"Mehr als 100 Firmen stellen derzeit 150 Massenartikel her, auf denen die Konterfeis oder die Namen der vier Beatles prangen: Damenstrümpfe, Luftballons, Pullover, Slips und Hemden, Schuhe, Hüte, Hosen, Jacken, Keksverpackungen, Limonadengläser und Schals, Eierbecher, Puppen, Kaugummipäckchen, Broschen und Ringe – und natürlich die 'Original'- Beatles-Perücken."
Die Beatles erzielten bis Mitte der Sechzigerjahre mit 150 Millionen verkauften Platten einen Umsatz von umgerechnet mehr als zwei Milliarden DM. Die Zahl ihrer Fans wurde auf 360 Millionen geschätzt. Von ihren bis dahin 88 Songs waren 2.921 Coverversionen anderer Bands erschienen. Dazu gab es allein in Deutschland Tausende von Amateurbeatbands, die ihr Repertoire ausschließlich live präsentierten. Allein in Göttingen und Umgebung existierten laut Dieter Baacke rund 60 Beatformationen, in Essen 100, in Hannover rund 200 Bands und 20 "Beatkeller". Hans-Jürgen Klitsch nennt in seiner voluminösen Beatmonographie 84 Berliner Bands, 78 aus Hamburg, 39 aus Gelsenkirchen ... In Recklinghausen, Frankfurt am Main und im Hamburger Star-Club fanden Jahr für Jahr große Beatfestivals statt, so genannte Beat-Battles gehörten zum Veranstaltungskalender vieler Jugendheime und Lokale mit jugendlichem Publikum.
Beat
Nach dem Rock'n'Roll der Fünfzigerjahre entstand ab 1963 mit der Beatbewegung nun die zweite Musikkultur, die "alleiniges Eigentum der Jugend" war. "Wieder schaffen sich die Jugendlichen hier ihre eigene kulturelle Welt und entziehen sich damit den Vorschriften und Verboten, die die Gesellschaft für sie vorsieht. Sexualität, Alkohol, Rauchen, früher Privilegien der Erwachsenen, sind fortan Teil des jugendlichen Alltags, ob es die Eltern wollen oder nicht."
Wieder ist es nicht politische Opposition (die Mehrzahl der Jugendlichen dachte politisch ohnehin nicht anders als ihre Eltern), sondern eine alltagskulturelle Rebellion, die die Gemüter erhitzt. "Obwohl die 'Beat-Kids' im Vergleich zu den Halbstarken der Fünfzigerjahre weit weniger aggressiv rebellierten und kaum gewalttätig waren, reichte ihre Provokation doch weiter."
Ein bedeutender Umbruch in der Diskussion ergab sich 1962: Die Antibabypille kam auch in Deutschland in den Handel. Die Fronten entspannten sich nun ganz gewaltig: Beate Uhse eröffnet noch im gleichen Jahr in Flensburg ihr erstes "Fachgeschäft für Ehe-Hygiene", Oswalt Kolle wird mit Filmen wie "Dein Mann/Deine Frau, das unbekannte Wesen" oder "Das Wunder der Liebe – Sexualität in der Ehe" zum bekanntesten Missionar in Sachen Sexualaufklärung und der "Kinsey-Report" zum Sexualverhalten der Frau steht in mehr als 100.000 deutschen Haushalten. Das Gespräch über "die schönste Nebensache der Welt" war plötzlich en vogue. Die Sitten lockerten sich. Die Rocksäume der Mädchen rutschten immer höher, der Mini wurde geboren.
Doch Vorsicht vor falschen Mythen über die "freizügigen Sechziger": Die neue Liberalität erreicht noch längst nicht alle Schichten und Altersgruppen der Gesellschaft. Noch immer versuchen viele Erwachsene, das Rad der Zeit zurückzudrehen – manchmal mit etwas skurrilen Methoden. So lässt ein Kinobetreiber bei der Vorführung des ersten Oswalt-Kolle-Films ein Seil mitten durch den Saal spannen. "Auf die linke Seite des Seils setzt er die weiblichen und auf die rechte die männlichen Besucher. Die ersten beiden Plätze links und rechts jenseits der Seite bleiben frei. Sicher ist sicher, lautet die Devise. Moral und Anstand werden so zumindest für die Dauer des Films gewahrt."
"Meine Freundin hatte mir einen Knutschfleck am Hals gemacht – meine Mutter ging zur Mutter dieses 'Flittchens', machte eine irrsinnige Szene, wurde rausgeschmissen, mir wurde jeder Kontakt mit meiner Freundin verboten – es hätte meine Mutter nicht gewundert, wenn diese 'Hure' bald ein Kind von mir gekriegt hätte. (Anderthalb Jahre später habe ich das erste Mal mit einem Mädchen geschlafen.)"
Für die Mehrzahl der Jugendlichen war die Beatmusik ein Angebot des Freizeitmarktes, nicht mehr. Erst die überzogenen Reaktionen der Erwachsenenwelt luden an sich harmlose Freizeitvergnügungen und Modetrends mit rebellischen Interpretationsmustern auf.
"Im Schülerheim, in dem ich nach der Scheidung meiner Eltern wohnte, hatten wir alle die Wände um unsere Betten mit Bildern und Postern von Stones, Beatles usw. beklebt. Bei einem Besuch riss meine Mutter vor den Augen der anderen Jungs die Bilder über meinem Bett ab, zerknüllte sie und verließ wortlos das Heim. Was ich da empfand an Wut, Demütigung, an Verlassenheit ..."
"Der Beat trennte uns von den Eltern, er gab uns Identität, er gab uns Ausdrucksmittel – er machte das UNS. In aller Vereinzelung schaffte der Beat die Gemeinsamkeit, den Zusammenhang, das Wir-Gefühl derer, die die gleiche Musik liebten, die Haare lang trugen, das gleiche feeling hatten, unter der gleichen Verachtung litten. Der Beat wollte nur uns, die Jugendlichen ansprechen, er war nicht für alle, nicht für die Eltern, die Alten, die Reaktionäre, die Gefühllosen und auch nicht für die Pfadfinder, die ordentlichen Kinder, die mit ihren Eltern Hausmusik machten, die nicht neugierig waren auf die Wirkung des Alkohols, die Bügelfalten in den Hosen hatten und auf den Köpfen kurze Haare. Der Beat trennte uns von den Alten und den Anderen. Er war der mächtige Geburtshelfer der neuen Teilkultur der Jugendlichen, er gab uns Ausdruck und Identität. Aber erst der erbitterte Kampf der Alten machte den Beat zum Ausdruck und zur Identität GEGEN die Alten, die Bürger, die anderen."
Bereits Mitte der Sechzigerjahre erzielte der Beat diese empathische Wirkung nur noch bei einer Minderheit der Jugendlichen. Denn die Beat-Fans waren inzwischen zur dominanten Jugendkultur aufgestiegen, quer durch alle Schichten und sozialen Milieus, von den Älteren mehr belächelt als gefürchtet. So präsentiert selbst Springers spießig-konservative Fernsehillustrierte "Hör zu" auf ihrem hauseigenen Label Ende 1965 anlässlich der Deutschland-Tour der Rolling Stones eine eigene LP der "härtesten Band der Welt": "... zu viele messen die neue Zeit mit alten Maßstäben. Und es gehört eine Menge Mut dazu, gegen Vorurteile anzurennen. Mick, Keith, Brian, Bill und Charlie sind fünf Individualisten, die als Rolling Stones weltberühmt wurden. Die Jugend jubelt ihnen zu, und manchmal gehen in der Begeisterung für sie ein paar Stühle kaputt. Die Welt wird jedenfalls durch Idole wie die Rolling Stones nicht in Scherben fallen." (aus dem Backcover-Text)
Doch wie immer, wenn eine Subkultur prächtig gedeiht und wächst, schließlich die von der Mehrheitsgesellschaft um sie herum aufgebauten Mauern sprengt und sich mit dem Mainstream vermischt, spalten sich erneut kleinere Subkulturen ab: die Härteren, die statt der Beatles zukünftig lieber The Doors oder Jimi Hendrix hörten, und diejenigen, die ihre Musik- und Modeleidenschaft (wieder) zu einem ganzheitlichen Lebensstil verdichteten. Zum Beispiel die Gammler.
Die Gammler
"Dann kamen die Gammler. Sie probten keinen Aufstand, sie erhoben sich nicht. Sie legten sich nieder. Die jungen Helden waren müde. Sie kreierten die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten: den Müßiggang."
An den Gammlern, die spätestens seit 1964 zum alltäglichen Bild der europäischen Metropolen gehörten, schieden sich die Geister: "Die Gammler waren in Haltung und Kleidung lebendiger Protest. Ungepflegt und teilweise heruntergekommen, störten sie das bürgerliche Sauberkeitsempfinden entschieden; ihr langes Haar attackierte das Image vom männlichen Mann mit Familie, Haus, Besitz und Erfolg. Was der Gammler war und besaß, zeigte er ungeniert und trug er bei sich. Öffentlich stellte er die Leistungsgesellschaft infrage, indem er sich ob der Sonne freute, las oder musizierte, wenn die Gesellschaft mit Arbeit und Fleiß ihr Sozialprodukt mehrte. Ohne die Autorität unmittelbar zu verhöhnen, verhöhnte der Gammler sie doch, weil er Normen, Regeln und Tabus verachtete."
Dabei waren die Gammler weder aggressiv wie die Halbstarken der Fünfzigerjahre noch politisch wie die sich unter anderem aus den Gammlern formierende Hippie-Kultur. Die Gammler wollten die Welt nicht programmatisch verändern, sondern im Grunde nur in Ruhe gelassen werden, selbst zumeist der Mittelschicht entstammend, aus dem aufgezwungenen Kanon der so genannten "Pflichten" aussteigen. "Seht mal, das Ganze ist nämlich eine Welt von Rucksackwanderern, die sich weigern zu unterschreiben, was die Konsumgesellschaft fordert: dass man Produziertes verbrauchen soll und daher arbeiten muss, um überhaupt konsumieren zu dürfen, das ganze Zeug, das sie eigentlich gar nicht haben wollen, wie Kühlschränke, Fernsehapparate, Wagen, zumindest neue Wagen zum Angeben, bestimmte Haaröle und Parfüms und lauter solchen Kram, den man schließlich immer wieder eine Woche später auf dem Mist wiederfindet, alle gefangen in einem System von Arbeit, Produktion, Verbrauch, Arbeit, Produktion, Verbrauch, ich habe eine Vision von einer großen Rucksackrevolution, Tausende oder sogar Millionen junger Amerikaner, die mit Rucksäcken rumwandern, auf Berge gehen, um zu beten, Kinder zum Lachen bringen und alte Männer froh machen, junge Mädchen glücklich machen und alte Mädchen noch glücklicher, alles Zen-Besessene, die rumlaufen und Gedichte schreiben und die durch Freundlichkeit und auch durch seltsame, unerwartete Handlungen ständig jedermann und jeder lebenden Kreatur die Vision ewiger Freiheit vermitteln".
Die Gammler inszenierten ihren Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft nur für sich selbst, sie "wollte(n) nicht Macht erobern, sondern sich von deren Einfluss befreien. Solches reichte indessen schon, um das System zu beunruhigen."
Die Provos
Die Provos "setzten den impulsiven Widerstand der Gammler in bewusste und vorsätzliche Provokation des Systems um. (...) Sie leisteten die ersten bewussten und ausdrücklich politisch-rational angelegten Ansätze, alternative Strukturen einzurichten."
Provos in den Niederlanden, der Geburtsstätte dieser Bewegung, bezeichneten sich selbst als "Jugendbewegung, die agitiert, provoziert und Unruhe stiftet". Wie schon die Gammler bildeten die Provos keine feste Organisation, sondern "eine ebenso bunte wie heterogene Menge ähnlich gesinnter Jugendlicher ohne Führung, Hierarchie, Apparat oder Hauptquartier. Planung, Berechnung, Organisation und Kaderbildung waren den Provos ein Greuel."
Die heile Bravo-Welt
Zeitschriften des Springer-Konzerns. (© AP )
Zeitschriften des Springer-Konzerns. (© AP )
Organisierte Konsumverweigerung – das ging selbst "Bravo" zu weit. Das einstige Sprachrohr der Rock-'n'-Roll-Jugend versuchte jetzt eifrig zu bremsen. So empfahl "Bravo", als britische Teenager angesichts der Beatles bereits serienweise in Ohnmacht fielen: "Die Teens und Twens von heute haben das Blue-Jeans-Benehmen ausgewachsen und tragen wieder Herz und Höflichkeit, frisierte Köpfe, fesche Kleider und frische Bügelfalten."
"Die weit größeren Bürgerschrecks standen den Eltern erst noch bevor: die Rolling Stones. Sie waren noch kompromissloser, noch radikaler, 'vergammelter' und obszöner. Sie gebärdeten sich sexuell in nicht misszuverstehender Eindeutigkeit, führten mit ihren Unterkörpern Bewegungen aus, die bei den sauber herausgeputzten Stars der vergangenen Jahre undenkbar gewesen wären, ihre Haartracht war noch wilder als die der Beatles und sie trugen im Gegensatz zu ihren Konkurrenten – damals schier unvorstellbar! – nicht einmal eine Krawatte. 'I can´t get no Satisfaction', so lautete ihr Schlachtruf, mit dem sie weltweit die Bestsellerlisten stürmten."
Nur nicht die der "Bravo". "Sie lassen sich die Haare ungekämmt und unappetitlich auf die schmalen Schultern hängen. Sie stecken in erbarmungswürdig schäbigen Anzügen. Und sie sehen überhaupt höchst verhungert und verkommen aus!" kanzelte "Bravo"
"Bravo", seit Juli 1965 im Besitz von Axel Springer, entwickelte sich im Laufe der Sechzigerjahre immer deutlicher zum Sprachrohr der Spießer. "Es ist eine heile, nette Welt, die Bravo-Lesern vorgegaukelt wird. Da gibt es keinen Krieg in Vietnam, keinen Hunger in der Welt, keine Rassenkrawalle in Amerika und keine Studenten-Rebellionen in Berlin, Frankfurt und München. Während andere Springer-Zeitungen die jungen Rebellen an den Universitäten als 'verrückte Halbstarke' abkanzeln, verlangt Bravo, 'dass es an der Zeit ist, ein Vorurteil zu korrigieren'."
"Die Jugend" ist in Wirklichkeit nett und brav, lautet die Botschaft. So erwiesen sich auch die Stars, die "Bravo" präsentierte, stets als wohlanständige, moralisch einwandfreie, prüde Jungs und Mädchen. Selbst Mick Jagger mutierte in "Bravo" zum "treuen Lebensgefährten", und die Ehefrau von Stones-Bassist Bill Wyman durfte zu Protokoll geben, ihr Bill sei "kein Schmutzfink" und wasche seine Haare täglich. "Meine Frau müsste immer für mich da sein und dürfte keine anderen Interessen als ihre Familie haben", ließ sich Filmstar Robert Hoffmann zitieren – eine von unzähligen Aussagen, mit denen die "Bravo" ihr Hauptkampffeld der Sechzigerjahre bestückte, die befürchtete Auflösung tradierter Geschlechterrollen und damit die Emanzipation der Frauen.
"Wahre Orgien an Moral und Biedersinn legten sie ihrem neuen Lieblingsstar in den Mund: Roy [Black; kf] wetterte gegen Mädchen, die rauchen, die ihr Äußeres nicht genügend pflegen, die sich allzu aufreizend schminken oder die 'nur an das eine denken'. Nichts war für ihn verabscheuungswürdiger als 'superkurze Miniröcke. Weil sie ungraziös sind und weil sie mich immer an die kaltkessen Anbiederungsversuche einer Profi-Koketten erinnern.' An Jungs verabscheute er ungepflegte Kleidung und lange Haare. 'Ich finde ja auch kein Mädchen schön, das sich die Haare militärisch kurz schneidet und einen Scheitel zieht und alles fest am Schädel anklatscht. Denn das ist männlich. Und fließend lange Haare sind weiblich.' Selbst gegen Bestrebungen, der Prüderie der Nachkriegsära ein halbwegs ungezwungenes Verhältnis zur Sexualität entgegenzusetzen, wetterte Saubermann Roy Black energisch: 'Ich bin dagegen, dass Kinder ihre Eltern nackt sehen. Der Abstand, der zwischen Vater und Mutter und Kindern bestehen sollte, geht damit verloren.'"
Merkwürdigerweise existieren von Roy Black, der seine Karriere als Rock-'n'-Roll-Sänger begann, auch ganz andere Zitate. So sprach er sich zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg aus ("Dieser Krieg ist grausam und rechtmäßig von Amerika nicht mehr zu vertreten") oder "absolut für die Anti-Baby-Pille. Und sie sollte auch nicht nur an verheiratete Frauen ausgegeben werden, sondern an jedes Mädchen – sagen wir frühestens ab achtzehn –, das sie haben will." Gäbe es eine Anti-Baby-Pille für Männer, "würde ich sie nehmen"
Ein sexuelles Leben hatten "Bravo"-Stars grundsätzlich nicht. Noch bis in die späten Sechziger hinein wurde das Thema weitgehend gemieden, und wenn es mal angesprochen wurde, dann im Stil katholischer Ratgeber für junge Mädchen aus den Fünfzigerjahren. Selbstbefriedigung sei eigentlich "Selbstbefleckung", warnt "Bravo" in einer Ausgabe von 1966, denn sie "bringt keinen Frieden, im Gegenteil, sie löst fast immer ein Gefühl innerer Leere und tiefer Niedergeschlagenheit aus". Mädchen könnten davon sogar "frigid" werden, "sie eignen sich nicht mehr, eine gute und erfüllte Ehe zu führen."
Das Gleiche gilt für Petting: "Ein Mädchen, das lange und ausdauernd Petting betrieben hat – meist bleibt es ja auch da nicht bei einem Partner – wird verdorben und ist verdorben."
Nachdem jedoch das Missverhältnis zwischen den von Bravo vertretenen Positionen und denen ihrer Käuferinnen und Käufer immer auffälliger wurde (so hatten etwa 1968 in einer Umfrage 89 Prozent der Jungen zwischen 15 und 20 Jahren mitgeteilt, sie würden auch ein Mädchen heiraten, das keine Jungfrau mehr ist), schwenkte "Bravo" um und die "junge schwedische Ärztin Kirsten Lindstroem" durfte 1969 in der Serie "Liebe ohne Geheimnis" verkünden: "Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland von den Mädchen verlangt wurde, sie sollten ihre Unschuld bis zur Trauung bewahren und als Jungfrau vor den Standesbeamten treten. Mit dieser doppelten Moral ist es nun endgültig vorbei."
Den nötigen Denkanstoß für die Umorientierung von "Bravo" hatte wie üblich nicht die Redaktion gegeben, sondern die Marketingabteilung. Die hatte nämlich feststellen müssen, dass sich die Käufer von "Bravo" zunehmend aus der Altersstufe unter 14 Jahren rekrutierten – und die verfügten seinerzeit noch nicht über das notwendige Taschengeld, um all die schönen Waren zu kaufen, für die Unternehmen in der "Bravo" warben. Der Konservatismus und die Prüderie der "Bravo"-Redaktion war spürbar schlecht fürs Geschäft: Es wurde für "Bravo" immer schwieriger, Anzeigenkunden zu finden. Da legte eine vertrauliche Leseranalyse den Verlegern "den Zeitpunkt dar, zu dem viele Jugendliche die Lektüre ihrer Star-Postille aufgaben: sobald sie nämlich begannen, sich für Sex zu interessieren."
Schon wenige Monate danach, in der Ausgabe 43/1969, war es dann so weit – "Bravo" baute sich, wie es später in einer Verlagserklärung heißen wird, "ein zweites Bein" auf, das neben dem Starkult "zu einem zweiten tragenden Element in 'Bravo' geworden ist": "Ein Mann von heute spricht mit den 'Bravo'-Lesern über ihre Sorgen und Probleme: Dr. Sommer."
Die Hippies
Hamburger Künstlerwohnung 1966: Die so genannten Hippies propagierten ein von bürgerlichen Tabus befreites Leben. Im Vergleich zur 68er-Bewegung dominierten dabei stärker individualistische Selbstverwirklichung als gesellschaftspolitische Konzepte. (© Günter Zint)
Hamburger Künstlerwohnung 1966: Die so genannten Hippies propagierten ein von bürgerlichen Tabus befreites Leben. Im Vergleich zur 68er-Bewegung dominierten dabei stärker individualistische Selbstverwirklichung als gesellschaftspolitische Konzepte. (© Günter Zint)
Der passive Ausstieg der Gammler und Beatniks und das bloße Provozieren der Gesellschaft durch Happenings und andere Aktionen der Provos reichten den Hippies nicht mehr. Wer Freiheit und Glück suche, müsse dieser Gesellschaft radikal und ganzheitlich den Rücken zuwenden. Statt zu versuchen, die Gesellschaft von innen zu reformieren, wollten sie aus ihr aussteigen und eine Gegengesellschaft aufbauen, deren positive Ausstrahlung schon bald vor allem Gleichaltrige ebenfalls zum Ausstieg motivieren sollte. Die Mehrzahl der Hippies war eigentlich nicht "politisch" motiviert, doch bald merkten sie, dass man aus der Mehrheitsgesellschaft nicht aussteigen kann, ohne politisch zu werden. Denn anders als die Gammler wollten sie nicht nur dem Leistungsdruck der Gesellschaft entfliehen, sondern zugleich neue, menschlichere Lebensweisen und Umgangsformen finden. Doch der Mehrheitsgesellschaft der Sechzigerjahre fehlte das Selbstbewusstein, die "Fliehenden" einfach ziehen zu lassen, und so betrachtete sie jegliche Suche nach einem eigenen Lebensstil fernab der vorgegebenen Standards (Lohnarbeit, Kleinfamilie, Konsumfreude) bereits als radikalen politischen Angriff.
Das Ziel der Hippies war eine "antiautoritäre und enthierarchisierte Welt- und Wertordnung ohne Klassenunterschiede, Leistungsnormen, Unterdrückung, Grausamkeit und Kriege. Der Gesellschaft der Angst, wo ein jeder sich vor dem Vorgesetzten, dem Nachbarn, der Polizei, dem Schicksal und dem Anonymen fürchtet, boten die Hippies mit einer Gemeinschaft Paroli, in der die Freiheit die Autorität, Zusammenarbeit den Wettbewerb, Gleichheit die Hierarchie, Kreation die Produktivität, Ehrlichkeit die Heuchelei, Einfachheit den Besitz, Individualität den Konformismus und Glück den platten Materialismus dominieren sollten".
Ihr Blick richtete sich jedoch weniger auf ein anderes System als auf die Veränderung des einzelnen Menschen. Der Kapitalismus, so ihre zentrale Weltanschauung, hatte "nur die materielle Seite des Lebens entwickelt und Seele und Geist verloren. Alle Werte wurden ihres Inhalts entleert und erstarren in bloßer Rhetorik. Die Menschen degenerierten zu Empfangsstationen einer entseelten Bürokratie."
Armut und Unterdrückung sahen die Hippies eher global, bei ganzen Völkern, möglichst solchen, die weit entfernt lebten und sich so aufgrund nicht vorhandener realer Kontakte und Kenntnisse hervorragend zur Idealisierung und Mystifizierung eigneten wie etwa die Indianer Nordamerikas. Die Realität vor der eigenen Haustür interessierte die meisten weniger. Die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen selbst aus privilegierten Verhältnissen kam, freiwillig ausgestiegen war und materielle Dinge verachtete, machte sie häufig blind für soziale Probleme um sie herum.
"Armut" bekam bei ihnen fast etwas Erstrebenswertes, eine Ambivalenz, die sich auch in ihrem Stil ausdrückte: "Überall in der Kleidung der Hippies gab es neben den Symbolen des Überflusses Symbole der Armut. Besonders prächtige Kleidungsstücke waren fleckig, schmutzig oder zerknittert; damit wurde verleugnet, dass sie einen Stellenwert in irgendeiner klassenbedingten Vorstellung von Kleidung hatten. Schlechte Stoffe, farblose Hemden, abgewetzte Jeans, Jacken oder Westen aus Jeansstoff waren sorgfältig gewaschen und gereinigt; so sollte jede Assoziation mit Armut vermieden werden. Mit nackten Füßen trotzten sie den kältesten Tagen, doch wenn es sehr heiß war, hüllten sie sich in dicke Schaffellmäntel, schwere Umhänge und knöchellange Strickjacken."
Natürlich spielte auch Musik im Leben der Hippies eine große Rolle. Sie mochten vom Blues beeinflussten, auf einer kraftvollen, oft virtuos beherrschten Leadgitarre aufbauenden Heavy Rock à la Cream oder Led Zeppelin, besonders aber, wenn sich darin – wie im so genannten Acid Rock – LSD- und andere psychedelische Erfahrungen deutlich widerspiegelten (Doors, Grateful Dead, Jimi Hendrix, Jefferson Airplane und andere in Amerika, "intellektueller" und weniger rockig Pink Floyd in Großbritannien). Frank Zappa war seit seiner LP "Freak Out" (1966) der rebellische Gott aller Underground-Fraktionen und betrachtet noch heute von Tausenden von Wohngemeinschafts-(Klo-)Wänden ein wenig überrascht den Wandel der Geschichte.
Hippies hörten LPs, nicht Singles, am liebsten sogar programmatische Themen- oder Konzeptalben wie "Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band" von den Beatles - 1967 ein Meilenstein im Aufbrechen alter musikalischer Muster, nach späteren Aussagen der Band allerdings gar nicht als Konzeptalbum konzipiert, eine LP, die vielen Hippies den Weg in die Szene ebnete – "Happy Jack" (1967) und "Tommy" (1969) von The Who – also Produktionen, die nicht mehr öffentlich, etwa in Klubs und Discotheken, konsumiert wurden, oft auch nicht mehr live aufgeführt werden konnten, sondern eine konzentrierte Zuhörerschaft erforderten, die "sich nicht viel bewegt, still dasitzt, sich nicht mit anderen Dingen beschäftigt und bereit ist, beträchtliche Zeit allein der kritischen Rezeption von Musik zu widmen".
Auch einzelne Songs wurden immer länger (etwa "In-a-gadda-da-vida" von Iron Butterfly oder "Live Dead" von Grateful Dead, der gleich drei Plattenseiten füllte), die Texte immer wichtiger, zugleich aber auch abstrakter, transportierten zum Beispiel nur noch Traumbilder (wie etwa diverse Songs von John Lennon) und verweigerten sich der eindeutigen Interpretation. Bei Konzerten kamen komplexe Lichtanlagen, Filmausschnitte, Dias, Texteinspielungen vom Tonband zum Einsatz, asymmetrische Rhythmen und Verzerrereffekte machten Tanzen unmöglich. Die Musik der Hippies war immer mehr Nahrung für den Geist, nicht für den Körper.
"Überraschung, Widerspruch und Unsicherheit waren genau das, was die Hippies in ihrer Musik hoch einschätzten. Sie wollten überrascht und verunsichert werden. Der allgemeine Ruf nach Klarheit in der Popmusik war ihnen fremd. Sie vertrauten ihrer Musik vor allem deswegen, weil deren Komplexität und Schwierigkeit das logozentrische Denken in Schach hielt und spirituelle Bedeutungsgehalte nahe legte, ohne diese auf eine Weise klären zu wollen, die sie unweigerlich reduziert hätte. Statt 'Bedeutung' gab es in dieser Musik eine Vieldeutigkeit, die genügend Ansatzpunkte, Gesten und Hinweise barg, um einer Gruppe, deren Denken bereits in diese Richtung ging, eine spirituelle Interpretation zu ermöglichen."
Die Waffe des Systems war die Rationalität, die kalte Logik der Leistungs- und Warengesellschaft. Das Gegenmittel der Hippies logischerweise spirituelle Intensität, Fühlen statt Denken. "Protest und Leben der Hippies waren optimistisch, bunt, gewaltfrei, fröhlich. Ihre Ablehnung der westlichen Industriekultur total. So wurden auch Logik, Rationalität, Systematik und Zweckbestimmheit der westlichen Kultur abgelehnt, der Protest war intuitiv, gefühlsbetont, unsystematisch, hedonistisch. Nicht Analyse, nicht Marx und Marcuse waren interessant, sondern Intuition, Spontaneität, unvermittelte Theorie und Praxis, direkte Erfahrung. Kreativität, Gemeinschaft und Freunde bestimmten die Hippies, sie versuchten zu lernen, sich wieder über kleine Dinge zu freuen: Tautropfen, Sonnenstrahlen, eine Perle, Blumen, Farben – und sie veräußerlichten ihre Haltung in ihrer bunten Kleidung, in ihrem Lächeln, ihren Blumen."
Um die Fähigkeit zum entspannten Genuss der kleinen Freuden des Alltags zu steigern, nutzten die Hippies (und viele andere, vorwiegend langhaarige Jugendliche weit über die Szene hinaus) gerne Marihuana als Hilfsmittel, das wahlweise als "Gras", "Hasch", "Joint", "Pot", "Mary Jane", "Shit" oder "Ganja" firmierte. Neben Marihuana sollte vor allem das (halb)synthetische Halluzinogen LSD ("Acid") den von der Gesellschaft verkrüppelten Hippies die "Pforten der Wahrnehmung" (Aldous Huxley) öffnen. "LSD kann ein politisches Kampfmittel sein. Wer es nimmt, sollte sich aber darüber klar sein, dass er sich damit Erfahrungen und Einsichten aussetzt, die seine bisherigen Erfahrungen und Einsichten zu widerlegen imstande sind, was zum Ausgangspunkt eines psychischen Konflikts werden kann. Nur der sollte LSD nehmen, der eine gesellschaftliche Vorausentscheidung getroffen, sich zum Drop Out entschlossen und damit der bestehenden Ordnung sowieso schon den Kampf angesagt hat."
Auf ihren chemisch verstärkten Abenteuerreisen ins eigene Selbst entdeckten die Hippies völlig neue Welten – und vergaßen darüber allerdings häufig die äußere Welt. "Psychedeliker neigen dazu, sich sozial passiv zu verhalten", musste selbst der Hippie-Kultautor und LSD-Prophet Timothy Leary zugestehen. So stellten sie letztlich eher ein dankbares Rekrutierungsfeld für neue religiöse Bewegungen dar als eine "Reservearmee der Revolution". "Die Hippies tragen zur Verschönerung des Kapitalismus bei, nicht zu seiner Abschaffung", kritisierte denn auch der linke Berliner Extra-Dienst.
Quelle: Klaus Farin: Jugendkultur in Deutschland 1950 - 1989, Bonn 2006. Aus der bpb-Reihe "Zeitbilder".