Das Interesse am Thema Nationalsozialismus erwacht häufig sehr früh und als Reaktion auf für Kinder scheinbar unerklärliche, irrationale Verhaltensweisen Erwachsener: (Groß)Eltern verschweigen ihre Jugendzeit, weichen auf entsprechende Fragen aus, positive Erinnerungen werden als Geheimnis offenbart ("aber erzähl' es nicht in der Schule/bei den Eltern weiter"); die NS-Zeit wird so zum spannenden Mythos.
NS-Symbole und -Attitüden sind als Mittel der Provokation und des Protestes wirksamer als alles andere. Bei manchen, einmal in die rechtsradikale Ecke gedrängt, verfestigen sich Attitüden zur Haltung, aus Spaß wird Ernst.
Viele Erwachsene nehmen Jugendliche nur selten ernst. Sie interpretieren häufig "rechte" Sprüche, Symbole, Verhaltensweisen auch dann noch als "Spaß" – jugendliches Protestverhalten, Provokation, pubertäre Phase –, wenn es dem Jugendlichen längst ernst damit ist. Vor allem Eltern neigen häufig dazu, sämtliche Anzeichen für eine rechtsextreme Entwicklung ihres Nachwuchses zu "übersehen", und seien sie auch noch so eindeutig: Poster von Nazi-Größen und Rechtsrockbands oder eindeutige Parolen bevölkern die Wände, aus den Boxen der Musikanlage dröhnen nur noch Lieder rechtsextremer Musiker, das "Bildungsinteresse" reduziert sich immer mehr auf die "deutsche Geschichte" vor 1945. Selbst die Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen und polizeiliche Ermittlungsverfahren lassen in vielen Fällen keine Alarmglocken läuten. Ein diffuser "Mein Kind ist gut"-Glauben bei gleichzeitig erschreckender Gleichgültigkeit gegenüber der Realität der jugendlichen Lebenswelt führt dazu, dass Eltern ihre Möglichkeiten und Fürsorgepflichten nicht wahrnehmen und so das weitere Abdriften ihrer Kinder in destruktive Szenen und Kulte durch Weggucken und Passivität maßgeblich fördern. Immer wieder, enthüllen zahllose Neonazi-Biografien, wurde nicht rechtzeitig eingegriffen, nicht geredet, gefragt und geantwortet, wurden keine Grenzen gesetzt. Oder falsch – nur moralisch-repressiv, hilflos-schockiert – reagiert, die Grenze damit nicht zwischen dem Jugendlichen und der rechtsextremen Ideologie gesetzt, sondern zwischen dem Jugendlichen und den Erwachsenen.
Fast alle Neonazis und rechtsextremen Gewalttäter kommen aus Elternhäusern, die selbst zwar neonazistische Organisationen und Aktivitäten ablehnen, nicht jedoch zentrale Inhalte der rechtsextremen Weltanschauung. Vor allem fremdenfeindliche bis rassistische Einstellungen werden von vielen gar nicht als extremistisch wahrgenommen, sondern erscheinen "normal". "Fast jeder hier bei uns denkt doch so", verkünden Neonazis immer wieder, und mit "hier bei uns" meinen sie nicht nur ihre direkten Kameraden, sondern ihr ganz alltägliches Umfeld: Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen und Vorgesetzte, natürlich auch Teile der Medien und Politik. Wer junge Angehörige der rechten Szene fragt, was "rechts sein" für sie denn überhaupt bedeute, der erhält fast immer die gleiche Antwort: "gegen Ausländer" zu sein. Rassismus und Nationalismus, in Deutschland eine untrennbare Einheit, sind der Kern der rechtsextremen Identität, und dieser ist nicht erst in der rechtsextremen Kameradschaft gewachsen, sondern bereits in der Mitte der Gesellschaft angelegt. So können sich junge Rechte zu einem hohen Grad radikalisieren, ohne in Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft und dadurch in die Gefahr einer für die meisten Jugendlichen unerwünschten Position eines Außenseiters zu geraten.
Nicht unbedingt die Herausbildung rassistischer und rechtsextremer Einstellungen, auf jeden Fall aber die Einordnung in die (gewalttätige) rechte Szene hat sehr viel mit dem Geschlecht, mit der Entwicklung von "Männlichkeit" zu tun: Rund 80 Prozent der Angehörigen rechtsorientierter Cliquen und neonazistischer Parteien, Kameradschaften und anderer Organisationen sowie 98 Prozent aller Gewalt- und anderen Straftäter mit rechtsextremem Hintergrund sind männlichen Geschlechts. Auch heute noch – obwohl sensationsheischende Medienberichte seit einiger Zeit den Eindruck zu erwecken versuchen, die rechtsextreme Szene erlebe gerade einen "Frauenboom". Das Gegenteil ist richtig: Das größte Problem vieler junger militanter Männer und der rechten Szene insgesamt ist, dass sie keine "adäquaten" Frauen finden.
Es scheint Schutzmechanismen zu geben, die Jugendliche unterschiedlich auf gleiche Erfahrungen und äußere Rahmenbedingungen reagieren lassen. Arbeitslosigkeit und Bildungsferne, neonazistische Einflussfaktoren und rassistische/sozialdarwinistische Einstellungspotenziale in der Gesamtgesellschaft, eine eher lieblose, gleichgültige und/oder extrem autoritäre und leistungsorientierte Erziehung und biografische Extremlagen sind objektive Risikofaktoren – entscheidend ist jedoch die subjektive Interpretation und Verarbeitung dieser Vorgaben. Die Folie für diese Interpretation der Welt ist die eigene Persönlichkeit. Jugendliche Angehörige rechtsorientierter Cliquen zeichnen sich auffallend häufig dadurch aus, dass sie nur über ein extrem schwach ausgebildetes individuelles Selbstwertgefühl verfügen und sich infolgedessen ständig diffus bedroht fühlen. Dies macht sie nicht nur anfällig für ein zweigeteiltes Weltbild und Schwarz-Weiß-Denken, sondern auch für Strukturen, die offensichtlich die Basis für den Erfolg rechtsextremer Subkulturen und Organisationen bei bestimmten Jugendlichen darstellen: Erst die Gruppe macht sie (scheinbar) stark: "Früher war ich eher so der Buhmann in der Schule. Bis sich dann herumgesprochen hat, dass ich jetzt ein paar Kumpels um mich herum hatte, dass ich mich öfters geschlagen habe, da hat sich das fast schlagartig geändert – ich hatte plötzlich Respekt", erzählt René aus Halle, 19 Jahre, wegen versuchten Mordes an einem Mozambiquaner gemeinsam mit zwölf "Kumpels" zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Fast alle Straftaten von Angehörigen der rechten Gewaltszene geschehen in Gruppen und aus einer Ad-hoc-Situation heraus, spontan und doch nicht zufällig: Die Opfer waren stets Fremde (das heißt: nicht der türkische oder russlanddeutsche Mitschüler und auch nicht der blasshäutige schwedische oder australische Einwanderer), vor allem aufgrund von Sprache, Haut- und Haarfarbe identifizierte "Ausländer", aber auch Bunthaarige, "Homosexuelle", "Intellektuelle" und im Osten zudem "Wessis". Die Opfer waren wie die Täter überwiegend männlich und standen auf der Leiter der sozialen Hierarchie zumeist noch einige Stufen unter den Tätern. War die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Täter über deutsche Tugenden und Ideale und der Realität der potenziellen Opfer sehr groß, konnten auch eindeutig als Deutschstämmige identifizierbare schwache Männer Opfer von Übergriffen werden, zum Beispiel Obdachlose, Alkohol- und Drogenabhängige. Die Tritte nach unten – gegen Menschen, die angeblich gegenüber den Tätern bevorzugt wurden, ihnen etwas wegnahmen, staatliche Unterstützung erhielten, obwohl sie es sich nicht verdient hatten, die sich aus für die Täter unerklärlichen Gründen Konsumgüter leisten konnten, die diese nicht hatten, aber auch gegen gestrauchelte Deutsche, Arbeitslose und Alkoholiker, die den Tätern ihre eigene potenzielle Zukunft vor Augen führten – dienten nicht nur der weiteren Erniedrigung der Opfer (und damit der Vergrößerung ihres Abstandes zu den Tätern), sondern auch der Integration der Täter in eine imaginierte monokulturelle Volksgemeinschaft. Wenn Neonazis nach unten treten, zielen sie immer auch auf die Anerkennung ihrer heroischen Tat durch die Mitte. Der Traumberuf des Neonazis ist nicht Revolutionär, sondern Polizeibeamter, Bundesgrenzschützer oder Berufssoldat.