Geburtsstunden der neuen Frauenbewegung in Westdeutschland
Die Anzahl der erwerbs- und berufstätigen Frauen war nach 1945 gestiegen; auch hatten sich die Bildungschancen für Mädchen deutlich verbessert, sodass immer mehr Frauen ein Studium aufnahmen. Aber die Gesamtgesellschaft verharrte noch immer in den alten patriarchalen Strukturen. Daher empfanden es die jüngeren Frauen zunehmend als ambivalent, dass sie in der Regel weniger verdienten als die Männer, sie dem Ehemann nicht gleichgestellt waren, aber die Hauptverantwortung für die Versorgung des Haushalts und die Betreuung der Kinder trugen, und dass sie kaum Zugang zu Führungspositionen hatten. Dies war grob zusammengefasst die gesellschaftliche Situation, die Frauen in der Mitte der 1960er Jahre – vor den so genannten Studentenrevolten – vorfanden.
Die Geschichte der neuen Frauenbewegung, die eng mit der Geschichte der Studentenproteste verknüpft ist, weist zwei Ereignisse mit Signalwirkung auf: der Tomatenwurf auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am 13. September 1968 und die Aktion "Ich habe abgetrieben" in der Zeitschrift STERN im Jahr 1971.
Der Tomatenwurf
Der 1946 gegründete SDS hatte sich Anfang der 1960er Jahre von der SPD getrennt, nachdem diese auf dem Godesberger Parteitag (1959) beschlossen hatte, sich von der marxistischen Tradition abzuwenden. Der Studentenbund verstand sich selbst als "Neue Linke" und bildete den Kern einer außerparlamentarischen Bewegung. Seine Proteste richtete er gegen den Staat, den er als reaktionär und autoritär verstand. Die Lobbyarbeit bewusst ablehnend, setzte er auf Aktionen und Aufklärung, um die Gesellschaft – basierend auf dem Prinzip der Gleichberechtigung und dem Recht auf Selbstbestimmung – zu transformieren. Ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen westlichen Ländern.
Auf dem SDS-Delegiertenkongress 1968 beschuldigte Helke Sander, Sprecherin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau, die SDS-Männer, in ihrer Gesellschaftskritik nicht weit genug zu gehen, weil sie die Diskriminierung der Frauen ignorierten. Tatsächlich sei der SDS selbst das Spiegelbild einer männlich geprägten Gesellschaftsstruktur. Da die Genossen nicht bereit waren, diese Rede zu diskutieren und zur Tagesordnung übergehen wollten, warf Sigrid Rüger – als Zeichen weiblichen Protestes – Tomaten in Richtung Vorstandstisch.
Der Tomatenwurf und seine mediale Verbreitung sorgten dafür, dass sich in den Universitätsstädten vermehrt Frauengruppen bzw. Weiberräte bildeten, die die Öffentlichkeit – mit teilweise spektakulären Aktionen – auf bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern aufmerksam machten.
"Ich habe abgetrieben"
In diesem sozialpolitischen Kontext erhielt die neue Frauenbewegung 1971 einen zweiten Mobilisierungsschub: die Kampagne gegen den § 218. Ausgangspunkt war die Selbstbezichtigung "Ich habe abgetrieben" von 374 Frauen in der Zeitschrift STERN. Initiatorin war die Journalistin Alice Schwarzer, die die Idee dazu von den Französinnen übernommen hatte.
Im Zuge dieser Kampagne formierten sich immer mehr Aktionsgruppen, die ihre Proteste schließlich in einem übergeordneten Gremium Aktion 218 koordinierten. Das Gremium übermittelte im Juli 1971 folgende Forderungen an den damaligen Bundesjustizminister Gerhard Jahn: 1. den § 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, 2. den Schwangerschaftsabbruch von Fachärzten vornehmen zu lassen, 3. die Abtreibung sowie "die Pille" als Kassenleistung festzuschreiben, 4. eine Sexualaufklärung, die sich an den Bedürfnissen der Frauen orientiert.
Zwar wurde in der BRD bereits seit längerem über eine Reform des § 218 diskutiert, aber fast ausschließlich von Fachleuten. Neu war, dass Frauen als Betroffene selbst die Streichung des § 218 forderten und diese Kampagne nicht nur von Studentinnen, sondern auch von berufstätigen Frauen, Hausfrauen und Müttern getragen wurde. Auch wenn die Aktivistinnen ihr Maximalziel – die Abschaffung des § 218 – nicht erreichten, lässt sich der Kompromiss in Form der Fristenlösung, die am 21. Juni 1976 in Kraft trat, als Erfolg werten.
Feministische Ansätze der neuen Frauenbewegung
"Erst verhältnismäßig spät", so die Soziologin Ute Gerhard, "hat sich die neue Frauenbewegung in die Traditionslinien der 'alten' Frauenbewegung gestellt." Was sich daraus erklärt, dass sie die Geschichte des feministischen Denkens und Handelns erst wiederentdecken musste. Zudem grenzten sich die neuen Feministinnen bewusst von der Geschichte ab, denn sie gingen von ihren Erfahrungen aus und nicht von denen der älteren Frauengenerationen.
Um sich der Fremdbestimmung und Benachteiligung erfolgreich zu widersetzen, sahen es die Frauen als notwendig an, die Ursachen der geschlechtsspezifischen Diskriminierung zu erforschen. Mit dem Ziel, eine andere Gesellschaft zu schaffen, entwickelten sie im Wesentlichen drei Ansätze, die sich erstens mit der kapitalistischen Ausbeutung der Frauenarbeitskraft, zweitens mit der Herrschaft des Mannes über die Frau und drittens mit der soziokulturellen Bestimmung der Geschlechter beschäftigten. Die Entwicklung dieser theoretischen Ansätze bis 1989 war in einen Transformationsprozess eingebettet, der sich in drei Phasen beschreiben lässt.
Erste Phase: Errichtung eigener Foren und Räume bis 1976
Im März 1972 fand der erste Bundesfrauenkongress in Frankfurt statt. Die rund 400 Teilnehmerinnen erklärten, dass Frauen ihre Interessen selbst vertreten sollten und sich entsprechend organisieren müssten. So kamen immer mehr Frauen in "kleinen Gruppen" zusammen, um ihre persönlichen Erfahrungen auszutauschen. Diese "Freiräume" – eine Idee, die die deutschen Feministinnen von den Amerikanerinnen übernommen hatten – dienten vor allem dazu, den Beteiligten bewusst zu machen, wie sehr ihr Denken und Handeln von männlichen Werten geprägt worden sei. Voraussetzung war, dass die Gruppen autonom waren, d. h. frei von männlicher Dominanz, weshalb die neue Frauenbewegung auch als autonome Frauenbewegung bezeichnet wird. Der kollektive Lernprozess ("conciousness-raising") sollte dabei helfen, die eigene Sprache zu finden, eine positive Identifikation als Frau zu gewinnen und die Solidarität unter Frauen zu fördern. Im Zuge dieses Bewusstwerdungsprozesses entwarfen Feministinnen den Slogan "Das Private ist politisch". Damit stellten sie die Trennung des öffentlichen Bereichs vom privaten in Frage.
Zwischen 1972 und 1973 bildeten sich auch die ersten Lesben-Gruppen, die sich als Teil der Frauenbewegung verstanden und ihre Erfahrungen sowie Perspektiven in die feministischen Diskussionen einbrachten. Dies vergrößerte die Bandbreite des feministischen Gedankenguts, machte aber auch Differenzen unter den Frauen sichtbar.
Im Januar 1973 gründeten Berliner Aktivistinnen das erste Frauenzentrum. Diese Zentren dienten allen Frauen – egal welcher politischen bzw. feministischen Richtung – als Anlaufstelle. Kleine Projekt- und Aktionsgruppen ermöglichten es den Frauen, ihre Vorstellungen von Kultur und Politik zu entwickeln und umzusetzen. Problematisch war, dass die Autonomie der einzelnen Gruppen gemeinsame Aktionen und den Austausch von Wissen eher behinderte als förderte.
Im Sommer des gleichen Jahres begannen Arbeiterinnen, sich mit Streiks gegen die Lohndiskriminierung zu wehren. Damit lösten sie eine Welle aus, die 1979 ihren Höhepunkt erreichte, als weibliche Angestellte der Firma Photo Heinze mit ihrer Klage für gleichen Lohn Erfolg hatten.
Die Zeitschrift BRIGITTE veröffentlichte 1974 eine Studie der Soziologin Helge Pross über Hausfrauen. Ihr Fazit, "Hausfrauen seien mit ihrer Situation zufrieden", löste innerhalb der Frauenbewegung eine Debatte zum Thema "Lohn-für-Hausarbeit" aus. Während die einen hofften, die Arbeit der Hausfrauen mit einem Lohn gesellschaftlich aufzuwerten und diesen dadurch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit zu verschaffen, befürchteten die anderen eine Verfestigung der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen.
Zweite Phase: Projekte und Umorientierung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
Ab Mitte der 1970er Jahre schufen die Aktivistinnen eigene Strukturen und Medien, um ihre Ideen zu verbreiten. Sie drehten Frauenfilme und gründeten Frauenverlage, in denen feministische Literatur und Frauenkalender veröffentlicht wurden. Sie gaben eigene Zeitschriften heraus, von denen zwei eine zentrale Bedeutung erhielten: COURAGE (1976–1984), ins Leben gerufen von sozialistischen Feministinnen, und EMMA (1977 bis heute), herausgegeben von Alice Schwarzer. Gleichzeitig bauten sie die Frauenzentren aus und richteten Frauencafés sowie Frauenkneipen ein.
In vielen Städten entstanden autonome Frauenprojekte, unter anderem auch die ersten Häuser für geschlagene Frauen.
In vielen Städten entstanden autonome Frauenprojekte, unter anderem auch die ersten Häuser für geschlagene Frauen.
Nach dem Internationalen Tribunal gegen die an Frauen begangenen Verbrechen im März 1976 in Brüssel (In Brüssel kommen 1.500 Teilnehmerinnen aus 33 Ländern zum "Internationalen Tribunal Gewalt gegen Frauen". Die "Anklagen" der Frauen umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche.) setzten sich die Feministinnen in der BRD verstärkt mit dem Thema Frauen und Gewalt auseinander. Noch im gleichen Jahr gründeten Aktivistinnen das erste autonome Frauenhaus in Berlin, um Frauen vor gewalttätigen (Ehe)Männern zu schützen.
Im Juli 1976 fand die erste Sommeruniversität für Frauen in Berlin statt, die von einer interdisziplinären Dozentinnengruppe initiiert worden war. Sie brachten das Thema Frauen und Wissenschaft in die Öffentlichkeit und forderten, den Anteil der Hochschullehrerinnen wesentlich zu erhöhen sowie frauenspezifische Forschungsinhalte in der Wissenschaft zu verankern.
Die Trennungslinie verwischend, kam es 1978 zu einem ersten offiziellen Treffen der autonomen Frauenbewegung und etablierten Frauenverbänden in Berlin. Auch auf der transnationalen Ebene vollzog sich eine engere Verflechtung der neuen Feministinnen mit der institutionalisierten Frauenpolitik. Den Hintergrund dazu bildete die Weltkonferenz zum Internationalen Jahr der Frau 1975 in Mexiko (Auftakt zur Frauendekade der Vereinten Nationen, 1975–1985).
Dritte Phase: institutionelle Integration und Differenzierung bis 1989
In den 1980er Jahren führten die unterschiedlichen feministischen Standpunkte dazu, dass sich die Bewegung weiter ausdifferenzierte: Lesben, Juristinnen, Mütter, Migrantinnen oder Friedensaktivistinnen organisierten sich in eigenen Gruppen. Diese Aufspaltung, die es auch in der "alten" Frauenbewegung gegeben hatte, zeigte deutlich, wie schwierig es war, eine kollektive Identität für möglichst viele Frauen zu konstruieren, um gemeinsam die Idee einer Geschlechterdemokratie zu verwirklichen.
Gleichzeitig zeichnete sich die Tendenz ab, die Frauenbewegung in politische Verbände und staatliche Institutionen zu integrieren. So führte die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Frauenforschung 1980 in der BRD dazu, dass feministische Anliegen institutionell verankert und vom Staat finanziert wurden. Auch Parteien und soziale Verbände wie Kirchen und Gewerkschaften zeigten ein verstärktes Interesse an Fragen der Gleichstellung von Mann und Frau. Zudem etablierte sich mit den GRÜNEN eine Partei, die sich dem Feminismus verpflichtet fühlte. Vor diesem Hintergrund modernisierte die regierende CDU ihre Frauenpolitik und berief 1986 Rita Süßmuth zur ersten Frauenministerin.
Die Projektarbeit unterlag ebenfalls Veränderungen, indem sie von den Trägerinnen der neuen Frauenbewegung zunehmend professionalisiert wurde. Für die Bewegung gewann der "Marsch durch die Institutionen" an Fahrt, als staatliche Behörden begannen, die Projekte finanziell zu fördern. In Verhandlungsprozessen bemühten sich die Frauen, ihre Autonomie in Entscheidungsfragen weitgehend beizubehalten. Hatte doch schon Marielouise Janssen-Jurreit 1976 in ihrem Buch "Sexismus" zu bedenken gegeben, dass Frauen die Bedingungen dieser Integration nicht mitbestimmen konnten.
Ende der 80er Jahre gab es immer weniger Protestaktionen, sodass die Frauenbewegung zusehends aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwand. Die zunehmende Differenzierung zerfaserte die Bewegung. Gleichzeitig entstand eine Kluft zwischen denjenigen, die sich institutionell verankerten, und denen, die ihr feministisches Engagement möglichst autonom weiterführten. Im Zuge der Wiedervereinigung sollte daher eine stagnierende westdeutsche Frauenbewegung auf eine ostdeutsche stoßen, die nach einer langen Phase der Stagnation wieder im Aufbruch begriffen war. Während ostdeutsche Feministinnen sich nach 1989 von der Gängelung durch den SED befreiten und an ihren "Modernisierungsvorsprung" anknüpfen wollten, mussten westdeutsche Feministinnen erkennen, dass Gleichstellungspolitik und Integration nur zu Teilerfolgen geführt hatten.