Russlands Position im Konzert der großen europäischen Mächte brachte die russischen Oberschichten in engen Kontakt mit dem geistigen und politischen Leben des Kontinents. Die Rezeption von Ideen aus der Welt der französischen Revolution und des nationalstaatlichen Erwachens in West- und Mitteleuropa führte zu einer Entfremdung zwischen Teilen der europäisierten Oberschicht und dem autokratischen Regime. Die Spannungen fanden zunächst Ausdruck im Dekabristenaufstand 1825, bei dem adlige Offiziere die Inthronisierung von Nikolaj I. zu verhindern suchten, und seit etwa 1830 in der Debatte zwischen "Westlern" und "Slawophilen". Während erstere die Öffnung gegenüber dem "Westen" guthießen und Russlands Heil vom Hineinwachsen in diesen "Westen" erwarteten, betonten die Slawophilen slawische und orthodoxe Traditionen und sahen die Zukunft des Landes in der Rückkehr zu diesen Wurzeln.
In dieser Auseinandersetzung trat erstmals eine Gruppe hervor, die den gesellschaftlichen Konflikten in Russland bis weit in das 20. Jahrhundert Form und Ausdruck gab - die Intelligenzija. Dieser Begriff bezeichnet nicht so sehr eine soziale Schicht, als vielmehr eine Ideengemeinschaft, die ihre soziale und politische Identität aus der gemeinsamen Weltsicht gewann. Ihr Selbstverständnis stützte sich auf drei Leitgedanken: den Willen, die autokratische Zarenherrschaft zu stürzen, das Bewusstsein der Verantwortung für sozial Schwächere und den Glauben, über eine wissenschaftlich fundierte Weltanschauung zu verfügen. Aus der Intelligenzija heraus formten sich jene politischen Gruppierungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Kampf mit dem zarischen System aufnahmen.
Sturz der Zarenherrschaft
Im Krimkrieg (1853-1856), den Russland gegen das Osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien führte, erwies sich das Zarenreich gegenüber den europäischen Großmächten als militärisch und wirtschaftlich hoffnungslos rückständig. Die Regierung Alexanders II. (1855-1881) nahm daher eine umfassende Reform von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Angriff. Kern der Neuordnung war die Bauernbefreiung im Jahre 1861, die die Leibeigenschaft abschaffte und von Umgestaltungen der Justiz, der Streitkräfte, des Bildungswesens und der Kommunalverfassung begleitet wurde.
Die Reformen führten nicht zu einer politischen Beruhigung im Innern. Aus der Intelligenzija heraus entwickelte sich eine politische Bewegung, die "Volkstümler", die einen Sturz des Zarismus durch Aufklärung der bäuerlichen Massen anstrebten. Einige Gruppierungen setzten auf individuellen Terror. 1881 wurde Alexander II. durch ein Bombenattentat getötet.
Die Regierung seines Nachfolgers Alexander III. (1881-1894) schränkte die Reformen teilweise wieder ein, verfolgte den Kurs wirtschaftlicher Modernisierung aber weiter. Der Ausbau der Industrie, der in den siebziger Jahren in Gang kam, gewann in den neunziger Jahren hohes Tempo. Im Gefolge der Industrialisierung wandelte sich auch die Gesellschaft. Wiewohl Russland immer noch ein Agrarstaat war und 1897 über 86 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, wuchsen die Städte rasch und wurden zu sozialen Brennpunkten. Die Einwohnerschaft Moskaus etwa stieg zwischen 1867 und 1914 von 350.000 auf 1,7 Millionen, die von St. Petersburg von 500.000 auf 2,2 Millionen.
Die Unzufriedenheit der Industriearbeiterschaft, die unter unerträglichen Bedingungen lebte und arbeitete, das wachsende Selbstbewusstsein des entstehenden Bürgertums, die verbreitete Missstimmung auf dem Dorfe, die sich aus der Landarmut und der hohen Steuerlast nährte, und nicht zuletzt wachsende nationale Spannungen im Vielvölkerstaat Russland bedrohten jedoch zunehmend die überkommene Ordnung. Das Regime erwies sich als unfähig, die auseinander strebenden Interessen der gesellschaftlichen Gruppen zu integrieren und die scharf hervortretenden sozialen und nationalen Konflikte zu mildern.
Die Revolution von 1905 bis 1907, bei der sich neben dem Industrieproletariat und der Intelligenz erstmals auch große Teile der Bauernschaft gegen den Zaren wandten, war ein letztes Warnzeichen. Durch den Einsatz von Militär gelang es noch einmal, das Zarenregime zu retten. Die Einrichtung eines Parlaments, der Duma, mit sehr beschränkten Rechten - Max Weber sprach von einem "Scheinkonstitutionalismus" - und eine Agrarreform setzten neue Veränderungen in Gang. Der Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 verhinderte, dass diese Maßnahmen zur Entfaltung kamen.
1914 erwies sich rasch, dass das russische Reich allen Modernisierungsschritten zum Trotz in einem Krieg technisierter Massenheere dem Deutschen Reich nicht gewachsen war. Die russischen Armeen erlitten katastrophale Niederlagen. In Reaktion auf den Bankrott des Versorgungssystems kam es 1916 in den Städten zu Streiks und Unruhen, die an Schärfe zunahmen und schließlich im Februar 1917 in Petersburg zum Zusammenbruch der Ordnung führten. Zar Nikolaus II. dankte am 15. März 1917 ab. Im Juli 1918 wurde er mit seiner Familie in Jekaterinburg von den Bolschewiki ermordet.
Mit der Abdankung des Zaren ging die Macht in die Hände einer Provisorischen Regierung über, die den Krieg fortsetzte und die Lösung der Landfrage an eine noch zu wählende Verfassunggebende Versammlung verwies. Damit stellte sie sich der bäuerlichen Bevölkerung entgegen, die mehrheitlich eine Vergrößerung ihrer Bodenanteile durch eine Aufteilung der Gutsländereien forderte. Neben der Regierung entwickelte sich der Petersburger Sowjet - der Arbeiter- und Soldatenrat - rasch zu einer eigenständigen Kraft. In ihm gewannen die Vertreter der Bolschewiki, des radikalen Flügels der russischen Sozialdemokratie, an Bedeutung und Profil, insbesondere nachdem Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), die politische und ideologische Leitfigur dieser Gruppe, mit Unterstützung der deutschen Obersten Heeresleitung aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt war.
Die Weigerung der Provisorischen Regierung, den Boden umzuverteilen und den Krieg zu beenden, spielte ihren Gegnern in die Hände. Am 6. November 1917 (24. Oktober nach dem Julianischen Kalender) initiierte die Sowjetmehrheit unter Führung der Bolschewiki einen Umsturz, der die Provisorische Regierung absetzte und einen Rat der Volkskommissare installierte. Indem die neue Führung Friedensverhandlungen einleitete und die Landnahme der Bauern legitimierte, verschaffte sie sich den notwendigen landesweiten Rückhalt, der es ihr erlaubte, die eben gewählte Konstituierende Versammlung am 18. Januar 1918 gewaltsam aufzulösen.
Auszug aus: Hans-Henning Schröder: Vom Kiewer Reich bis zum Zerfall der UdSSR, in: Russland (Informationen zur politischen Bildung, Heft 281), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 8ff., aktualisiert 2018.