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PdVSA Charity-Konzern mit Erdölabteilung

Steffen Leidel

/ 10 Minuten zu lesen

Der staatliche Erdölkonzern PdVSA in Venezuela soll zur globalen Energiemacht ausgebaut werden. So plant es zumindest Präsident Chávez. Ein teures Unterfangen, das auch viele Risiken birgt.

Als Hugo Chávez, hier bei der Einweihung eines Nahverkehrszuges in Caracas, 1998 zum Präsidenten Venezuelas gewählt wurde, baute er ein milliardenschweres Sozialprogramm für die verarmte Bevölkerung auf. Das Geld stammt bis heute aus den Erdöl-Gewinnen. (© Steffen Leidel)

Der Mann aus Sabaneta, ja, er habe gute Taten vollbracht. Die junge Frau nickt energisch, dann lächelt sie verlegen, an ihrem Arm zieht ungeduldig die kleine Tochter. Gleich beginnt der Unterricht, die anderen Kinder haben sich schon brav auf dem Schulhof in einer Reihe aufgestellt. Die Mutter ist dankbar, dass Hugo Chávez, der gute Mann aus Sabaneta, hier, ausgerechnet in diesem vergessenen Landstrich, eine Schule bauen ließ. Kein Mensch von der Regierung habe sich vor Chávez für sie interessiert. Mutter und Tochter gehören zum Indianervolk der Wayuu, sie leben im äußersten Nordwesten Venezuelas, nicht weit von der kolumbianischen Grenze.

Früher habe es in der Region um den Limón-Fluss nicht einmal einen Arzt gegeben. Heute brauche sie nur eine Stunde zu Fuß bis zum Gesundheitszentrum. Das sei modern, die kubanischen Ärzte, die der Präsident ins Land geholt hat, seien nett, versichert die Frau. Das kleine Mädchen mit den pechschwarzen Haaren hat sich losgerissen und rennt auf den Schulhof. Als einziges der Kinder hat es ein grünes Shirt an, die anderen tragen rot, die Farbe der nach dem Befreiungshelden Simón Bolívar benannten Revolution von Präsident Chávez. Irgendwann sagt die Mutter dann noch, dass sie froh sei, dass ihre Tochter in die "bolivarianische" Schule gehen könne. Sie werde dort nicht nur unterrichtet, sondern bekomme auch ein anständiges Essen, alles kostenlos. Ob Schule, Ärzte, Lebensmittel: Alles zahlt der Staat aus seiner Kasse. "Venezuela hat riesige Erdölvorkommen. Davon bekommen wir Armen jetzt endlich auch etwas ab, dank unseres Präsidenten", sagt die junge Frau euphorisch.

Kuba und Venezuela haben eine Kooperation vereinbart, durch die mehr als 25.000 kubanische Ärzte und Krankenschwestern nach Venezuela gekommen sind, um die Bevölkerung kostenlos zu behandeln. Im Gegenzug werden 100.000 Barrel Öl täglich nach Kuba geliefert. (© Steffen Leidel)

Es ist nicht lange her, dass Kinder im Bundesstaat Zulia an Unterernährung starben. Und das, obwohl Zulia über gigantische Rohstoffvorkommen verfügt, darunter Kohle und vor allem Erdöl. Nur anderthalb Stunden Autofahrt von der Schule am Limón-Fluss entfernt liegt der See von Maracaibo. Seit den 1920er-Jahren sprudelt dort aus unzähligen Bohrlöchern Öl. Doch das flüssige Gold brachte nicht Wohlstand für alle, sondern belegte den Karibikstaat mit dem Ressourcen-Fluch. Zunächst mehrte Venezuela seinen Reichtum, 1929 war es der größte Erdölexporteur der Welt. In den Siebzigerjahren galt Venezuela als Vorzeigeland, doch mit dem Fall des Ölpreises folgte in den Achtzigern der Absturz. Große Teile der Bevölkerung verarmten. Nur eine kleine Clique blieb steinreich, darunter die Manager der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA.

PdVSA als Staat im Staate

Die 1976 gegründete PdVSA war zwar formell von Anfang an ein staatliches Unternehmen, wirtschaftete faktisch aber so gut wie unabhängig von den jeweiligen Regierungen. Sie vergab hochprofitable Förderkonzessionen an ausländische Konzerne und bildete mit der Zeit einen Staat im Staate. Die Öl-Gewinne flossen vor allem ins Ausland. PdVSA investierte in Tochtergesellschaften in Europa, darunter auch in Deutschland. In den USA baute der Konzern mit CITGO sogar ein eigenes Tankstellennetz auf. PdVSA galt auf den internationalen Finanzmärkten als einer der effizientesten "staatlichen Ölkonzerne"; zu Hause hingegen zog das Unternehmen mehr und mehr den Zorn der verarmten Bevölkerung auf sich, die vom Ölreichtum des Landes nichts abbekam.

Hugo Chávez gewann 1998 die Wahlen mit dem Versprechen, die grassierende Armut in Venezuela zu beenden, indem die Öleinnahmen nicht mehr in die Taschen einer kleinen Clique fließen, sondern vor allem der verarmten Bevölkerung zu Gute kommen sollten. Chávez machte den Satz "Sembrar el petroleo" ("Das Öl säen") zu seinem Slogan, mit dem der venezolanische Schriftsteller Uslar Pietri 1936 einen viel beachteten Artikel betitelt hatte. Pietri hatte auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Erdöl-Einnahmen zur Stärkung der nicht erdöl-gebundenen Wirtschaftssektoren zu nutzen.

Hinter den Kulissen arbeitete ein gebürtiger Deutscher die Neuausrichtung von PdVSA aus. Bernard Mommer, der Sohn des früheren SPD-Abgeordneten und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Karl Mommer, ist Vorstandsmitglied bei PdVSA und gilt als Chefideologe der venezolanischen Erdölpolitik. Mommer studierte Mathematik in Tübingen bevor er nach Venezuela ging und dort die deutsche gegen die venezolanische Staatsangehörigkeit tauschte. In einem Interview sagte er einmal, PdVSA sei für ihn "einfach ein Instrument, den natürlichen Reichtum des Landes zu maximieren". Die Öl-Reserven gehörten dem Staat und nicht dem Unternehmen und einer "kleinen Eliteclique", sagt er. Per Gesetz dürfen im heutigen Venezuela die ausländischen Konzerne die Erdölförderung nicht mehr alleine betreiben, sondern nur noch in Form von Joint-Ventures, in denen PDVSA die Mehrheit hält.

Erdöleinnahmen finanzieren Sozialprogramme

Für die alte PdVSA-Führungsclique war die Präsidentschaft von Chávez ein Schock. Seine Ideen von Sozialismus und Verstaatlichung empfand sie als Frontalangriff. Anfang 2003 ging sie mit auf die Barrikaden. Sie war die treibende Kraft der monatelangen Streiks, mit denen die Opposition damals den Staatschef zum Rücktritt zwingen wollte. Die Ölförderung wurde praktisch auf Null gefahren. Nur: Chávez ließ sich nicht in die Knie zwingen, reagierte mit einem radikalen Schritt. Er entließ 18.000 PdVSA-Mitarbeiter, immerhin fast die Hälfte des Personalbestandes. Die meisten hochqualifizierten Mitarbeiter mussten gehen: Ingenieure, Geologen, Techniker, Finanzspezialisten. Regierungskritische Experten und frühere PdVSA-Mitarbeiter wie Diego González, heute Direktor des Instituts für Erdöl und Minen IPEMIN in Caracas, sagen, dass der Konzern sich bis heute nicht davon erholt habe. Die Unternehmensführung wurde vollständig mit Chávez-Getreuen besetzt. Seit 2004 wird der Konzern von Energieminister Rafael Ramírez geleitet. Er fordert von seinen Mitarbeitern vor allem politische Linientreue ein.

Dass die Petrodollars sprudeln, hat der Konzern vor allem dem beständig hohen Ölpreis zu verdanken. 2006 setzte das Unternehmen 102 Milliarden US-Dollar um. Dennoch brach der Netto-Gewinn um rund 30 Prozent ein. Mit ein Grund dafür ist das hohe Sozialbudget des Unternehmens. Es stieg laut PdVSA 2006 um 91 Prozent auf 13,3 Milliarden US-Dollar. Manch einer bezeichnet PdVSA etwas spöttisch als Charity-Unternehmen mit einer Erdölabteilung. "PdVSA baut Straßen, Schulen und Krankenhäuser, kümmert sich um Denkmalschutz, fördert Kunst, Kultur und Wissenschaft. Doch das Kerngeschäft wird vernachlässigt", sagt der Politologe Friedrich Welsch von der Simon-Bolívar-Universität in Caracas.

Mit den Erdöleinnahmen finanziert Chávez auch die so genannten "Misiones". 2003, kurz nach dem gescheiterten Putsch gegen ihn, hatte Chávez die milliardenschweren Sozialprogramme eingerichtet. Eines der bekanntesten ist "barrio adentro" ("Im Viertel"). Es soll vor allem die medizinische Versorgung der verarmten Bevölkerung sicherstellen. Auf der Grundlage eines Kooperationsabkommens zwischen Kuba und Venezuela sind mehr als 25.000 kubanische Ärzte, Arzthelfer und Krankenschwestern nach Venezuela gekommen, die die Bevölkerung kostenlos behandeln. Im Gegenzug liefert Venezuela 100.000 Barrel Öl täglich nach Kuba.

Insgesamt gibt es etwa 20 "Misiones". Ein weiterer Schwerpunkt ist Bildung. Für Erwachsene gibt es die Möglichkeit, einen Schulabschluss nachzumachen und eine der neuen Universitäten zu besuchen. Über die so genannten Mercal-Geschäfte werden Grundnahrungsmittel zu verbilligten Preisen angeboten. Weitere "Misiones" widmen sich unter anderem der Förderung der Landwirtschaft, des Wohnungsbaus und der Kultur. Chávez verteilt seine Geschenke öffentlichkeitswirksam und provoziert damit auch gerne mal seinen Lieblingsfeind, die US-Regierung. So lieferte er schon Heizöl an arme Menschen in der Bronx.

Mit dem Erdöl versucht Chávez, sich außenpolitisch gefügige Partner heranzuziehen. Die meisten Karibikländer beliefert er mit Erdöl zu Vorzugsbedingungen. Mit den Erdöleinnahmen kauft er Schuldtitel auf von Ecuador oder Argentinien, mit dem er gerne auch Rindfleisch für Öl eintauscht.

Venezuela soll globale Energiemacht werden

Am Maracaibosee wird ein Großteil des Erdöls gefördert. (© Steffen Leidel)

PdVSA ist der Goldesel, der all diese Maßnahmen finanziert. Experten warnen vor einem Verfall des Ölpreises. Würde der nämlich ein Jahr lang unter 50 US-Dollar fallen, dann wären Sozialprogramme und Erdöldiplomatie nicht mehr tragbar. Doch niemand in der venezolanischen Regierung rechnet offenbar mit solch einem Szenario - nicht ganz zu Unrecht. Laut OPEC steigt die Nachfrage nach Erdöl in Lateinamerika bis 2020 um 47 Prozent, weltweit im Durchschnitt um 22 Prozent. Gleichzeitig nehmen die vorhandenen Reserven ab.

Chávez sieht sein Land vielmehr auf dem Weg zur globalen Energiemacht. Derzeit hat Venezuela zertifizierte Vorkommen von knapp 81 Milliarden Barrel. Damit liegt das Land im weltweiten Vergleich an sechster Stelle. Doch die Chávez-Regierung will in den nächsten Jahren die Reserven im Becken des Orinoco-Flusses erschließen. In einem 600 Kilometer langen und 70 Kilometer breiten Streifen parallel zu dem Fluss, an dessen Ufern einst Alexander von Humboldt wandelte, werden die größten Ölreserven der Welt vermutet. Die Regierung spricht von 1.370 Milliarden Barrel, von denen mit heutiger Technologie etwa 20 Prozent gefördert werden könnten.

Seit August 2006 arbeiten Firmen aus Brasilien, Argentinien, China, Indien und Iran in der Zertifizierung von rund 235 Milliarden Barrel. Bis 2008 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Läuft alles nach Plan würde Venezuela dann mit insgesamt 316 Milliarden weltweit die größten zertifizierten Vorkommen haben, vor Saudi Arabien, Kanada, Iran und dem Irak.

Öl von schlechter Qualität

"Die Reserven im Orinoco-Gürtel sind nicht nur für Venezuela interessant, sondern für die ganze Welt", sagt Antonio Vincentelli, Präsident der Erdölkammer Venezuelas. Und das, obwohl die Vorkommen im Orinoco-Gürtel schwer zu fördern sind. Da es sich um Schweröl handelt, das aus Teer besteht und äußerst schwefelhaltig ist, kann es nur durch aufwändige Verfahren in speziellen Raffinerien aufbereitet werden. "Das ist aber inzwischen wirtschaftlich machbar", sagt Vincentelli. Auch hier gilt: Der hohe Ölpreis macht es möglich.

Zum 1. Mai 2007 vollzog Chávez die Nationalisierung von PdVSA. Ausländische Firmen mussten eine Umwandlung in Joint-Venture-Unternehmen akzeptieren, in der der Staat die Kapitalmehrheit von 60 Prozent hält. Bis zu diesem Zeitpunkt war PdVSA im Orinoco-Gürtel lediglich Juniorpartner der ausländischen Ölkonzerne. Exxon Mobil, Chevron, Conoco Phillips, Statoil, Total und BP trugen mit einer Förderung von 600.000 Barrel Rohöl am Tag mehr als ein Fünftel zur gesamten Ölproduktion Venezuelas bei. In einer symbolischen Aktion am Orinoco erklärte Chávez das Ende der "Herrschaft des Imperialismus". Die ausländischen Konzerne akzeptierten die neuen Bedingungen, bis auf die beiden amerikanischen Öl-Multis ExxonMobil und ConocoPhillips. PdVSA kontrolliert inzwischen durchschnittlich 78 Prozent (vorher 39 Prozent) der vier Ölprojekte am Orinoco.

Der Präsident von PdVSA, Ramirez, bejubelte die Nationalisierung mit den Worten: "Mit unserer Vorherrschaft erfüllen wir den Willen des Volkes." Doch Kritiker bezweifeln, ob sich PdVSA mit der "Vorherrschaft" in der Erdölindustrie nicht übernommen hat. Mit dem 2005 aufgelegten Plan "Siembra Petrolera" soll die Produktion auf bis zu 5,8 Millionen Barrel im Jahr 2012 gesteigert werden. Dafür sind Investitionen in Höhe von 56 Milliarden US-Dollar nötig. So müssen die Raffinierungs-Kapazitäten noch deutlich ausgebaut werden.

Korruption und Vetternwirtschaft

Ein Großteil der Investitionen im Erdölsektor wird PdVSA nach der Nationalisierung selbst schultern müssen. Für Luis Giusti, der das Unternehmen zwischen 1994 und 1999 führte, steht der Konzern vor einer "düsteren Zukunft". Er wirft der aktuellen Führung Misswirtschaft und mangelnde Transparenz vor.

Seit 2002 hat PdVSA keinen Geschäftsbericht mehr vorgelegt, der den üblichen Regeln der Rechenschaftslegung folgt. Unternehmenszahlen werden nur als Presse-Erklärung herausgegeben. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Fortune hat das Unternehmen 2007 mangels verlässlicher Zahlen aus der Liste der 500 größten Unternehmen der Welt gestrichen. Widersprüchliche Angaben gibt es zur Tagesproduktion. Laut Energieminister Ramirez lag diese im Jahr 2007 durchschnittlich bei 3,2 Millionen Barrel, die Internationale Energieagentur setzt die Zahl viel geringer an, bei lediglich rund 2,4 Millionen.

Außerdem verdichten sich die Anzeichen auf Korruption und Vetternwirtschaft im Unternehmen. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International liegt Venezuela auf Position 138 (von 163 Plätzen). Ungeklärt ist nach wie vor, wo die 3,5 Milliarden US-Dollar verblieben sind, die die Zentralbank Ende 2004 vermisste. "Wenn es zutrifft, dass die Firma die Kontrolle über ihre Operationen verloren hat, und wenn ihre finanzielle Situation so ungeklärt ist, wie es den Anschein hat, dann steht das ganze chavistische Reform- und Entwicklungsprojekt auf tönernen Füßen", urteilt der Tübinger Lateinamerika-Experte Andreas Boeckh. "Man hat den Eindruck, dass zum Teil ein gigantischer Raubzug im Gange ist, bei dem die neue politische Klasse sich im Namen des Sozialismus nach Kräften bedient", so Boeckh weiter.

Umstrittene Erfolgszahlen

Inzwischen misstrauen selbst Chávez-Anhänger den Erfolgszahlen, die von ihrer Regierung großspurig verkündet werden. Laut der nationalen Statistikbehörde INE stieg 2006 das Einkommen pro Haushalt um ein Drittel. Doch jenseits der Zahlen werden Probleme deutlich. Die von der Regierung viel gerühmten "Misiones" haben zwar für bestimmte Bevölkerungssektoren materielle Verbesserung gebracht, gleichzeitig aber eine kaum zu durchschauende Parallelbürokratie geschaffen, die sich durch Ineffizienz, Vetternwirtschaft und Abstimmungsprobleme auszeichnet. Eine unabhängige Bewertung der Programme ist die Regierung bislang schuldig geblieben. Nur ein Drittel der Gelder für die "Misiones" unterliegt haushaltsrechtlichen Kontrollen, über zwei Drittel verfügt Chávez nach Gutdünken. Hartnäckig hält sich auch der Vorwurf, dass nur Chávez-Fans in den Genuss der "Geschenke" kommen.

Totale Abhängigkeit von Erdöl bleibt

Eines steht fest: Venezuela hat seine Abhängigkeit vom Erdöl kaum verringern können. Der Plan, die Wirtschaft weiter zu diversifizieren, ist nach acht Jahren Chávez-Regierung nicht weit vorangeschritten. Nach wie vor stammen 75 Prozent der Export-Einnahmen aus dem Ölgeschäft, 60 Prozent der Staatseinnahmen werden über Erdöl finanziert. Die exzessive Ausgabenpolitik heizt die Inflation an.

Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts kämpft außerdem mit Widersprüchen. Zwei Drittel des venezolanischen Erdöls gehen in das Land von Chavez' Erzfeind George W. Bush. Die Abhängigkeit von den USA ist laut Klaus Bodemer vom GIGA-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg sogar noch gestiegen. "So hat die Regierung entgegen ihrem expliziten Anti-Amerikanismus und ihrem Versprechen, die Energieintegration zum Kernstück einer umfassenden, sich auf den Befreiungshelden Simon Bolívar berufenden lateinamerikanischen Integration zu machen, ihre Ölexportquoten an die USA in den letzten Jahren erhöht", so der Experte.

Auch bei den mit viel Pomp vollzogenen Nationalisierungen im Öl-, Strom- und Telefonsektor handelt es sich bei näherer Betrachtung nicht wirklich um Verstaatlichungen, sondern eher um klassische Firmenübernahmen, die im Einklang mit den Regeln des Kapitalismus vollzogen wurden.

Dass hinter den wohlklingenden Reden und großartigen Plänen des guten Mannes aus Sabaneta, Hugo Chávez, nicht immer viel Substanz steckt, hat auch schon die junge Mutter vom Indianervolk der Wayuu zu spüren bekommen. "Es ist schön, dass wir jetzt den Chávez-Leuten sagen können, was wir wollen." Früher hätten die Wayuu nicht einmal über ihre Probleme sprechen können. "Ob unsere Wünsche dann erfüllt werden, ist freilich eine andere Sache", sagt die junge Mutter und eilt ihrer Tochter hinterher.

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Steffen Leidel (Foto: DW/B. Frommann), geboren 1972 in Schweinfurt, Diplom als Übersetzer und Dolmetscher an der Universität Granada sowie Studium der Journalistik und Politik in Dortmund. Volontariat bei der Deutschen Welle. Freier Journalist seit 1997 u.a. für WDR, Frankfurter Rundschau, Die Zeit. Seit 2002 fester freier Journalist bei DW-World.de und seit 2005 freier Dozent in der DW-Akademie für Lateinamerika.