Die aktuelle Situation
Mit der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga 2023 konnte das isolierte Assad-Regime einen internationalen Erfolg verbuchen. Zu einer wirklichen Normalisierung und großen Investitionen aus dem arabischen Raum hat dies bisher allerdings nicht geführt. Assad tut zu wenig, um die Bedingungen der arabischen Staaten zu erfüllen. Darunter fällt der Kampf gegen den Drogenhandel (von dem das Assad-Regime profitiert), eine Verbesserung der Menschenrechte als Voraussetzung für die Rückkehr von Flüchtlingen und eine ernsthafte Kooperation im UN-geführten politischen Prozess.
Die Normalisierungsbestrebungen seitens der arabischen Staaten sind vor allem politisch getrieben. Ziel ist die Zurückdrängung des starken iranischen Einflusses in Syrien. Denn das Assad-Regime konnte sich nur dank der massiven Unterstützung durch die vom Iran finanzierte Hisbollah-Miliz aus dem Libanon und iranische Revolutionsgarden an der Macht halten. Ein weiterer wichtiger Faktor für das Überleben des Regimes ist das militärische Eingreifen Russlands seit 2015.
Die starre Haltung Assads hat inzwischen zu einer komplexen Gemengelage geführt, den die Handlungsspielraum des Regimes stark einengt:
Das Land ist faktisch dreigeteilt. Im Nordosten hat sich eine kurdische Selbstverwaltung etabliert, die inzwischen weitgehend eigenständig agiert. Im Nordwesten, vor allem in der Region um Aleppo und in Idlib, haben sich die übrig gebliebenen oppositionellen Rebellen festgesetzt, die heute von der Türkei unterstützt werden. Daneben halten radikale Islamisten der ehemaligen Al-Nusra-Front oder HTS (Hayat at-Tahrir as-Sham) kleinere Gebiete besetzt. Außerdem verübt der Islamische Staat (IS) immer wieder Attentate im Osten des Landes. Das Assad-Regime kontrolliert rund 60 Prozent des Territoriums.
Wo das Regime herrscht, prägen staatliche Willkür und Menschenrechtsverletzungen den Alltag der Bevölkerung. Kriminelle Banden verbreiten Unsicherheit. In der Stadt Deraa im Süden und in Sweida, das an der Grenze zu Jordanien liegt, ist es zu lokal begrenzten Aufständen gekommen. In Sweida besetzten Drusen, die sich aus dem Aufstand von 2011 herausgehalten hatten, unter der Führung drusischer Scheichs Regierungsgebäude und vertrieben Vertreter des Regimes aus der Stadt.
Der russische und iranische Einfluss durchdringt zunehmend die Machtzentren des Regimes. Assad ist für sein politisches Überleben auf die ausländischen Kräfte angewiesen, zugleich versucht er, eine zu große Abhängigkeit zu vermeiden. Russland und Iran wiederum brauchen einander, um die schwierige Lage nicht alleine stemmen zu müssen. Doch sie sind auch Konkurrenten um politischen Einfluss und lukrative staatliche Verträge.
Syrien ist seit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten seit dem 7. Oktober 2023 praktisch zu einem Frontstaat geworden. Nach den terroristischen Massakern der radikal-sunnitischen Hamas an israelischen Zivilisten, der Entführung von mehr als 240 Menschen in den Gazastreifen und den darauffolgenden massiven Zerstörungen des Gazastreifens durch israelische Truppen im Kampf gegen die Hamas sind auch der Iran und Israel in eine direkte Konfrontation geraten, die sich jederzeit auf Syrien ausweiten könnte. Mitte April 2024 griff der Iran Israel erstmals direkt mit Hunderten Kampfdrohnen und Raketen an.
In dieser Situation fährt Russland sein militärisches Engagement in Syrien herunter, um seine verfügbaren Ressourcen für den Krieg gegen die Ukraine zu bündeln. Gleichwohl wird Moskau in Syrien präsent bleiben. Es braucht u.a. seinen Luftwaffenstützpunkt in Tartus, um Waffen und Kämpfer für sein neues Afrika-Korps nach Libyen und Subsahara-Afrika zu transportieren. Außerdem versucht Russland, mithilfe des syrischen Regimes über Weißrussland oder andere Wege, Flüchtlinge nach Europa zu schleusen, um die europäischen Gesellschaften zu destabilisieren.
Insofern ist das fragile Syrien ein zentraler Angelpunkt für Russlands hybride Kriegsführung gegen den Westen geworden. Moskau kollaboriert dabei eng mit dem Iran, der Syrien als unmittelbaren Vorposten in seinem Kampf gegen Israel betrachtet.
Ursachen und Hintergründe
Die Regierungszeit von Baschar al-Assad begann im Jahr 2000 mit einer zaghaften Reform der sozialistischen Planwirtschaft, allerdings ohne mehr politische Freiheiten zu gewähren. In den Debattierclubs des „Damaszener Frühlings“ wurden politische Reformen diskutiert. Doch das Regime ließ Anfang 2001 die vorwiegend intellektuelle Bewegung niederschlagen. 2006 und Ende 2009 folgten weitere Verhaftungswellen.
Die wirtschaftliche Liberalisierung verstärkte die sozialen Ungleichheiten, von denen zunehmend auch die syrische Mittelschicht betroffen war. Verschlimmernd wirkten sich zusätzlich die Beutewirtschaft des Assad-Clans und der Zustrom irakischer Flüchtlinge aus, die infolge der US-amerikanischen Intervention 2003 ihr Land verließen. Angesichts der tiefen Unzufriedenheit schwappte zur Jahreswende 2010/2011 der „Arabische Frühling“ auf Syrien über. Die Demonstranten forderten die Achtung der Menschenwürde, Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit sowie soziale und wirtschaftliche Perspektiven.
Das Regime versuchte, Proteste und Widerstand als das Werk „ausländischer Verschwörer“ und „islamistischer Terroristen“ zu diskreditieren, um das brutale Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung zu legitimieren. Als das Regime 2013 den Aufstand nicht mehr unter Kontrolle bekam und weite Teile seines Territoriums an die Rebellen verlor, eilte ihm auf Druck des Iran die Hisbollah zu Hilfe. Später entsandte der Iran auch seine Revolutionsgarden sowie schiitische Milizen. Russland sprang dem Diktator ab Herbst 2015 zur Seite, vor allem mit Luftunterstützung, Militärpolizei und Beratern.
Der Syrienkonflikt setzt sich aus mehreren Schichten und Teilkonflikten zusammen:
Die Auseinandersetzung um das Gesellschaftsmodell des syrischen Staates: Der ursprüngliche Konflikt zwischen dem Regime und großen Teilen der Bevölkerung wurde inzwischen von Angst und Resignation abgelöst. Syrer, die im Land geblieben sind, haben derzeit nur die Wahl zwischen einem diktatorischen und wirtschaftlich bankrotten Regime und Gebieten, die meist von islamistischen und teils kriminellen Gruppen kontrolliert werden.
Der Konflikt zwischen ethnisch-religiösen Gruppen: Der sunnitisch-schiitische Gegensatz hat eine regionale Dimension. Schiitische Milizen werden vom Iran und der Hisbollah unterstützt. Hinter den sunnitischen Fraktionen steht vor allem die Türkei. Kleinere Religionsgemeinschaften, wie Alawiten, Christen oder Drusen, drohen zwischen den beiden großen Lagern zerrieben zu werden.
Der Kurdenkonflikt: Die Türkei hat mit ihrem Einmarsch 2019 in den Nordosten Syriens das kurdische Autonomieprojekt der PYD („Rojava“) geschwächt. Die PYD-geführten Milizen (SDF) mussten teilweise in südlichere Gebiete ausweichen. Seit 2019 haben die rivalisierenden kurdischen Kräfte der PYD und des pro-oppositionellen Kurdischen Nationalrats (KNR) unter französischer und US-amerikanischer Vermittlung Gespräche aufgenommen, um innerkurdische Spannungen zu reduzieren – bisher ohne großen Erfolg.
Der Kampf um die regionale Vorherrschaft: Iran verfolgt weiter die Konsolidierung der schiitischen Präsenz in Syrien (z.B. gezielte Ansiedlung, Kauf von Land und Immobilien). Ziel ist die Aufrechterhaltung der Landverbindung von den schiitischen Gebieten im Irak über Syrien bis hin zum Einflussbereich der schiitischen Hisbollah im Libanon ("schiitischer Halbmond"). Saudi-Arabien ist inzwischen von seiner harten antiiranischen Position abgerückt und sucht nach neuen Allianzen. Die Türkei setzt vor allem auf ein Arrangement mit Russland, um ihren Einfluss auf den Norden Syriens zu konsolidieren.
Die Rivalität zwischen den globalen Großmächten: Russland und China stellen sich gegen die Syrien-Politik der USA. Sie wollen den Sturz des Regimes verhindern und haben mehrfach seine Verurteilung wegen Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen auf UN-Ebene verhindert.
Die Flüchtlingskrise: Besonders in den Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Türkei), aber auch in der EU, entstehen durch den Zustrom von über 6 Mio. syrischen Flüchtlingen neue (innen-)politische Probleme und Fronten bei gleichzeitiger Uneinigkeit darüber, wie der Syrien-Krieg beendet werden kann.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
UN-Vermittlungen wirken vor diesem Hintergrund macht- und erfolglos. Die Genfer UN-Gespräche auf der Grundlage der Resolution 2254 (2015) des Sicherheitsrates sind durch den übergeordnete globalen Systemkonflikt zwischen Russland (sowie China) und dem Westen weitgehend blockiert. Ohne die konstruktive Mitwirkung Russlands und der Türkei sowie den Druck einer geeinten und handlungsfähigen syrischen Opposition sind Fortschritte kaum möglich.
Seit November 2019 versucht der norwegische Diplomat Geir Pedersen, der inzwischen vierte UN-Sondergesandte zu Syrien, zumindest ein Verfassungskomitee aus Vertretern der Regierung, der gemäßigten Opposition und der Zivilgesellschaft zusammenzubringen. Ziel ist, unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eine neue Verfassung zu diskutieren, auf deren Grundlage faire Wahlen durchgeführt und politische Reformen umgesetzt werden könnten. Wichtige andere Themen der Resolution 2254, wie die Reform des Sicherheitssektors und die gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus, werden ausgeblendet.
Neben dem UN-Kontext kommen folgende weitere Handlungsansätze für die Bearbeitung des Konflikts infrage:
Fortsetzung der Genfer UN-Gespräche auf der Grundlage der UN-Resolution 2254 (2015), um ein in Zukunft mögliches internationales Momentum nutzen und den politischen und wirtschaftlichen Druck auf das syrische Regime aufrechterhalten zu können. Eine weitere Option würde ein stärkeres Engagement der arabischen Staaten nach der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga in 2023 eröffnen.
Kurzfristig besteht ein gemeinsames westliches und arabisches Interesse daran zu verhindern, dass Syrien in den Konflikt zwischen Israel und dem Iran hineingezogen wird. Denn in diesem Fall könnte es zu verschärften militärischen Auseinandersetzungen zwischen pro-iranischen Milizen und der israelischen Armee nicht nur im Libanon, sondern auch in Syrien kommen. Ein solcher Krieg würde Syrien wirtschaftlich zusätzlich schaden und Fluchtbewegungen im Innern und in der Region verstärken.
Wenn es nicht gelingt, Syrien und die Region zu stabilisieren, könnten der Islamische Staat und Al-Qaida das entstehende Machtvakuum in den weiterhin umkämpften Gebieten nutzen, um ihren Einfluss wieder auszuweiten. Wegen seiner punktuellen Zusammenarbeit mit dem IS ist Assad dabei eher ein Teil des Problems als der Lösung.
Seit Jahren wird darüber gestritten, ob die internationale Unterstützung des Wiederaufbaus bereits vor einem politischen Abkommen oder erst nach einem echten politischen Neuanfang einsetzen soll. Bei der ersten Option droht eine weitere Destabilisierung, bei der zweiten, so warnen Kritiker, könnte das investierte Kapital hauptsächlich in die Kriegswirtschaft und in die Taschen der syrischen Machtelite fließen.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer sind Gerichtsverfahren in Deutschland, Frankreich und anderen Staaten, in denen Verantwortliche des Assad-Regimes für Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Weltweit zum ersten Mal stand im April 2020 ein Handlanger des syrischen Präsidenten Assad, dem schwere Folter vorgeworfen wird, im Ausland vor Gericht: In Koblenz wurde ein ehemaliger Geheimdienstchef, der 2014 als Flüchtling nach Deutschland gekommen war, verurteilt. Syrische Menschenrechtler, deutsche und internationale NGOs arbeiten an weiteren Anklagen.
Geschichte des Konflikts
Bis zu Beginn der Unruhen Mitte März 2011 glaubten viele Beobachter nicht an eine Revolte in Syrien. Ideologisch stand das Volk, das jahrzehntelang durch eine anti-israelische und panarabische Ideologie beeinflusst wurde, in der Tat näher zum Regime als in den pro-westlichen Autokratien, wie Tunesien oder Ägypten. Doch auch in Syrien hatte sich die Wut über Korruption, Willkürherrschaft und schlechte Lebensbedingungen angestaut. Vor allem war durch die Bilder von mutigen Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und Libyen die Angst vor dem Regime geschwunden.
Die syrische Gesellschaft vor dem Krieg war ein buntes Mosaik politischer und religiöser Gruppen. Der Assad-Clan gehört zur Minderheit der Alawiten (ca. 12%). Auch wenn bei weitem nicht alle Alawiten Assad unterstützten, fürchteten viele nun die Rache konservativer und radikaler Sunniten. Im Jahr 1982 hatte Hafez al-Assad, der Vater und Amtsvorgänger des heutigen Präsidenten, in Hama ein Massaker angerichtet, dem viele Tausend Sunniten zum Opfer gefallen waren. Ziel war die Niederschlagung eines aufflammenden Aufstands der Muslimbrüder.
Die übrigen Minderheiten, wie Christen und Drusen, unterstützten, zumindest in ihrer Mehrheit, ebenfalls das säkulare Regime der Baath-Partei, da sie eine Vormacht radikal-islamischer Sunniten fürchteten. Das Assad-Regime hatte zwar die gemäßigte sunnitische Handelsklasse an sich binden können, doch begann mit dem Aufstand auch diese Allianz zu bröckeln. Zuletzt haben das Ausmaß an Zerstörung und Leid, die große Angst vor Radikalismus und einer ungewissen Zukunft in Teilen der Bevölkerung den Rückhalt für den Aufstand geschwächt und dem Assad-Regime in die Hände gespielt.