Systematische politische und militärische Gewalt führt sowohl zu großen seelischen Verletzungen bei den individuellen Opfern als auch zu nachhaltigen Brüchen und Verwerfungen in den sozialen Beziehungen der betroffenen Gesellschaften. Der Riss geht durch Familien, Freundschaften, Nachbarschaften und das weitere soziale Umfeld. Besonders tief ist die Kluft zwischen den politischen Lagern, religiösen Gemeinschaften und ethnisch-kulturellen Milieus, die sich in den Zeiten der politischen Repression und des Bürgerkrieges feindlich gegenüberstanden.
Die materielle Infrastruktur eines Landes lässt sich vergleichsweise schnell wiederaufbauen. Die Überwindung und Heilung der psycho-sozialen Folgen systematischer politischer und militärischer Gewalt dauert dagegen Jahrzehnte. In dieser Zeit bleiben die betroffenen Staaten und Gesellschaften in hohem Maße anfällig für Krisen und den Rückfall in die Gewalt (Fiedler/Mroß 2017). Das Erbe der Vergangenheit lastet schwer. Gesellschaften, in denen Rückzug, Misstrauen, Vorurteil, Ablehnung und Hass gegenüber den ehemaligen Gegnern die sozialen Beziehungen bestimmten, fehlt die Energie für den ideellen, politischen und wirtschaftlichen Neuanfang.
Heute leben über 1,5 Mrd. Menschen in Ländern, die von Krieg, Gewalt und kaum handlungsfähigen staatlichen Institutionen betroffen sind. Langanhaltende und komplexe Krisen, fragile Staatlichkeit sowie internationaler Terror stellen zunehmend globale Sicherheitsprobleme dar (BMZ 2017: 23). In keinem der fragilen und von gewaltsamen Konflikten betroffenen Staaten wurde bis 2015 ein einziges zentrales Entwicklungsziel der UNO (Millennium Development Goals – MDG) erreicht. Und es ist überhaupt noch nicht ausgemacht, dass sich daran mit Blick auf die neue UN-Entwicklungsagenda 2030 etwas grundsätzlich ändern wird.
Versöhnung – ein kulturabhängiges Konzept
Das deutsche Wort "Versöhnung" leitet sich von Sühne/sühnen ab. Dem Begriff liegt die Idee zugrunde, dass Täter für die von ihnen verschuldeten Schäden und Verletzungen eine Wiedergutmachung leisten, also Sühne tun. Sühne (vom althochdeutschen suona = Gericht, Urteil, Gerichtsverhandlung, Friedensschluss) ist ein Akt, durch den Täter ihre Schuld abtragen können, falls sie ihre Tat bereuen und eine Strafe verbüßen. Schuld wird durch Strafe gesühnt. Dadurch erleben die vom Unrecht betroffenen Personen Genugtuung. Über Gott und das Recht vermittelt werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die zerstörte Beziehung zwischen Täter und Opfer schrittweise wiederhergestellt werden kann. Sühne kann auch von den Tätern ausgehen, indem sie sich durch Sonderleistungen oder Verzichte selbst bestrafen und gegenüber den Opfern um Vergebung bitten. Dieses christlich geprägte Verständnis von Versöhnung ist sehr auf die individuelle Täter-Opfer-Beziehung ausgerichtet.
Andere Kulturen, Religionen und Sprachen setzen andere Akzente. Das altgriechische Wort für Versöhnung katallage bedeutet umfassende Veränderung bzw. Erneuerung. Die Erneuerung soll eine neue Beziehung des Menschen sowohl zu Gott als auch zu sich selbst und zu den Mitmenschen ermöglichen, mit denen ein Konflikt oder ein Zerwürfnis besteht.
Im Buddhismus liegt das Schwergewicht auf der Wahrung der Harmonie zwischen Menschen und der Wiederherstellung (Heilung) der von durch Streit und Gewalt verletzten Beziehung, Gruppe oder Gemeinschaft. Der Schlüssel dafür ist eine durch Selbstreflexion und achtsames Handeln veränderte Lebensweise und Interaktion mit den Mitmenschen. Dies gelingt durch ständige Selbstbefragung: Ist das, was ich tue, gut für mich und die anderen? Oder schadet es jemandem? Hintergrund ist auch hier wiederum das Verständnis, teil eines sozialen Ganzen zu sein, das durch das eigene Handeln aus dem Gleichgewicht geraten kann.
Dass der Einzelne zu etwas "viel Größerem" gehört (Tutu 2000: 134), ist auch die Leitidee von "Ubuntu" – eines Versöhnungsverständnisses, das in allen Bantu-Sprachen verbreitet ist. Ubuntu, das zur ethischen Referenz für den Wahrheits- und Versöhnungsprozess in Südafrika geworden ist, steht für das Bewusstsein, zu einer gemeinsamen Menschheit zu gehören und als Einzelne/-r nur mit und durch die Anderen leben zu können. Vor diesem Hintergrund bedeutet "Ubuntu" die Einsicht und Bereitschaft aller Mitglieder, etwas für die Lebensfähigkeit und die Heilung der Gemeinschaft zu tun, wenn diese durch die Taten Einzelner verletzt wurde (Junod/Rutayisire 2016: 68 f.).
Friedenswissenschaftliche Versöhnungskonzepte
Besonders einflussreich ist das Versöhnungskonzept von John Paul Lederach, einem US-amerikanischen Friedensforscher, Friedensaktivisten und Mennoniten. Es ist stark an christlichen Vorstellungen ausgerichtet. Lederach versteht Versöhnung in erster Linie als "Beziehungsarbeit". Eine verletzte oder gar zerstörte Beziehung kann nur wiederhergestellt und geheilt werden, wenn die (ehemaligen) Konfliktparteien aufeinander zugehen. Deshalb sollten sie nicht dem Impuls folgen, die Kontakte und Beziehungen untereinander zu verringern oder abzubrechen. Vielmehr rät Lederach, Mechanismen zu schaffen, "die die Konfliktseiten miteinander zu einer mitmenschlichen Beziehung verpflichten" (Lederach 1997: 77 ff.).
Folglich ist Versöhnung ein Prozess der Begegnung und des Austausches. Lederach benennt vier Elemente, die dabei zusammenkommen und in einer ausgewogenen Balance zueinanderstehen sollten: Wahrheit, Vergebung, Gerechtigkeit und Frieden. Wahrheit wird verstanden als die gemeinsame Klärung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Mit Vergebung ist die Bereitschaft gemeint, die Vergangenheit und die eigene Verantwortung zu akzeptieren sowie loszulassen und neu zu beginnen. Gerechtigkeit bedeutet insbesondere die Entschädigung der Opfer, die Wiederherstellung der individuellen und Gruppenrechte sowie der (Wieder-)Aufbau gerechter sozialer Beziehungen. Frieden schließlich meint die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sowie von gleichberechtigten Sozialstrukturen und respektvollen wechselseitigen Beziehungen (ebd.).
Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat den aus dem polynesischen Kulturkreis stammenden Ho’oponopono-Ansatz für die praktische Versöhnungsarbeit wiederentdeckt und aktualisiert. Das Verfahren richtet sich an die gesamte betroffene Gruppe bzw. Gemeinschaft, die von einem Konflikt, einer Gewalttat oder einer sonstigen Verfehlung betroffen ist. Im Zentrum steht auch hier die Heilung der durch die jeweilige Verfehlung bzw. Gewalttat verletzten sozialen Beziehungen.
Die Zusammenkünfte werden von einem Vermittler/Moderator geleitet. In einem ersten Schritt bekennen sich alle Anwesenden zu ihrem Teil der Verantwortung und Schuld. Darunter fallen auch Unterlassungen, die zu dem Konflikt bzw. der Straftat beigetragen haben. Zum Geist und zur Dynamik des Verfahrens gehört, dass jeder dabei etwas mehr an (Mit-)Schuld einräumt, als er tatsächlich zu verantworten hat. Dadurch entsteht ein Überschuss an positiver Energie in der Gruppe und eine größere Bereitschaft aller Beteiligten, sich zur eigenen Verantwortung zu bekennen.
In einem zweiten Schritt verpflichten sich dann alle Beteiligten, einen konkreten Beitrag zur Beilegung des Konflikts, zur Überwindung der Ursachen und zur Wiedergutmachung des Schadens zu leisten. Auch hier besteht das leitende Prinzip darin, über das Maß der eigenen Verantwortung/Schuld hinauszugehen und sich großzügig am Prozess der Wiedergutmachung und Heilung zu beteiligen. Anliegen dieses sehr ritualisierten Verfahrens ist es, zu einer gemeinschaftlichen Katharsis im Kreis aller direkt und indirekt Beteiligten an einem Konflikt oder einer schädigenden/verletzenden Tat zu gelangen und so die Beziehungen zwischen den Mitgliedern wieder zu heilen.
Versöhnung – individuelle und gesellschaftliche Ebene
Auf der individuellen Ebene setzt Versöhnung die Bereitschaft bei Tätern und Opfern voraus, aufeinander zuzugehen, sich über die Vergangenheit auszutauschen und Frieden zu schließen. In erster Linie stehen dabei die Täter in der Pflicht, ihre Schuld einzugestehen und um Vergebung bitten. Versöhnung kann aber nur dann nachhaltig gelingen, wenn auch die Opfer bereit sind, ihre eigene Verantwortung und eigenen Unterlassungen (selbst-)kritisch zu reflektieren und anzuerkennen. Dies gilt umso mehr, wenn sie selbst auch "Gewalt ausgeübt, verantwortet oder unterstützt haben – viele sind also gleichermaßen Opfer und Täter" (Fischer 2008: 3).
Auf der gesellschaftlichen Seite steht die Gruppe, die Gemeinschaft und/oder der Staat in der Pflicht, den Opfern eine Stimme zu geben, ihre Situation und ihr Schicksal anzuerkennen und durch geeignete politische und symbolische Handlungen öffentlich zu machen. Dies sind notwendige Schritte, um den Opfern ihre Würde zurückzugeben und ihr Vertrauen in ihre Mitmenschen und in die öffentlichen Institutionen schrittweise wiederherzustellen. Im Zentrum steht dabei die vorbehaltlose Suche nach der Wahrheit über die Vergangenheit und die juristische Verfolgung der Täter. Schließlich müssen glaubwürdige Vorkehrungen getroffen werden, damit sich die Gewaltereignisse und Verbrechen nicht wiederholen.
Versöhnung während und nach innerstaatlichen Konflikten
Versöhnung ist kein Teilbereich der Konfliktbearbeitung und Friedensförderung, wie etwa die Nothilfe oder die Reform des Sicherheitssektors, die in einer bestimmten Phase – vorzugsweise nach dem Ende der Gewalt – von eigens geschulten Akteursgruppen, Institutionen und Berater/-innen in Zusammenarbeit mit den (ehemaligen) Konfliktparteien umgesetzt werden. Versöhnung ist vielmehr ein integrales Element des gesamten Zyklus‘– von der Prävention über die Friedenssicherung bis hin zum Aufbau nachhaltig friedlicher Gesellschaften.
Die Grundsätze der Versöhnung – insbesondere aus der buddhistischen Tradition – ernst zu nehmen, würde bedeuten, Konflikte gar nicht erst eskalieren zu lassen und schwerwiegende seelische Verletzungen und soziale Verwerfungen möglichst zu vermeiden. Sind die ersten Gewalttaten geschehen, sollten im Idealfall auch unmittelbar danach Versöhnungsbemühungen beginnen, um ein Aufschaukeln des Konflikts zu verhindern. Denn Versöhnungsprozesse gestalten sich umso schwieriger, je stärker ein Konflikt eskaliert und je größer die Zahl menschlicher Opfer, seelischer Verletzungen und sozio-ökonomischer Kosten und Verwerfungen ist.
Eine ganzheitliche Versöhnungsarbeit geht weit über die bekannten Ansätze und Methoden hinaus. Dazu gehören u.a. Trauerarbeit, Story-telling-Workshops, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, juristische Verfolgung der Täter, traditionelle lokale Gerichtsbarkeit sowie Schaffung von Gedenkstätten und Feiertagen. (Siehe Beiträge
Beispielhaft wurde das in einem Projekt des American Friends Service Committee (AFSC) der Quaker in Burundi umgesetzt (AFSC 2016). Im Kern ging es dabei um Beschäftigung schaffende Maßnahmen durch Sparanreize und Mikrokredite. Um den vordergründig ökonomischen Teil des Programms zu managen, mussten die Dorfbewohner über Gendergrenzen und ethnische Spaltungen hinweg zusammenkommen und kooperieren. Außerdem waren in das Projekt Maßnahmen zur Traumaheilung integriert. Das Beispiel zeigt auch, dass es keine allgemein anwendbaren Modelle gibt. Jede Strategie, jede Maßnahme muss auf die Bedingungen und Anforderungen vor Ort zugeschnitten sein.
Stiefkind der Friedensförderung und Entwicklungspolitik
Im Vergleich zur Wirtschaftsförderung ist der Bereich Versöhnung – genauso wie die Konfliktprävention – nach wie vor extrem unterfinanziert. In die "Gesellschaftliche Konflikttransformation" (Societal Conflict Transformation, SCT), wozu insbesondere die Aufdeckung von Kriegsverbrechen, Strafverfolgung, Entschädigung der Opfer und Überwindung der Spaltung der Gesellschaft gehört, fließen mit Abstand die wenigsten Mittel. In einem Drittel aller Fälle erhielten die betreffenden Länder innerhalb der ersten fünf Nachkriegsjahre für entsprechende Projekte praktisch keinerlei internationale Unterstützung aus ODA-Mitteln . Selbst die Länder, die wie Liberia mit 1,64$ jährlich die höchsten Beiträge für SCT erhielten, nehmen sich diese im Vergleich zu anderen Bereichen extrem gering aus. Zur Unterstützung sozioökonomischer Entwicklung erhielten die Länder in den fünf Friedensjahren nach einem Bürgerkrieg durchschnittlich 85,50 US$ pro Kopf und Jahr (Fiedler/Mroß 2017: 3).
Um den Handlungsbedarf der internationalen Gemeinschaft zu unterstreichen, werden Post-Konfliktländer in der Entwicklungszusammenarbeit inzwischen als eine besondere Kategorie behandelt. Positive Beispiele, die ein Umdenken anzeigen, sind der sogenannte "New Deal for Engagement in Fragile States", der 2011 von der OECD und einer Gruppe (G7+) in Busan (Südkorea) von aktuell 18 fragilen Staaten ins Leben gerufen wurde, sowie die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (UNO 2015). Die Agenda enthält die Verpflichtung aller 193 Mitgliedsstaaten, Frieden, Gerechtigkeit und Inklusion in allen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen und zu fördern. "In diesem Kontext kann Versöhnung jetzt für nationale Akteure als ein Weg gesehen werden, ihre Verpflichtungen aus der Agenda 2030 zu erfüllen und so eine effektive und nachhaltige Entwicklung in ihrem Land zu unterstützen" (Tomlinson 2016: 4).