Wann hat sich Ihre Familie entschlossen Deutschland zu verlassen?
Judith Mortkovitch: Als Hitler an die Macht kam, änderte sich die Situation für uns. Es gab Fackelumzüge mit Hakenkreuzfahnen. Unsere Nachbarn, mit denen wir uns gut verstanden hatten, machten den Hitlergruß und auf der Straße wurde ich als "Judenmädchen" beschimpft. Mein Vater erkannte die Gefahr. Er hörte Hitlers Radioansprachen und ahnte, dass Hitler es ernst meinen würde. Er beantragte ein Einwanderungs-Zertifikat für uns beim Palästina-Amt in Berlin. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich war, als das Zertifikat per Post ankam.
Welche Vorstellung hatten Sie damals von Israel?
Judith Mortkovitch: Für uns war es das gelobte Land. Mein Vater war ein frommer Mann und wir lasen gemeinsam die Tora. Viele Juden in Deutschland dachten in dieser Zeit anders über Palästina, es hieß dort gebe es Schlangen, Skorpione, keine Arbeit, Hunger, Malaria und andere Krankheiten. Viele hatten Angst nach Palästina auszuwandern, aber für uns war es aber das heilige Land.
Wann kamen Sie nach Israel?
Judith Mortkovitch: Ich kam mit meiner Familie, mit meinen Eltern und drei Schwestern im Oktober 1933 mit dem Schiff nach Palästina. Wir sind damals zunächst mit dem Zug nach Prag gefahren und von Triest aus sind wir auf die "Martha Washington". Mit dem Einwanderungs-
Zertifikat vom Palästina-Amt konnten wir legal nach Palästina einreisen.
Wie muss man es sich auf dem Schiff vorstellen?
Judith Mortkovitch: Auf dem Schiff wurde getanzt und gesungen "Wir kommen in unser Land, um dort zu leben und es aufzubauen". Wir schliefen auf dem Zwischendeck auf Matratzen und Strohsäcken. Für uns Kinder war es ein Abenteuer, es war sehr aufregend für uns. Ich erinnere mich, dass sich meine Mutter die ganze Zeit über die Bedingungen auf dem Schiff beklagte. Außerdem litt sie sehr an der Seekrankheit und musste sich ständig übergeben.
Wie lange dauerte die Überfahrt?
Judith Mortkovitch: Die Schifffahrt dauerte über zwei Wochen. Die Ankunft verzögerte sich, denn die arabischen Arbeiter streikten 1933 und sie wollten unsere Ankunft verhindern. Es war schwer für mich zu verstehen, dass man uns hier nicht haben wollte.
Wie war es für Sie in Israel anzukommen?
Judith Mortkovitch: Als wir die Küste von Haifa sahen, traten uns vor Freude die Tränen in die Augen. Es war ein besonderer Moment für uns. Gleichzeitig waren wir sehr unsicher, wir wussten nicht was uns erwarten würde. Wir wussten nicht, wo wir wohnen sollten, wir hatten keine Verwandten oder Bekannten, die bereits im Land waren und uns hätten helfen können. Außerdem konnte ich nicht die Sprache. Hebräisch war für uns eine heilige Sprache mit der wir beteten, aber wir sprachen im Alltag kein Hebräisch.
Welche Erinnerungen haben Sie an die ersten Monate im Land?
Judith Mortkovitch: Die erste Zeit in Israel war sehr hart für uns. Zunächst wohnten wir in einem Beit Olim, einem Heim für Einwanderer. Dort vermittelte man uns eine 3-Zimmer-Wohnung, allerdings mussten wir die Wohnung mit drei anderen Familien teilen. Wir hatten aus Deutschland kaum etwas mitnehmen können. Entsprechend hatten wir auch keine Möbel. Wir waren enttäuscht und hatten uns mehr Hilfe im Land erhofft. Mein Vater fand keine Arbeit, hin und wieder bekam er einen Gelegenheitsjob. Auch ich konnte meine Schule nicht beenden und musste früh arbeiten gehen, damit wir über die Runden kamen. Abends habe ich Hebräisch gelernt.
Wie viel wussten Sie über die arabischen Einwohner?
Judith Mortkovitch: Wir hörten von Unruhen in Palästina. Das schreckte einige auch davor ab, nach Palästina einzureisen. Vor allem nach 1936 wurden die Aufstände schlimmer. Aber wir hatten keinen Ausweg, wo sollten wir damals hin?
Was bekamen Sie von den arabischen Unruhen mit?
Judith Mortkovitch: In Haifa lebten Araber und Juden zusammen. Wir haben bei Arabern eingekauft, aber man lebte in unterschiedlichen Vierteln, die Araber lebten im Süden Haifas und wir lebten im Norden der Stadt. Ich erinnere mich, dass es während des Streiks 1936 Schüsse auf jüdische Busse gab.
Wo waren Sie am 27. November 1947, als der Teilungsplan verkündet wurde?
Judith Mortkovitch: Ich lebte damals mit meinem Mann und meinen beiden kleinen Kindern in Tel Aviv. Ich hatte zwar kein Radio, aber ich hörte davon auf der Straße. Die Menschen tanzten und sangen auf den Straßen. Mir war zum Feiern nicht zu Mute, ich fürchtete einen Krieg, außerdem hatte ich zwei kleine Kinder.
Was haben Sie am 14. Mai 1948 gemacht?
Judith Mortkovitch: Ich hörte im Radio wie Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung verlas. Endlich waren wir unabhängig. Als die Engländer abzogen war es ein Fest. Kurz danach brach der Unabhängigkeitskrieg aus. Wir lebten damals in einer kleinen Souterrain-Wohnung in Tel Aviv, es war gleichzeitig unser Schutzkeller. In diesem Krieg starben viele aus meinem Freundeskreis, vor allem viele, die die Shoa überlebt hatten.
Wie war die Atmosphäre im Land in den ersten Jahren nach der Staatsgründung?
Judith Mortkovitch: Ich war ja bereits einige Jahre im Land als in den 1950er Jahren vor allem viele Shoa-Überlebende und Juden, die nach der Staatsgründung aus den arabischen Ländern vertrieben wurden, ins Land kamen. Wir haben uns über jeden Einwanderer gefreut, auch wenn die kulturellen Unterschiede groß waren.
Was bedeutet Ihnen Israel?
Judith Mortkovitch: Wäre ich mit meiner Familie in Dresden geblieben, wären wir nach Polen abtransportiert worden. Israel hat uns gerettet.
Was bedeutet Ihnen Deutschland?
Judith Mortkovitch: Manchmal denke ich, ich gehöre auch nach all den Jahren nach Deutschland. Auch wenn ich mich als Schülerin in Deutschland oft fremd und anders gefühlt habe. Deutsch ist in Israel teilweise bis heute verpönt. Auch als Merkel vor einigen Wochen hier vor der Knesset sprach, gab es auch kritische Stimmen, die dagegen waren. Ich denke, Deutsch war nicht nur die Sprache der Nazis, sondern auch z.B. der deutsch-jüdischen Schriftsteller.
Wie hat sich das Land verändert?
Judith Mortkovitch: Das Land hat sich sehr entwickelt, es ist sehr modern geworden. Ich erinnere mich noch, als ich 1933 in Haifa ankam, damals war das Land kaum bebaut, dort wo damals noch Wüste und Gestrüpp waren, gibt es heute moderne Städte. Die europäischen Einwanderer haben die Universitäten, Kultur, Musik, Literatur und Kunst in das Land eingeführt. Heute gibt es natürlich auch die Spuren der Juden aus dem arabischen Ländern. Sie haben orientalische Musik und Kultur mitgebracht.
Was sind Ihre Geburtstagswünsche für Israel?
Judith Mortkovitch: Frieden mit den arabischen Nachbarn, das ist mein größter Wunsch.
Das Interview führte Hanna Huhtasaari im April 2008 in Israel.