dominanz der TPLF wich der Vorherrschaft der Oromo-PP. Dies befeuerte neue ethnische Rivalitäten. Gleichzeitig hat sich systemische Korruption weiter verfestigt und untergräbt die Realisierung der wirtschaftlichen Versprechen der Regierung.

Ein weiterer Brennpunkt ist die wachsende Rivalität um den Status der Hauptstadt Addis Abeba. Oromo-Nationalisten sehen die Stadt als historisches Zentrum eines möglichen Oromo-Staates. Amharen hingegen betrachten sie als kulturelles Erbe der Solomonischen Dynastie unter Kaiser Haile Selassie (1930-1974). Diese gegensätzlichen Ansprüche befeuern die Konflikte weiter und deuten auf eine weitere Eskalation hin.

Die Konflikte in Oromia und Amhara, die wachsenden Spannungen innerhalb der Übergangsregierung von Tigray, neue Allianzen in der Somali-Region gegen die Regierung in Addis Abeba – all dies sind gefährliche Zeichen für die Einheit des Landes. Einige Beobachter warnten bereits im Jahr 2019 davor, dass Äthiopien das Schicksal zerfallender Vielvölkerstaaten, wie der Sowjetunion oder Jugoslawiens in den 1990er Jahren, erleiden könnte.

Äthiopiens einstige Rolle als Stabilitätsanker und Führungsmacht am Horn von Afrika gerät seit dem Tigray-Krieg zunehmend ins Wanken. Eritrea, eben noch Bündnispartner in dem Krieg, unterstützt nun offenbar regierungsfeindliche Milizen in der Amhara-Region. Auch die gescheiterten Verhandlungen zwischen Interner Link: Ägypten und Äthiopien über die bevorstehende Inbetriebnahme des „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (GERD) verschärfen die regionalen Spannungen. Die aggressive Rhetorik der äthiopischen Regierung, Zugang zum Roten Meer zur Staatsräson zu erklären, hat die Lage zusätzlich destabilisiert. Beleg dafür ist die Stationierung ägyptischer Truppen in Somalia.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Der Amtsantritt von Ministerpräsident Abiy Ahmed im April 2018 markierte einen Wendepunkt in der äthiopischen Politik. Er kündigte einen Kurswechsel an – weg von den autoritären Strukturen der von der TPLF dominierten „Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front“ (EPRDF), die seit 1991 regiert hatte. Abiy, der als Abgeordneter und führender Geheimdienstler Teil des Systems gewesen war, strebte mit der Gründung der Wohlstands-Partei (PP) und der Auflösung der EPRDF im Jahr 2019 einen Neuanfang an. Die neue Einheitspartei sollte die Dominanz der TPLF beenden, Vertreter aller Regionen einbeziehen und bislang marginalisierten ethnischen Gruppen mehr Mitspracherecht verschaffen. Das erste Jahr seiner Amtszeit war von Hoffnung geprägt. Politische Gefangene wurden freigelassen und verbotene Parteien legalisiert.

Doch die politische Liberalisierung hatte auch nicht-beabsichtigte Folgen. Dutzende ethnische Gruppen bekamen zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Ansprüche auf Land, Ressourcen und politische Einflussmöglichkeiten zu artikulieren und machten ihrer über Jahrzehnte angestauten Frustration Luft. Die als „Abiymania“-Phase (2018–19) bezeichnete Zeit, in der Abiy den Friedensnobelpreis 2019 erhielt, überstrahlte berechtigte Forderungen nach einem Übergangsjustizprozess oder einer Übergangsregierung für eine gerechte Neuordnung nach der EPRDF-Ära. Gleichzeitig wuchsen die Repressionen gegen politische Gegner und zivilgesellschaftliche Akteure, was die Reformhoffnungen vieler enttäuschte.

Zudem nahmen ethnische Spannungen und Gewaltkonflikte sprunghaft zu. In Teilen des Landes brach die öffentliche Ordnung zusammen (Ayele/Günther 2020). Als die TPLF, die sich von den Reformen bedroht fühlte, den Beitritt zur im Dezember 2019 gegründeten PP verweigerte, führte dies zum Bruch. Nach dem Scheitern der Vermittlungsbemühungen wurde die TPLF-Führung gezielt dämonisiert, und die Tigrayer pauschal für die wirtschaftlichen und sozialen Missstände im Land verantwortlich gemacht. Das Zerwürfnis eskalierte im November 2020 zum Tigray-Krieg, der Schätzungen zufolge in nur zwei Jahren bis zu 600.000 Todesopfer forderte.

Nach dem Friedensabkommen von Pretoria hat die äthiopische Regierung unter internationalem Druck einen Prozess der Konfliktaufarbeitung und Versöhnung eingeleitet. Doch dem staatlich gelenkten Prozess mangelt es an Glaubwürdigkeit. Er wird als Versuch wahrgenommen, vor allem internationalen Erwartungen zu genügen. Der Bericht der „International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia” (ICHREE) vom Oktober 2023 bestätigt diese Bedenken. Auch die fragwürdige Auswahl von Führungspersonen und Akteuren schwächen die Erfolgsaussichten. Besonders schwierig gestaltet sich die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt während des Krieges. Gesellschaftliche Stigmatisierung und verharmlosende Rhetorik erschweren nicht nur den Dialog, sondern könnten die Bearbeitung sogar unmöglich machen.

Externe Akteure spielen eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche und damit auch politische Stabilisierung Äthiopiens. Doch das Vertrauen internationaler Investoren ist gesunken, besonders chinesische Kapitalgeber ziehen sich zurück. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben sich mittlerweile zu einem der wichtigsten Geldgeber der Regierung entwickelt. Doch die Zuwendungen fließen in Schattenhaushalte ohne parlamentarische und öffentliche Kontrolle. Zwar konnten die Spannungen mit westlichen Gebern, wie den USA und der EU, durch das Pretoria-Abkommen verringert werden, doch die weitere Entwicklung wird von der Umsetzung makroökonomischer Reformen, der Aufarbeitung der Konfliktvergangenheit und der Verfolgung von Kriegsverbrechen abhängen.

Geschichte des Konflikts

Die staatlichen Strukturen Äthiopiens waren seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durchgehend autoritär geprägt. Eine weitere Konstante sind Machtzentralisierung, eine stark ethnisierte Politik und repressive Herrschaftsformen. Die Revolution von 1974 brachte die ethnische Unterdrückung unter dem amharisch dominierten Regime von Kaiser Haile Selassie ans Licht. Unter der marxistisch orientierten Derg spielten ethnische Identitäten nur eine untergeordnete Rolle. Wiederkehrende Hungersnöte trugen maßgeblich zum Sturz des Kaiserreichs 1974 und des Derg-Regimes 1991 bei.

Die von 1991 bis 2019 regierende Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) versuchte, die Machtzentralisierung zu überwinden. Mit der neuen Verfassung von 1996 wurde das Konzept des „Ethnischen Föderalismus“ zur Grundlage des Staates (Turton 2006). Die ethnische Zugehörigkeit stand plötzlich im Zentrum der politischen und staatlichen Organisation. Doch im Gegensatz zu den an die Reform geknüpften Erwartungen befeuerten die neuen Strukturen die ethno-politischen Ideologien sowie Macht- und Ressourcenkonflikte, die die Entwicklung Äthiopiens seit Jahrhunderten prägen. Nun waren alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften bestrebt, die Macht und Autonomie der von ihnen bewohnten und kontrollierten Territorien zu festigen und ihren Einfluss auf die zentralstaatlichen Institutionen zu erhöhen.

Anfang der 2010er Jahre wurde der ethnische Föderalismus durch die Reformagenda eines „entwicklungsorientierten Kapitalismus“ (amharisch: lematawi habt) ergänzt, die Äthiopien zu einer politischen und wirtschaftlichen „Renaissance“ führen sollte. Das Modell des Entwicklungsstaates zielte darauf ab, die Wirtschaft zentralstaatlich „von oben“ zu steuern. Strategische Investitionen flossen gezielt in Schlüsselbereiche, wie die Zuckerindustrie und Wasserkraft, um das Land zu transformieren. Die Regierung sprach von einem „demokratischen Entwicklungsstaat“, doch Beobachter sahen darin ein autoritär agierendes Regime (Kamski 2019). Autoritäre Maßnahmen wurden zunehmend durch den Vorrang der Armutsbekämpfung gerechtfertigt (Fana 2014).

Doch es gelang nicht, den Gegensatz zwischen dynamischem Wirtschaftswachstum und weiterhin großer Armut zu überbrücken. Die zunehmende Unzufriedenheit zeigte sich u.a. in den Protesten der Oromo (2014–2018) und der Amharen (ab 2016). Auch innerhalb der seit 2012 von Hailemariam Dessalegn geführten, aber weiterhin von der TPLF dominierten Regierung nahmen die sozialen und politischen Spannungen zu. Reformorientierte Stimmen in der „Demokratischen Organisation des Oromo-Volkes” (OPDO) und der „Nationalen Demokratischen Bewegung der Amhara“ (ANDM), beides Koalitionsparteien der EPRDF, gewannen an Einfluss und ebneten schließlich 2018 den Weg für die Wahl von Abiy Ahmed.

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ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser-Institut (ABI) der Universität Freiburg in Deutschland und Partner einer internationalen Beratungsfirma mit Büros in Paris, Addis Abeba und Nairobi. Er ist Mitherausgeber des jährlich erscheinenden „Africa Yearbook: Politics, Economy and Society South of the Sahara“ (De Gruyter Brill). Seit 2012 beschäftigt er sich in seiner Forschung mit Themen der wirtschaftlichen Entwicklung und politischen Ökonomie am Horn von Afrika und lebt seit 2018 in Ostafrika.