Bis Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die koloniale Vorherrschaft trotz heftigem Widerstand weitgehend unangetastet. Mit zunehmendem Zugang zu Bildung formierte sich ein afrikanischer Unabhängigkeitswille, der Ende der fünfziger Jahre erste Erfolge zeigte.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 264) - Staatliche Unabhängigkeit seit Ende der fünfziger Jahre
Einleitung
Zur Jahrhundertwende hatten die europäischen Kolonialmächte fast den ganzen afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt. Hiervon gab es in Afrika südlich der Sahara nur wenige Ausnahmen: das Königreich Äthiopien, das auf eine lange staatliche Tradition zurückblicken konnte, Liberia, das ab 1822 unter dem Schutz der USA zum Refugium freigelassener amerikanischer Sklaven geworden war und bereits 1847 seine Unabhängigkeit erlangte, sowie die Burenrepubliken in Südafrika, Oranje-Freistaat und Transvaal. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die koloniale Vorherrschaft weitgehend unangetastet. Das bedeutet aber nicht, daß es dagegen keinen heftigen Widerstand gegeben hätte. Er bestand zum einen vor allem aus zivilem Ungehorsam und passivem Widerstand, zum anderen aus meist lokal begrenzten, bewaffneten Aufständen gegen die Fremdherrschaft. Stellvertretend hierfür seien die Rebellion der Ndebele in Süd-Rhodesien 1896, die Erhebung der Asante in Ghana 1900 und der Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika von 1905 bis 1907 genannt. Dieses gewalttätige Aufbegehren wurde stets mit großer Brutalität niedergeschlagen. Daß dieses Vorgehen nach dem Zweiten Weltkrieg immer schwieriger wurde, lag am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel in den Kolonien und am veränderten internationalen Umfeld. Die Kolonialherrschaft hatte ansatzweise eine afrikanische städtische Mittelschicht entstehen lassen – Händler, Angestellte europäischer Unternehmen, Juristen, Lehrer, Journalisten, Ärzte und Transportunternehmer –, die immer weniger bereit waren, ihren Status als politisch einflußlose Bürger zweiter Klasse hinzunehmen. Formiert wurde ihr Widerstand durch eine kleine Schicht von Intellektuellen, die in der Regel in Missionsschulen sozialisiert worden waren und ihre politische Prägung an europäischen oder amerikanischen Universitäten erhalten hatten. Nach 50 Jahren Kolonialismus hatten mehr und mehr Afrikaner Zugang zu Bildung.
Die zunehmende Verstädterung hatte neue Formen der sozialen Organisation und Kommunikation entstehen lassen und das sich beschleunigende Bevölkerungswachstum hatte zu einem erhöhten Anteil der jüngeren Generationen an der Gesamtbevölkerung geführt. Sie neigten mehr als die älteren zu politischem Radikalismus und Widerstand. Diese Bereitschaft zum politischen Protest wurde durch die negativen wirtschaftlichen Effekte des Zweiten Weltkriegs verstärkt. Die Kolonialmächte forcierten die Ausbeutung ihrer Kolonien, um zusätzliche Finanzmittel und mineralische Ressourcen zur Kriegführung zu mobilisieren. Gleichzeitig stellten sie ihre Konsum- und Investitionsgüterproduktion in den Dienst der Aufrüstung, was zur Verknappung dieser Güter in den Kolonien und folgerichtig zu Preissteigerungen führte.
Nicht zu unterschätzen sind neben den wirtschaftlichen auch die politischen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Kolonien. Afrikaner wurden zum Militärdienst in Europa und Asien herangezogen. Dies führte zum einen dazu, daß viele Afrikaner sich in dem Bewußtsein näher kamen, dies sei nicht ihr Krieg, und die Kolonialmächte schuldeten ihnen etwas im Ausgleich für ihren Kriegsdienst. Zum anderen ließ die Aufstellung von Kolonialregimentern das Gefühl der Solidarität zwischen den afrikanischen Angehörigen dieser Einheiten wachsen. Zwar konnte Frankreich 1944 bei der Konferenz in Brazzaville noch die geforderte Selbstverwaltung der Kolonien ablehnen, gestand diesen aber zumindest eine gewählte Vertretung in der französischen Nationalversammlung zu. Politiker und Intellektuelle wie Malis Ahmed Sékou Touré, Senegals Léopold Sédar Senghor und Félix Houphouet-Boigny aus der Elfenbeinküste nutzten diese Bühne, um ihre Forderungen vorzubringen ¡und sich als nationale Führungspersönlichkeiten zu profilieren.
Der sich formierende Unabhängigkeitswille der Afrikaner stieß nach dem Zweiten Weltkrieg auf günstige internationale Bedingungen. Die beiden wichtigsten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien waren wirtschaftlich, politisch und militärisch enorm geschwächt. Ihre Versuche, die wirtschaftliche Schwäche durch einen verstärkten Abzug von Ressourcen aus den Kolonien zu lindern, stießen schnell an ihre Grenzen. Zudem erhöhten sich mit dem wachsenden Widerstand gegen die Kolonialherrschaft die Kosten der Unterdrückung.
Rolle der Großmächte
Eine weitere Folge des Zweiten Weltkriegs war der Aufstieg der USA und der Sowjetunion zu Supermächten. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg hatte der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem der Eckpunkte amerikanischer Außenpolitik erhoben. Nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg waren die Möglichkeiten der USA, diesem Prinzip Geltung zu verschaffen, besser denn je. Die neu gegründeten Vereinten Nationen sollten eines der Instrumente zu dessen Durchsetzung sein. Im Widerstand gegen den Kolonialismus waren sich die USA mit der Sowjetunion einig. Die marxistisch-leninistischen Führer in Moskau versprachen sich politisch von der Auflösung der Kolonialreiche eine Schwächung des westlichen Lagers. Ein weiterer Motor der Dekolonialisierung waren jene lateinamerikanischen, asiatischen und arabischen Länder, die bereits ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, den Vereinten Nationen beitraten und später zusammen mit Jugoslawien die Bewegung der Blockfreien formierten. Dennoch dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg noch 15 Jahre, bis die afrikanischen Kolonien mehrheitlich unabhängig wurden. Die Kolonialmächte versuchten zuerst mit zwei unterschiedlichen Strategien, dem wachsenden Protest gegen die bestehende Form der Kolonialherrschaft zu begegnen. Frankreich bevorzugte eine stärkere Anbindung der Kolonien an das Mutterland mit einer gleichzeitigen Ausweitung der Rechte der Kolonialbevölkerung bis hin zum erleichterten Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Großbritannien gestand den Kolonien dagegen mehr und mehr Autonomie zu.
In beiden Fällen führte aber die verbesserte Beteiligung der Kolonialbevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen nicht zu einem Abflauen des politischen Widerstands gegen die Kolonialregime. Eine größere Pressefreiheit und -vielfalt, die Herausbildung von Verbänden und Interessengruppen sowie die Profilierung nationaler Führungspersönlichkeiten in den Selbstverwaltungsgremien begünstigte die Entstehung nationaler Befreiungsbewegungen und deren Möglichkeiten, Massenunterstützung zu mobilisieren. Die Kolonialmächte reagierten darauf mit einer Mischung aus weiteren Zugeständnissen und Repression, wobei die gesteigerte internationale Aufmerksamkeit dem Ausmaß der Unterdrückung Grenzen setzte.
Erste Erfolge
Sudan und Ghana waren die ersten afrikanischen Staaten, die 1956 bzw. 1957 die Unabhängigkeit erlangten. Unter seinem Präsidenten Kwame Nkrumah wurde Ghana zum Motor der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Der ideologische Überbau für diese Aktivitäten war der Panafrikanismus, ein vor allem von Afro-Amerikanern bereits in den zwanziger Jahren entwickeltes Ordnungsmodell, demzufolge das Heil Afrikas im Abschütteln der kolonialen Grenzen und in der Einigung des gesamten Kontinents liegen würde (siehe auch Seite 35ff.). Nkrumah wurde zum herausragenden afrikanischen Vertreter dieses Modells. Seine Hoffnungen wurden allerdings im Verlaufe der Dekolonialisierung enttäuscht.
Die nationalen afrikanischen Eliten hatten kein Interesse daran, die gerade erworbene politische Macht und die damit verbundene Möglichkeit, wirtschaftliche Ressourcen zu kontrollieren, an eine kontinentale Ordnungseinheit abzutreten. Im Gegenteil: Sie konzentrierten sich in den ersten Jahren der Unabhängigkeit darauf, die Machtfülle, die die staatliche Zentralgewalt in den Kolonialregimen hatte, zu konservieren und den nationalen Zusammenhalt sowie die territoriale Einheit ihres Landes zu festigen. Die beiden wichtigsten Prinzipien, auf die sich die 1963 gegründete Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) einigen konnte und die in der Folgezeit ihre Politik bestimmten, waren die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines ihrer Mitgliedsstaaten und die Unverletzlichkeit der Grenzen.
Im Jahr 1960 wurden 17 afrikanische Staaten südlich der Sahara unabhängig, bis zum Jahr 1968 hatten dieses Ziel doppelt so viele Kolonien erreicht. In der Regel verlief dieser Prozeß relativ unblutig. Ausnahmen waren die sogenannten Siedlerkolonien, wozu auch die portugiesischen Besitzungen in Angola und Moçambique zu zählen sind. In Kenia, wo sich eine relativ große Zahl europäischer Siedler niedergelassen hatte, waren radikale und weniger gebildete Afrikaner, die durch die Landnahme der Europäer in der Zentralregion besonders betroffen waren, nicht bereit, eine lange Übergangsphase bis zur Erlangung der Unabhängigkeit zu akzeptieren. Ihr bewaffneter Aufstand im Jahr 1952 und die darauf folgende verschärfte Repression durch die Briten führte zum Mau-Mau-Guerillakrieg, der bis 1956 zahlreiche Opfer forderte. Kenia erlangte 1963 die Unabhängigkeit. In den beiden Siedlerkolonien Rhodesien/Simbabwe und Namibia dauerte der Prozeß der Dekolonialisierung bis 1980 bzw. 1990; in beiden Fällen war er mit langjährigen Kriegen verbunden.
Die blutigsten Unabhängigkeitskämpfe wurden allerdings in den portugiesischen Kolonien, allen voran in Angola und Moçambique, ausgetragen. Das autoritäre Regime in Portugal und die mit ihr eng verbundene Kolonialelite glaubten, ohne die Einkünfte aus den afrikanischen Kolonien nicht auskommen zu können. Sie waren deshalb auch dazu bereit, verlustreiche und teure Kriege in ihren Überseebesitzungen zu führen. Die menschlichen und monetären Kosten dieser Kriege trugen ihrerseits wiederum zum Sturz der portugiesischen Diktatur bei. Nach dem Sieg der Nelkenrevolution in Portugal im Jahr 1974 wurden auch seine afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen.