Man kann das Phänomen "Sekundärer Antisemitismus" ein wenig überspitzt so auf den Punkt bringen: Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Oder, wie es der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex sarkastisch sagte: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen."
Den "Sekundären Antisemitismus", die Judenfeindschaft aus dem Motiv der Erinnerungsabwehr heraus, beschreiben die Antisemitismus- und Rechtsextremismus-Forscher Werner Bergmann und Rainer Erb in wissenschaftlicher Sprache knapp so: "Wir vermuten, dass das Verhältnis von Deutschen und Juden heute außer von fortwirkenden traditionellen Vorurteilen zunehmend davon bestimmt wird, wie sich die Deutschen der NS-Vergangenheit und der daraus erwachsenen Verantwortung für die Juden stellen. Aus der Diskrepanz zwischen dem Wunsch zu vergessen bzw. nicht erinnert zu werden und der beständigen Konfrontation mit den deutschen Verbrechen ergibt sich u.E. ein neues Vorurteilsmotiv, das sich zum Teil in der Form revitalisierter traditioneller Vorwürfe an die Juden äußert (Rachsucht, Geldgier, Machtstreben)."
Die Forderung nach einem "Schlussstrich"
Gab es unmittelbar nach dem Krieg in Deutschland noch eine grundsätzliche Mehrheit dafür, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten beim Holocaust gesühnt werden müssten, so griff die Tendenz später immer weiter um sich, die Leiden der deutschen Bevölkerung, etwa durch den Bombenkrieg, gegen das Leid der Juden aufzurechnen. Mit zunehmenden Abstand zum sogenannten Dritten Reich nahm in der westdeutschen Bevölkerung der 60er und 70er Jahre auch der Wunsch zu, einen "Schlussstrich" unter die Verbrechen der Nazis zu ziehen. Das heißt, nur eine Minderheit war der Meinung, dass die NS-Verbrechen weiter verfolgt werden sollten. Auch die Fernsehserie "Holocaust", die für ein paar Jahre diesen Trend durchbrach, brachte in dieser Hinsicht keinen grundsätzlichen Wandel.
Woran liegt das? Die Forschung sieht in einem wenig gefestigten Selbstwertgefühl eine Ursache dafür, dass viele Deutsche der Vergangenheit nicht unverstellt ins Auge blicken wollten und wollen. Das Wissen um die deutschen Verbrechen führte und führt bei vielen zu Identifikationsproblemen mit dem nationalen Kollektiv. Dies geht einher mit einer persönlichen Abwehr der "Vergangenheitsbewältigung" und einem Überdruss an der weiteren Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit.
Laut Statistik haben Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss in der Regel seltener den Wunsch nach einem "Schlussstrich". Insgesamt spielt auch die politische Einstellung und das politische Selbstverständnis bei der Häufigkeit der Forderung nach einem "Schlussstrich" eine Rolle - die stärker konservativ Orientierten neigen eher dazu. Jüngere tendieren etwas weniger zur Schlussstrich-Forderung als Ältere. Allerdings findet der Wunsch nach einem Ende der "Vergangenheitsbewältigung" auch eine Mehrheit bei denen, die grundsätzlich eine "Kollektivscham" wegen der Verbrechen der Deutschen an den Juden empfinden (der Vorwurf einer "Kollektivschuld" aller Deutschen wird ja ernsthaft nicht mehr erhoben).
Wichtig hierbei ist, dass die Forderung nach einem "Schlussstrich" aus unterschiedlichen Motiven erwächst, von denen das antisemitische nur eines ist. Wer antisemitisch eingestellt ist, fordert jedoch fast immer auch einen "Schlussstrich". Gleiches gilt für den Wahn, den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung in der NS-Zeit anzuhängen, um damit die Deutschen von ihrer historischen Verantwortung oder ihrem Scham zu entlasten. Dies ist bei Antisemiten sehr häufig. Insgesamt vermischt sich die Forderung nach einem Ende der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust zugleich mit Abwehr- und Aufrechnungsstrategien. Der Grund ist dabei häufig "das Gefühl des Scheiterns angesichts einer nicht wirklich zu ,bewältigenden' Vergangenheit", so schreiben Bergmann und Erb.
Juden als "Störenfriede" einer nationalen Normalität
Juden wird als Kollektiv von vielen Deutschen unterstellt, sie seien "nachtragend/unversöhnlich" oder "empfindlich". Denn sie stören mit ihrer Forderung nach dem Erinnern an die Verbrechen des Holocaust die Sehnsucht nach dem Vergessen eben dieser Verbrechen. Das gilt ähnlich für den Wunsch nach einem "Schlussstrich" unter die Vergangenheit oder nach einem "normalen" Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.
Dieses Gefühl vieler Deutscher, Juden seien "Störenfriede" einer ersehnten Normalität, ja eines Gefühls des Stolzes auf die Nation kann zu Misstrauen, Reizbarkeit, Vorurteilen oder Ablehnung gegenüber Juden führen. Ursache und Wirkung werden hier zwar vertauscht - aber mit Logik hat Antisemitismus ja nie etwas zu tun. Es mangelt an dieser Stelle häufig nicht nur an Wissen über das jüdische Leiden während der NS-Zeit und die Folgen dieser Leidenszeit bis heute. Auch fehlende Empathie ist zu konstatieren.
Bei der "Schlussstrich"-Forderung wird die historische Verantwortung für den Holocaust und die besondere Verantwortung der Deutschen für das Erinnern an die Untaten, für das heutige jüdische Leben in Deutschland und für den Staat Israel geleugnet. Typisch sind dafür folgende Sätze einer "Handreichung für die öffentliche Auseinandersetzung", die der NPD-Parteivorstand im September 2005 für ihre "Kandidaten und Funktionsträger" veröffentlicht hat. Darin heißt es: "Selbstverständlich nehmen wir uns das Recht heraus, die Großmäuligkeit und die ewigen Finanzforderungen des Zentralrats der Juden in Deutschland zu kritisieren ... Wir lassen uns von der Holocaust-Industrie, ein Wort des Juden Norman Finkelstein, 60 Jahre nach Kriegsende pseudomoralisch nicht erpressen, politisch nicht bevormunden und finanziell nicht auspressen."
Die Projektion angeblicher Unversöhnlichkeit "der Juden" führt zu antisemitischen Einstellungen - oder bestärkt diese zumindest. Gerade hier wird deutlich, dass, etwas scharf formuliert, Antisemitismus immer das Problem der Antisemiten ist, nicht der Juden.
Holocaust-Leugnung oder -Relativierung
Ein Element des Sekundären Antisemitismus ist die Holocaust-Leugnung oder -Relativierung - also die Wahnvorstellung, der Massenmord an den Juden habe gar nicht stattgefunden oder habe weit weniger Menschen getötet, als die Geschichtsschreibung festgestellt hat. Sie geht häufig einher mit dem Wunsch, das Ausmaß der NS-Verbrechen verbal zu verkleinern, den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung und Ermordung zu unterstellen oder die Kriegspolitik der Alliierten mit den Verbrechen der Deutschen aufzurechnen.
Auch die Abwehr der Wiedergutmachung oder der Vorwurf, die Juden zögen Vorteile aus der NS-Vergangenheit, finden sich in diesem Komplex. Gerade letzterer Vorwurf verbindet sich öfter mit alten antisemitischen Klischees einer "jüdischen Geschäftstüchtigkeit", eines angeblich großen "jüdischen Einflusses" oder der "jüdischer Rachsucht" (,Auge um Auge ...'). Dieses Grundmisstrauen findet seine scheinbare Bestätigung immer dann, wenn tatsächlich von jüdischer Seite Forderung nach dem Erinnern an die Vergangenheit oder nach materieller Entschädigung gestellt werden. Zwei vor wenigen Jahren unternommene Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen (52 oder 54 Prozent) der Aussage zustimmt, "die Juden" nutzten die Erinnerung an den Holocaust für ihre eigenen Zwecke aus. Auch etwa 20 Prozent der Studentinnen und Studenten in Deutschland glauben einer Umfrage zufolge: "Die Juden verstehen es ganz gut, das schlechte Gewissen der Deutschen auszunutzen."
Nicht zuletzt alte Menschen, die durch den offiziell propagierten Antisemitismus während der NS-Zeit in ihrer Kindheit und Jugend geprägt wurden, neigen vermehrt zur Holocaustleugnung oder -relativierung. Einer neuen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge, veröffentlicht 2006, stimmen über acht Prozent der deutschen Bevölkerung dem Satz "Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden" zumindest überwiegend zu. Und durch alle Generationen geht die Forderung, den Juden nicht länger zu helfen. Rechtsextremen Gruppen ist es ein sehr wichtiges Anliegen, den Holocaust zu leugnen oder zu relativieren, delegitimiert dieser doch ihre eigene Ideologie. Allerdings wird dies meist nur andeutungsweise versucht, weil die Holocaust-Leugnung in Deutschland strafrechtlich geahndet wird.
Holocaust-Leugnung und Revisionismus bei islamistischen Fundamentalisten
Spätestens seit den periodisch wieder kehrenden Ausfällen des iranischen Staatspräsidenten Mamud Ahmadinedschad (er hat den Holocaust bereits als "Märchen" bezeichnet) ist auch breiteren Kreisen im Westen offenkundig geworden, wie stark Tendenzen der Holocaust-Leugnung oder -Relativierung in der islamischen Welt sind. Der zurecht heftig kritisierte Karikaturen-Wettbewerb zum Thema Holocaust in Teheran im Herbst 2006 und die für den 11. und 12. Dezember geplante Konferenz "Review of the Holocaust: Global Vision", bei der es nach den Worten des iranischen Vize-Außenminister Manuchehr Mohammadi auch darum gehen soll, "ob die Nazis Gaskammern nutzten", sprechen die gleiche Sprache. Als antisemitische Attacken zu lesen sind auch die wiederholten, fast unverhüllten Drohungen Ahmadinedschads, Israel sei ein unrechtmäßiger Staat, den man von der Landkarte fegen müsse. Es sind ernst zu nehmende judenfeindliche Angriffe - auch angesichts des möglichen Strebens des iranischen Regimes nach der Atombombe. Denn das Verschwinden des Staates Israel wäre de facto nur durch einen weiteren Massenmord an Juden möglich.
Israel ist auch der Schlüssel zum Verständnis dafür, warum Judenfeindschaft, vor allem aber Holocaustleugnung und -relativierung im islamistischen Fundamentalismus eine so große Rolle spielen. Zum einen geht diese Ideologie davon aus, dass es eine weltweite jüdische oder zionistische Verschwörung gibt, dessen Speerspitze in der islamischen Welt Israel darstellt. Zum anderen wird durch die Leugnung oder Relativierung des Holocaust ein Grundpfeiler des israelischen Selbst- und Staatsverständnisses attackiert: Wenn es, so die Logik dieser judenfeindlichen Ideologie, keinen Holocaust gab oder dieser weit weniger verheerend gewesen ist, als von der Geschichtsschreibung festgestellt, dann gab es auch keinen wesentlichen Grund für die Gründung des Staates Israel. Israel als (jüdischer) Staat soll durch Holocaustleugnung oder -relativierung delegitimiert werden.
Und hier treffen sich islamistische Fundamentalisten und NS-Revisionisten bzw. Neonazis, die auch auf der geplanten Konferenz in Teheran erwartet werden: Die Neonazis greifen Israel an, meinen aber vor allem die Juden. Die islamistischen Fundamentalisten greifen Juden an, sie meinen vor allem aber Israel. Ihre gemeinsame Waffe ist die Holocaustleugnung und -relativierung. Den Neonazis geht es darum, ihre eigene Ideologie des deutschen "Herrenmenschen"-Stolzes zu stabilisieren, den islamistischen Fundamentalisten darum, den Staat Israel zu destabilisieren. Der NPD-Bundesvorstand hat eine Einladung zur Teheraner Konferenz erhalten.