"Der Streit um den nordöstlichen Teil der irischen Insel, das heutige Nordirland, wird auf die systematische Ansiedelung protestantischer Engländer und Schotten seit Anfang des 17. Jahrhunderts zurückgeführt. Die Ansiedlung ("Plantation of Ulster") ging mit der Enteignung der ansässigen Bevölkerung einher. Mit der Teilung der Insel 1921/22 verblieb Nordirland bei Großbritannien, während sich im Süden die heutige Republik Irland formierte. Bis heute versuchen die mehrheitlich protestantischen Unionisten bzw. Loyalisten die Bindungen an Großbritannien aufrechtzuerhalten, während die mehrheitlich katholischen Nationalisten bzw. Republikaner die Vereinigung mit der Republik Irland anstreben.
Die Hauptursache für den Bürgerkrieg (1968–1998) war die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die protestantische Mehrheit. In der Zeit wurden ca. 16.200 Bombenanschläge, 37.000 Fälle von Schusswaffengebrauch, 22.000 bewaffnete Überfälle und 2.200 Brandanschläge registriert. Mehr als 3.600 Menschen haben ihr Leben durch politisch motivierte Gewalt verloren, über 47.000 Menschen Verwundungen erlitten. Von den 1,6 Mio. Bürgern Nordirlands wurde etwa jeder Zwanzigste verletzt; jeder fünfte hatte im unmittelbaren Umfeld Tote und Verletzte zu beklagen (Kandel 2005: 9). Paramilitärische Organisationen vertrieben zwischen 1980 und 2005 etwa 4.600 Menschen aus dem Land. Eine Studie aus dem Jahre 2008 zeigt, dass zwei Drittel der Befragten mindesten ein traumatisches Ereignis erlebt haben.
Der Weg zum Frieden
Die Annäherung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland in den 1980er Jahren hatte den Friedensprozess eingeleitet. London und Dublin einigten sich im Belfast-Abkommen ("Karfreitagsabkommen") vom 10. April 1998 darauf, die Entscheidung über die staatliche Zugehörigkeit Nordirlands bis zu einer Volksabstimmung offenzuhalten. Bis dahin besteht die britische Souveränität fort. Die Gewährleistung von öffentlicher Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sollte die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung entwerten. Grundlage dafür waren die wechselseitige Anerkennung der Traditionen und Identitäten ("parity of esteem") beider Lager sowie deren gleichberechtigte Teilhabe an der Machtausübung unter Wahrung der jeweiligen Rechte ("principle of consent"). Das System der Selbstverwaltung orientierte sich am Modell der Konkordanzdemokratie. Den politischen Prozess sollten die Verabschiedung einer eigenen Menschenrechtscharta für die irische Insel und der Beginn einer Versöhnungsarbeit flankieren. Schließlich wurde vereinbart, den Friedensprozess in eine engere regionale Zusammenarbeit zwischen Nordirland, der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich einzubetten. Den Rahmen bot die gemeinsame Mitgliedschaft die Europäischen Union.
Das Karfreitagsabkommen besteht aus einem zwischenstaatlichen britisch-irischen Vertrag und einer Übereinkunft zwischen unionistischen und nationalistischen Parteien. In Referenden im Norden und Süden der irischen Insel erreichte es breite gesellschaftliche Legimitation. Doch bedurfte es weiteren britisch-irischen Drucks, um den Friedensprozess in Gang zu halten. Erst das St. Andrews Agreement (2006) ebnete den Weg zur Bildung einer Regierung aus Unionisten und Nationalisten. Mit dem Hillsborough-Abkommen von 2010 ging die Verantwortung für Polizei und Justiz auf nordirische Instanzen über. In weiteren Abkommen (2013, 2014) einigten sich die Parteien auf die Kürzungen der Sozialausgaben, eine Verschlankung des Staates sowie auf Kompromisse in Bezug auf den Umgang mit Traditionsumzügen, das Zeigen von Flaggen und Symbolen sowie auf Verfahren zur Aufarbeitung der Vergangenheit.
Die Implementierung: Licht- und Schattenseiten
Vorrangiges Ziel der Friedenskonsolidierung war es, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. Die diskreditierte Polizei, die Royal Ulster Constabulary, wurde in "Police Service Northern Ireland" umbenannt, erhielt ein neutrales Dienstwappen. Die britische Flagge verschwand vor den Polizeiposten. Die Mannschaftsstärken wurden halbiert, Sondereinheiten aufgelöst, die Aufsicht einem politisch verantwortlichen Gremium übertragen und eine unabhängige Kontrollinstanz in Gestalt eines "Ombudsman" installiert. Zudem sollten die Mannschaften paritätisch mit protestantischen und katholischen Bewerbern besetzt werden.
Doch bis heute harren über 3.700 Fälle von Mord und schweren Gewalttaten, begangen von Polizeikräften während der Auseinandersetzungen, der Aufklärung. Ein weiteres offenes Kapitel ist die staatliche Zusammenarbeit mit Gewalttätern. Inzwischen leidet die Polizeiarbeit unter finanziellen Kürzungen und personellen Engpässen. Die bevorzugte Rekrutierung von Katholiken, um das Übergewicht protestantischer Polizisten auszugleichen, ist zum Stillstand gekommen. Beide Bevölkerungsgruppen erkennen die Polizei nur bedingt als neutrale Ordnungsmacht an. Seitens der Politik fehlt der Rückhalt.
Die Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen verlief sehr zäh. Erst 2005 bestätigte eine internationale Expertenkommission den Vollzug durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA). Die unionistischen Verbände zogen 2009 nach. Jedoch verschwanden die Gruppierungen nicht, sondern tauchten in eine gewaltgestützte Ökonomie ab. Gerade in Gebieten, die unter Armut leiden, halten sie mit Erpressung von Schutzgeld, willkürlichen Strafaktionen gegen missliebige Personen oder Vertreibungen ihren Einfluss aufrecht.
Der Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung zog sich nach Abschluss des Belfast-Abkommens über neun Jahre hin. Die Gräben zwischen den beiden Lagern vertieften sich. Bei Wahlen setzten sich radikale Parteien gegenüber moderaten Kräften durch. 2007 einigten sich die unionistische Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanisch-nationalistischen Sinn Féin auf eine gemeinsame Übernahme der Regierungsgeschäfte. Seitdem haben sich beide Seiten in einer "pragmatischen Konfrontation" eingerichtet. Der Konflikt wird nun weitgehend ohne Gewalt ausgetragen (Moltmann 2011).
Anfang 2017 zerbrach die Koalition aus der DUP und der Sinn Féin als Folge des Skandals um die Förderung von erneuerbaren Energien, auch "Cash for Ash-Skandal" genannt (McBride 2019). Nach den darauffolgenden Neuwahlen konnte zunächst keine Regierungskoalition gebildet werden, weshalb das Land von Beamten unter Aufsicht eines britischen Ministers regiert wurde. Erst im Januar 2020 wählte die nordirische Legislative Arlene Forster (DUP) zur Ersten Ministerin und Michelle O’Neill (Sinn Féin) zur stellvertretenden Ersten Ministerin, wodurch die nordirische Regierung wieder handlungsfähig wurde.
Herausforderungen für einen dauerhaften Frieden in Nordirland
In jüngster Zeit scheint eine erneute Eskalation der Gewalt nicht mehr ausgeschlossen. Bei Ausschreitungen in Derry/Londonderry im Frühjahr 2019 wurde eine Journalistin erschossen. Zudem droht infolge des Brexits der stabilisierende Rahmen der EU-Mitgliedschaft wegzubrechen. Insbesondere drei problematische Entwicklungen sind zu nennen:
(1) Erstarkendes Zugehörigkeitsgefühl zu den zwei Gemeinschaften
Neuste sozialwissenschaftliche Erhebungen zur politisch-sozialen Identität der nordirischen Bevölkerung zeigen, dass der Brexit die teilweise überkommenen Gräben zwischen den rivalisierenden Gemeinschaften in Nordirland wieder aufgerissen und vertieft hat. Seit 1998 erfasst der "Northern Ireland Life and Times Survey" (NILT) die Einstellungen, Werte und Überzeugungen der Menschen in der Region zu einem breiten Spektrum sozialpolitischer Themen. Jüngste Umfragen, die von Ende 2019 bis Anfang 2020 durchgeführt wurden, zeigen, dass die Zustimmung zu den politischen Institutionen des Karfreitagsabkommens weiterhin hoch ist. Hier hat sich seit der letzten Veröffentlichung des NILT 2018 wenig geändert.
Anders sieht es in puncto Zugehörigkeit zu einer der beiden Gemeinschaften in Nordirland aus. Von 2018 auf 2019 hat sich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer der beiden Gemeinschaften um durchschnittlich 10% erhöht. Nach Religionszugehörigkeit aufgeschlüsselt, ist der Anteil der Katholiken, die sich als Nationalisten bezeichnen, 2019 von 50% auf 59% gestiegen, der Anteil der Protestanten, die sich 2018 als Unionisten bezeichneten, sogar um 12% auf 67%. Dies ist deshalb so bezeichnend, weil der Anteil derjenigen, die sich weder der einen noch der anderen Gruppe zugehörig fühlt, seit 1998 kontinuierlich gewachsen ist. Ob die das erstarkende Zugehörigkeitsgefühl zwischen den rivalisierenden Gemeinschaften einen langfristigen Trend einleitet, werden kommende Untersuchungen zeigen.
(2) Umstrittener Umgang mit Tätern und Opfern der Gewaltgeschichte
2005 wurde die "Kommission für Opfer und Überlebende für Nordirland" eingesetzt, die das Ziel hat, die Lebenssituation aller Opfer und Überlebenden des Konflikts in Nordirland zu verbessern. Wie dies auszusehen hat, wird regelmäßig diskutiert – z.B. ob und in welcher Form eine bedingte Amnestie von Rechtsbrechern zur Versöhnung und Befriedung sowie zur Entlastung von Ermittlungsinstanzen und Justiz beitragen könnte. Im Rahmen der Bildung einer Versöhnungskommission könnten diejenigen, die Kenntnis von Gewaltvorfällen haben, Informationen an die Opfer und ihre Familien weitergeben. Dabei müssten sie keine Angst vor Strafverfolgung haben. Als Argument für die Etablierung einer derartigen Kommission wird genannt, dass Täter und Opfer sich mit ihrer Vergangenheit produktiv auseinandersetzen und sich danach weniger verhärtet gegenüberstehen. Versöhnung könne so besser geschehen als durch polizeiliche Ermittlungen und Prozesse.
Ein weiteres Thema der öffentlichen Debatte in Nordirland ist das Programm zur Entschädigung von Opfern der Gewaltakte ("Victims Payments Scheme"). Obwohl dessen Einrichtung Anfang 2020 vom britischen Unterhaus verabschiedet wurde, verzögert sich die Umsetzung. Hauptstreitpunkt ist, wer von dem Programm erfasst werden soll. Das Programm folgt dem Prinzip "Through no fault of their own" ("ohne eigenes Verschulden"). Das heißt, nur jene Opfer haben Anspruch auf Entschädigung, die nicht selbst an Gewaltakten beteiligt waren. Deshalb fürchten Vertreter der republikanischen Partei Sinn Féin, dass Antragssteller mit republikanischem Hintergrund nicht berücksichtigt werden könnten. Die Verordnung für Opfer und Überlebende ("The Victims and Survivors Order") aus dem Jahre 2006 nimmt in dieser Hinsicht keine Unterscheidung vor. Diese Definition war in der Vergangenheit als Element angesehen worden, das die Spaltung in der Gesellschaft verringert.
(3) Politische Herausforderungen der nationalen Einheit
Die politische Machtkonstruktion in Nordirland ist komplex: Seit 2007 (mit Unterbrechung zwischen 2017 und Anfang 2020) wird die Region durch eine Regionalregierung verwaltet. Des Weiteren ist das "Northern Ireland Office" in London zuständig für die Bereiche Wahlgesetz, Menschenrechte, nationale Sicherheit und Umgang der britischen Regierung mit dem Erbe der Unruhen in Nordirland. Hier besteht eine Zusammenarbeit mit der Regierung der Republik Irland im Rahmen der "British-Irish Intergovernmental Conference". Das Vereinigte Königreich und Irland fungieren gleichberechtigt als Garantiemächte des Friedensprozesses in Nordirland (Moltmann 2017). Diese politische Konstruktion hat sich jahrelang als friedensfördernd für die Region erwiesen.
Die nordirische Regionalregierung ist jedoch derzeit in ihrer Position geschwächt. Durch die Krisen im Rahmen der "Cash-for-Ash Affäre" und der erst Anfang dieses Jahres neu formierten Exekutive muss sie wieder an Ansehen und Akzeptanz in der Bevölkerung gewinnen. In den Brexit-Verhandlungen hat sie zudem keine entscheidende Verhandlungsposition einnehmen können, weil die Regierungsgeschäfte in dieser Zeit hauptsächlich von London aus geregelt worden waren.
Gleichzeitig rütteln von britischer Seite unterschiedliche Kräfte an der nationalen Einheit des Vereinigten Königreichs. So wurden nach der Brexit-Entscheidung in Schottland erneut Rufe nach einem Unabhängigkeitsreferendum laut. In Nordirland sieht ein Teil der Bevölkerung eine irische Vereinigung nun als wahrscheinlicher an. Im jüngsten NILT Survey antwortete ein steigender Anteil an Nationalisten (von 50% in 2018 auf 69%), dass sie durch die Brexit-Entscheidung einer irischen Vereinigung mehr zustimmen würden und diese auch mehr erwarten (von 62 auf 77%) (Hayward/Rosher 2020). Seit der Unabhängigkeit der irischen Republik im Süden der Insel vor knapp 100 Jahren ist die Vereinigung der irischen Insel immer noch Ziel der nordirischen Nationalisten.