Die aktuelle Situation
Äthiopien hat unter seinem neuen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed Ali, der seit April 2018 im Amt ist, einen erstaunlichen Wandel erlebt. Der noch junge Politiker (Jahrgang 1976) leitete tiefgreifende Reformen ein, um das seit Jahrzehnten bestehende ungerechte und verkrustete Staats- und Gesellschaftssystem aufzubrechen. Außenpolitisch brachte Abiy die Neuausrichtung der Eritrea-Politik Äthiopiens auf den Weg. Er reaktivierte die seit dem Bürgerkrieg von 1998 höchst angespannten diplomatischen Beziehungen zum früheren Bruderland und beendete den "kalten Krieg" zwischen beiden Ländern. Dafür wurde er 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Innenpolitisch setzte Abiy ebenso erstaunliche Reformen in Gang, darunter weitreichende Amnestie-Angebote an ehemalige Exil-Äthiopier, die Vergabe wichtiger Posten an ehemalige Regimekritiker sowie die Freilassung von politischen Gefangenen. Gleichzeitig beendet Abiy Ahmed, mit dem erstmals ein Angehöriger der muslimischen Oromos an der Spitze der Regierung steht, die tigrinische Dominanz innerhalb der "Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front" (EPRDF). Die Partei, die lange Zeit nahezu uneingeschränkte Macht an der Spitze des Staates und in den Bundesländern hatte, löste sich im November 2019 auf Betreiben Abiys vollständig auf. Dies provozierte nicht nur wachsenden Widerstand auf Seiten der Tigriner, die sich als einzige der neu gegründeten Nachfolgepartei "Prosperity Party" nicht anschlossen, sondern bewirkten auch eine Wiederbelebung der Konkurrenzkämpfe zwischen Oromos, Amharen und anderen Volksgruppen, die nun einen deutlich größeren Anteil in den neuen Institutionen haben wollen. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit geschätzten 1.500 Toten und etwa 3 Mio. Binnenvertriebenen seit Abiys Amtsantritt sind die traurige Konsequenz.
Konflikte brechen in nahezu allen Regionen des Landes aus. Von besonderer Bedeutung war zuletzt das Streben der Sidama-Region nach Autonomie. Eine im November 2019 durchgeführte Volksbefragung brachte eine klare Mehrheit für die Abspaltung der Region vom südlichen Bundesland "Southern Nations, Nationalities and Peoples" und die Gründung eines eigenen Bundeslandes. Dieser Schritt wurde im Juni 2020 eingeleitet. Beobachter befürchten, dass die Schaffung eines eigenen Bundesstaats der Sidama weitere Autonomiebestrebungen, wie etwa in der südöstlichen Ogaden-Region, befeuern könnte – mit absehbar verheerenden wirtschaftlichen Folgen.
In dieser angespannten Situation sollten erst im Mai, dann im August 2020 nationale Parlamentswahlen stattfinden, die ein wichtiger Gradmesser für die Akzeptanz der Politik des neuen Premierministers wären. Doch nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie entschied die Regierung, die Wahlen zu verschieben. Die Verlängerung der Legislaturperiode wirft allerdings verfassungsrechtliche Probleme auf. Sollten nicht alsbald Wahlen durchgeführt werden, könnte der Eindruck entstehen, dass die Regierung ohne demokratische Legitimation weiterhin an der Macht zu bleiben gedenkt. In diesem Fall ist ein Wiedererstarken des gewaltsamen Widerstands gegen die Regierung zu befürchten, und zwar sowohl von den alten Eliten als auch von denjenigen Kräften, denen die Neuerungen nicht weit genug gehen.
Daneben bedrohen Verteilungskonflikte den gesellschaftlichen Frieden in Äthiopien. Laut Regierungsangaben vom August 2017 sind etwa 8,5 Mio. der insgesamt mehr als 100 Mio. Äthiopier auf Nahrungsmittelhilfen und medizinische Unterstützung angewiesen. Die Covid-19-Pandemie wird sich hier verschärfend auswirken. Zudem haben mehrere Dürrejahre und eine seit 2019 anhaltende Heuschreckenplage die ohnehin schon schwache Landwirtschaft weiter geschädigt. Der notwendige gemeinsame Kampf gegen die apokalyptische Zerstörung erntereifer Felder wird durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in den betroffenen ländlichen Gebieten Äthiopiens sowie in den Nachbarstaaten Somalia, Südsudan und Jemen weitgehend verhindert. Viehbauern sind überdies von schwindenden Wasserstellen für ihre Herden betroffen. Kämpfe zwischen örtlich verwurzelten und nomadisierenden Bauern sind die Konsequenz – wiederum mit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Toten.
Ursachen und Hintergründe des Konflikts
Die jahrzehntelange Dominanz der Tigrinische Volksbefreiungsfront (TPLF) sowie die teils rücksichtslose Modernisierungsstrategie der früheren Regierungen haben politischen, sozialen, ethnischen sowie religiösen Konflikten vielerorts Vorschub geleistet. Einer von vielen Brennpunkten war dabei die Hauptstadt Addis Abeba, die aufgrund ihres starken Bevölkerungswachstum zunehmend in die umliegenden oromischen Gebiete hineingeplant wurde, ohne den dortigen Bewohnern entsprechende Kompensation für Landenteignung anzubieten. Die tigrinisch und somit christlich-orthodox dominierte Regierung stieß damit auf den wachsenden Widerstand der überwiegend muslimischen Oromos, deren Hauptvertreter – die Oromo Democratic Party – als Teil der EPRDF von vielen als kooptierte Scheinvertretung empfunden wurde.
Im Winter 2017/2018 schlugen die Anti-Regierungsproteste landesweit erneut in gewaltsame Auseinandersetzungen um. Als Reaktion kündigte der damalige Premierminister Hailemariam Desalegn am 15. Februar 2018 überraschend seinen Rücktritt an. Desalegn, ein protestantischer Angehöriger der südlichen Volksgruppe der Wollayta, hatte 2012 nach dem Tod des Langzeitherrschers Meles Zenawi – einem Tigriner – die Regierungsgeschäfte übernommen. Sein Nachfolger wurde der Oromo Abiy Ahmed Ali.
Zentrales Problem sind seit Abiys Reforminitiativen die Verteilungskämpfe innerhalb der (ehemaligen) EPRDF, die über Jahrzehnte zwar autoritär und bisweilen diktatorisch regiert, damit aber auch das Land eisern zusammengehalten hat. Mit dem Wegfall dieser Klammer radikalisieren sich nun einige ethnische und religiöse Gruppierungen. Unter den veränderten Bedingungen wird das lange gepriesene Modell des "ethnischen Föderalismus", gemäß dem die größten Volksgruppen auf nationaler Ebene im Rahmen der EPRDF zusammenarbeiten und sich auf regionaler Ebene selbst verwalten, zum Konflikttreiber. Denn nun versuchen einflussreiche Akteure auf allen Seiten, das jeweils größte Stück der Macht für sich selbst zu sichern.
Tigriner und Amharen sind überwiegend christlich-orthodoxen Glaubens; ihre Eliten betonen die Tradition und Bedeutung Äthiopiens als Wiege des Christentums. Die Oromos wiederum sind überwiegend Muslime. Ihr Erstarken empfinden Tigriner und Amharen deshalb als Bedrohung ihrer kulturellen Dominanz und Identität. Dabei haben religiös erscheinende Auseinandersetzungen zumeist eher sozio-ökonomische Hintergründe – nicht theologische Streitigkeiten sind das Problem, sondern die gruppenbezogenen Bevorzugungen bzw. Benachteiligungen bestimmter ethnischer Identitäten.
Insgesamt leben in Äthiopien etwa 80 ethnische Gruppen. Obwohl Tigriner und Amharen der gleichen Konfession angehören, bestehen Rivalitäten auch zwischen diesen beiden Gruppen mit teils langer Tradition, die nun wieder neu hervortreten. Ihre politischen Hauptvertretungen, die Amhara National Democratic Movement (seit 2019 umbenannt in Amhara Democratic Party, ADP) und die Oromo People’s Democratic Organisation (nun die Oromo Democratic Party, ODP) hatten gemeinsam Abiy ins Amt des Ministerpräsidenten gewählt. Nun sehen sie sich aber gegenseitig wieder eher als Konkurrenten. Gegenseitige Vorwürfe über Manipulationen und die Involvierung in begangenes Unrecht sind weit verbreitet.
Die anhaltenden Kämpfe und territorialen Streitigkeiten wirken sich fatal auf die Ernährungssicherheit im Land aus. Hungersnöte sind in vielen Regionen wieder auf dem Vormarsch. Zudem leidet die Kaffeeproduktion – Äthiopiens zweitwichtigste Devisenquelle nach den von Ethiopian Airlines erwirtschafteten Einnahmen – unter dem fortschreitenden Klimawandel. Dazu kommen die Folgen der rigorosen Bodenpolitik der früheren Regierung. Sie hat riesige Landflächen an internationale Investoren verkauft, während lokale Bauern als landlose Arbeiter zu Hungerlöhnen bei den internationalen Agrarbetrieben – darunter einige aus Europa – anheuern mussten. Die damit einhergehende systematischen Vertreibung von Bauern von ihrem angestammten Land ("Landgrabbing") verschärfte sich noch durch die neu errichteten Großdämme entlang der Flüsse, insbesondere des Blauen Nils. Wegen der für Sommer 2020 geplanten Inbetriebnahme des "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (GERD) verschärfen sich die politischen Spannungen mit den anderen Anrainerstaaten, insbesondere Ägypten, in Bezug auf die Verteilung des Nilwassers.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Abiys Reformeifer zum Abbau bestehender Ungerechtigkeiten und zur Stärkung der nationalen Einheit hat viele drängende Probleme zur Sprache gebracht. Zugleich sind sie aber nur ein erster Schritt, denn der dauerhaften Lösung der verschiedenen Konflikte stehen nach wie vor starke innergesellschaftliche Kräfte entgegen. Nicht nur die tigrinischen Vertreter wehren sich gegen eine Einschränkung ihrer früheren Machtfülle, auch Amharen und Oromos wollen bei den neu austarierten Machtstrukturen nicht zu kurz kommen. Hierbei erweist sich insbesondere das von Meles Zenawi ererbte Modell des "ethnischen Föderalismus" als Achillesferse. Ein Aufbrechen der nach ethnischen Kriterien aufgeteilten Macht würde zwangsläufig zu neuen Verteilungskämpfen führen.
Die Zusammenarbeit der tigrinischen, amharischen und oromischen Vertreter ist somit für eine Befriedung zentral, ebenso wie mäßigende Worte aller Seiten in öffentlichen Reden. Befürchtungen einiger Beobachter, Äthiopien könne ansonsten ein ähnliches Schicksal erleiden wie die in den 1990er Jahren zerfallenden Vielvölkerstaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens, werden im Allgemeinen zwar zurückgewiesen, doch die Zunahme ethnisch motivierter Spannungen in den vergangenen Jahren zeigt, dass vermehrte Autonomie- und Sezessionsbestrebungen nicht gänzlich auszuschließen sind. Eine wichtige integrative Rolle könnte die im Oktober 2018 gewählte erste äthiopische Staatspräsidentin Sahle-Work Zehde spielen, deren Amt ähnlich dem deutschen Bundespräsidenten hauptsächlich repräsentative Funktion hat.
Ausländische Unterstützung ist zentral für die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes. Nur wenn Abiy wirtschaftspolitisch erfolgreich ist, wird er auch die notwendige Unterstützung für seine politischen Reformen erhalten. Vom Ausland vermittelnde Diplomatie wird überdies bei Äthiopiens außenpolitischen Konflikten von Nöten sein, insbesondere was die friedliche Lösung des Nilwasserkonflikts mit Ägypten angeht. Der wachsende Einfluss Chinas, dessen Silk Road-Angebote und militärische Kooperationen bis nach Äthiopien reichen, lassen allerdings fraglich erscheinen, in welchem Umfang westliche Staaten weiterhin Äthiopiens engste Verbündete sein werden.
Geschichte des Konflikts
Das fast 1.000 Jahre strikt zentralistisch regierte äthiopische Kaiserreich (ca. 980-1974) litt von Anfang an unter den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen. Diese verschlimmerten sich während der brutalen Militärdiktatur des Derg-Regimes unter Mengistu Haile Mariam (1974-1991). Als das Regime kollabierte, sicherten sich insbesondere Tigriner die zentralen Positionen im neuen Machtapparat. Die anderen Bevölkerungsgruppen sahen sich an die Seite gedrängt.
Äthiopien war zuletzt ein Land mit zwei Gesichtern: einerseits eine boomende Wirtschaft mit hohen Wachstumsraten, internationalen Investitionen und Prestigeprojekten, andererseits Millionen verarmter Menschen, die unter Mangelernährung und ungenügender Gesundheitsversorgung in den ländlichen Landesteilen leiden. Grund dafür sind die jahrzehntelangen kleptokratischen Machtverhältnisse sowie die zahlreichen militärischen Konflikte. Die EPRDF als allgegenwärtige Staatspartei kontrollierte alle politischen und wirtschaftlichen Prozesse, sowohl auf nationaler als auch föderaler Ebene. Innerhalb der EPRDF war die TPLF die dominierende Kraft, obgleich die ethnischen Tigriner mit lediglich 6,2% Anteil an der Gesamtbevölkerung nur eine Minderheit darstellen, insbesondere im Vergleich zu den beiden größten Bevölkerungsgruppen, den Amharen (32,1%) und Oromos (30,1%).
Die Gründung von neun ethnisch zugeschnittenen Regionen sowie zwei föderalen Stadtstaaten im Jahr 1998 im Zuge der Einführung des "ethnischen Föderalismus" änderte nur wenig an diesen Streitigkeiten. Zum Teil nahmen sie sogar noch zu, weil dadurch statt einer einenden nationalen Identität die regionalen Zugehörigkeiten gestärkt wurden. Regionale Rebellengruppen, wie die Ogaden National Liberation Front (ONLF) oder die Oromische Befreiungsfront (Oromo Liberation Front, OLF), kämpfen weiter gegen die Zentralregierung und für mehr Autonomie, wenn nicht sogar für die vollständige Unabhängigkeit ihrer Siedlungsgebiete.